Sportphysio 2023; 11(02): 97-100
DOI: 10.1055/a-2045-0859
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„Die Diagnose war ein großer Schreck!“

Herausgeberin Martina Leusch im Interview mit Matthias Steiner zu Sport mit Diabetes
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Abb. 1 Peking 2008: Matthias Steiner holt trotz seiner Erkrankung an Typ-1-Diabetes bei den Olympischen Spielen Gold im Gewichtheben. (Quelle: © Randall J. Strossen)

Martina Leusch (ML): Herr Steiner, Sie haben bei meiner Anfrage gesagt, dass Sie sich für dieses Thema sehr gerne Zeit nehmen. Warum?

Matthias Steiner (MS): Es gibt zum Thema Diabetes in der Bevölkerung sehr viel Informationsbedarf. Das hat mehrere Gründe: Zum einen ist Diabetes Typ 2 längst eine Volkskrankheit. Die Krankheit ist in der Mitte der Bevölkerung angekommen, kommt also nicht mehr – wie früher – nur bei alten Menschen vor. Das liegt in erster Linie an der Kombination aus falscher Ernährung und Bewegungsmangel. Zum anderen ist vielen immer noch nicht bewusst, wie gravierend der Unterschied zwischen einem Typ-1- und einem Typ-2-Diabetes ist.

ML: Was meinen Sie konkret?

MS: Menschen mit Typ-1-Diabetes wie ich sind in der Minderheit. Obwohl meine Erkrankung nichts mit schlechter Ernährung oder Übergewicht zu tun hat, wird mir häufig unterstellt, ich hätte schlecht gelebt und zu viel Süßes gegessen. Das gilt allerdings nicht für den Typ-1-Diabetes und für den Typ-2-Diabetes nicht generell. Hier möchte ich aufklären und auch dieses Stigma wegnehmen, dass an Typ 2 Erkrankte „selbst schuld“ sind an der Erkrankung. Ein großes Problem hierbei ist, dass man der Wirtschaft freie Hand lässt, alles an Nahrungsmitteln auf den Markt zu bringen, was Profit bringt, und dabei duldet, dass die Zusammensetzung der Nahrungsmittel teilweise wirklich fürchterlich schlecht ist. Es gibt zu viele Lebensmittel mit hohem Zuckeranteil oder mit schnell verfügbaren Kohlenhydraten, die den Blutzuckerspiegel in die Höhe treiben. Der Konsument kommt in den Supermarkt und ist mit mehreren tausend Produkten konfrontiert – wie soll er da den Überblick behalten, wo soll er zugreifen? Es gibt also Aufklärungsbedarf – einmal von der Ernährungsseite her, aber auch, was genau Diabetes eigentlich ist.

ML: Können Sie ein Beispiel nennen, was meinen Sie konkret?

MS: Menschen mit Typ-2-Diabetes wollen wissen, was sie tun können, um ihre individuelle Situation zu verbessern. Da genügen teils kleine Veränderungen in der Ernährung und im Lebensstil. Und auch Leute wie ich, die an Typ 1 erkrankt sind, wollen wissen, was sie tun können, um ihre Lebensqualität zu verbessern. Inzwischen tritt diese Erkrankung ja bereits in sehr vielen Familien auf und wird auch immer sichtbarer – unter anderem durch Glukosemesssysteme, die inzwischen eingesetzt werden. Aufklärung ist also enorm wichtig, denn die Zahl der Erkrankten steigt zusehends.

ML: Sie erhielten die Diagnose „Diabetes mellitus Typ 1“ mit 18 Jahren. Wie wurde die Diagnose gestellt?

MS: Die eigentliche Diagnose wurde relativ schnell gestellt. Beim Typ-1-Diabetes geht das ja zügig, meist weiß man innerhalb weniger Monate, dass man daran erkrankt ist. Der Auslöser bei mir war ein grippaler Infekt im Mai. Ich hatte Fieber, nahm dann Medikamente, ging weiter arbeiten und ins Training und dachte mir nichts weiter dabei. Als der Sommer kam und es immer wärmer wurde, hatte ich immer öfter starken Durst. Aber wegen der höheren Temperaturen war es für mich nicht ungewöhnlich, mehr zu trinken als sonst. Auch den folgenden Gewichtsverlust schrieb ich dem Sommer zu, genauso wie die Appetitlosigkeit – auch das bei Temperaturen bis 40 °C nicht außergewöhnlich. Der Knackpunkt war dann, als ich gemerkt habe, dass ich nicht mehr ganz so scharf sehe. Daraufhin bin ich zum Augenarzt gegangen. Glücklicherweise hat der Augenarzt direkt Verdacht geschöpft und hat mich gleich in die Diabetologie eingewiesen.Es hat alles in allem 3 Monate gedauert, bis ich die Diagnose hatte. Im Winter oder Frühjahr wäre das wahrscheinlich schneller gegangen. Im Vergleich zu einem Typ-2-Diabetes ist das dennoch recht zügig, denn dort wird die Diagnose ja aufgrund der weniger stark ausgeprägten Symptome häufig erst nach ein paar Jahren gestellt.

ML: Wie groß war der Schreck?

MS: Ziemlich groß – zumal die Diagnose einen Tag vor meinem 18. Geburtstag kam. Da bekam ich dann statt der Sachertorte eine Diätschnitte. Ich hatte ja als quasi „halber“ Leistungssportler sowieso schon recht enthaltsam gelebt, da tut solch eine Einschränkung dann noch mehr weh. Zudem die ganze Diagnostik: Der Augenhintergrund wird untersucht, da bekommst du dann Augentropfen, nach denen du 3 Tage nichts siehst – kannst also in der Klinik nicht einmal fernsehen. Man fühlt sich irgendwie komplett verloren, sozusagen als das Gegenteil eines jungen, aufblühenden Mannes … Alles in allem war es schon eine sehr harte Diagnose, vor allem, weil auch sehr viel Unwissen dabei war. Man sieht einem Menschen mit Typ-1-Diabetes von außen ja nicht an, dass er etwas hat. Und niemand in meiner Familie war daran erkrankt. Alles in allem ist es schwer zu verstehen.

ML: Sie wussten somit auch kaum etwas über die Krankheit?

MS: Null, gar nichts. Allein nur, was man mir sagte, was ich nicht mehr dürfe: kein Leistungssport, ein handwerklicher Beruf sei schwierig … Das Leben, das ich eigentlich wollte – der Traum war erst einmal weg.

ML: Welche Infos hätten Sie sich in dieser Situation gewünscht?

MS: Auf jeden Fall deutlich weniger davon, was man nicht darf, sondern viel mehr davon, was möglich ist. Die Psyche spielt am Anfang ja eine sehr große Rolle. Hinzu kam, dass vor 22 Jahren die Meinung sehr verbreitet war, dass Kraftsport bei Diabetes sehr schlecht sei. Heute weiß man: Das Gegenteil ist der Fall. Muskeln sind ein Zuckerfresser, mit mehr Muskeln braucht man weniger Insulin. Es ist natürlich immer auch eine Frage, wie man Sport betreibt, aber es ist sehr viel möglich.Es gab dann auch welche, die sagten: „Du musst dann eine Insulinpumpe tragen.“ Das sagte man einem wie mir, der nicht mal ein Handy am Gürtel tragen wollte, obwohl das damals „in“ war. So ein Gerät am Gürtel mit einem Schlauch – das ist in einem Alter, wo man Freundinnen kennenlernen will, sehr unsexy.

ML: Wie lange hat es dann gedauert, bis Sie sich wieder sortiert hatten?

MS: Gar nicht so sehr lange. Wichtig war, dass ich direkt von meinem Arbeitgeber und meinen Freunden gehört hatte: „Für uns bleibt alles wie bisher.“ In Kombination mit der Medikation und dem entsprechenden Essen geht es dir dann relativ schnell wieder gut.Dann habe ich erst mal gemerkt, wie schlecht ich mich in den 3 Monaten davor aufgrund der Stoffwechselstörung gefühlt hatte. Mit dem Besserfühlen wollte ich dann auch direkt wieder mit Sport beginnen. Dann hieß es jedoch, das Risiko sei zu hoch, ich dürfe gar keinen Sport machen – nicht mal auf einen Hometrainer. Ich bestand aber darauf und sagte: „Sie haben doch bestimmt so ein Teil (Fahrradergometer, die Red.) hier.“ Da musste ich dann sogar unterschreiben, dass ich mich auf eigenes Risiko draufsetze, weil sie natürlich niemanden hatten, der sich dabei eine Stunde neben mich stellt und aufpasst. Ich habe mir dann eine Packung Traubenzucker mitgenommen, wie man es eben in den ersten Stunden lernt, habe mich draufgesetzt – und es hat funktioniert. Danach fühlte ich mich deutlich besser als zuvor und merkte, dass es geht. Wobei natürlich zwischen ein wenig Rad fahren und Leistungssport schon ein himmelweiter Unterschied ist.

ML: Wie kompliziert ist es, den Blutzuckerwert im Leistungssport stabil zu halten?

MS: Zunächst kommt es vor allem auf die Sportart an. Gewichtheben verbrennt sehr viel Zucker und hat auch nach dem Training noch einen Nachbrenneffekt. Auch innerhalb des Trainings gibt es ein sehr starkes Auf und Ab des Zuckerspiegels. Du musst den Zucker erst kommen lassen, damit meine ich, dass er etwas höher sein muss, dann trainierst du, dann schießt der Zucker wieder stark herunter und du musst den Abfall des Blutzuckerspiegels rechtzeitig abfangen. Ich habe vormittags und nachmittags trainiert. Also hatte ich dasselbe am Nachmittag noch mal. Dann, um keine Unterzuckerung zu haben, für die Nacht alles richtig einstellen – damals noch ohne Pumpe mit der sogenannten Basalrate (siehe Infobox „Diabetes“). Das war nicht immer leicht, und ich hatte einige „schweißgebadete“ Nächte mit Unterzuckerung (Schwitzen ist ein typisches Symptom einer Unterzuckerung, die Red.).Bis ich den Umgang mit meiner Erkrankung einigermaßen souverän im Griff hatte, hat es schon 2 Jahre gedauert. Ich habe Wettkämpfe in den Sand gesetzt wegen Unterzuckerung, und andere wiederum wegen zu hohem Zucker. Ich habe Wettkämpfe versemmelt, weil ich dachte, ich müsse vor den Wettkämpfen viele Nudeln essen – das lernt man ja im Leistungssport so –, was aber zur Folge hat, dass du eine große Menge Insulin spritzen musst. Insulin wiederum stört den Mineralstoffhaushalt im Muskel und macht dich langsamer. Gewichtheben ist aber eine Schnellkraftsportart.Sie sehen: Es wird sehr schnell sehr kompliziert und sehr medizinisch. Es ist im Leistungssport also sehr viel Wissen und sehr viel Erfahrung gefragt. Glücklicherweise trat die Erkrankung nicht erst mit 25 auf, sondern schon in jungen Jahren, wodurch ich viel Zeit hatte, zu lernen.

ML: Haben Sie auch etwas Positives mit dieser Diagnose mitgenommen? Bessere Disziplin, bessere Organisation, ein verbessertes „auf den Körper hören“?

MS: Ich war damals ja bereits kurz vor meiner Teilnahme am Leistungssport. Ich wollte die Lehre beenden und hatte danach definitiv das Ziel „Olympia“. Somit war nach der Diagnose für mich erst einmal alles ein großes Drama. Jetzt, nach 22 Jahren, wo ich ehrenamtlich tätig bin und praktisch wöchentlich mit Menschen telefoniere, die diese Diagnose erhalten haben, mit Familien, mit Kindern, kann ich sagen: Ich hole diese Menschen natürlich ganz anders ab.Mit dieser Diagnose achtet und hört man sehr früh auf seinen Körper: „Habe ich zu viel Sport gemacht oder zu wenig?“, „Habe ich zu wenig geschlafen?“, „Welches Essen tut mir gut?“. Mit der Zeit merkt man dann einfach, dass ein Wiener Schnitzel nicht optimal ist, auch wenn es gut schmeckt. Wenn du beispielsweise häufig genug Probleme nach dem Verzehr einer Pizza hast, isst du sie einfach auch nicht mehr. Was dir dann unterm Strich insgesamt auch guttut. Vielleicht kann man auf diesem Weg dann auch den einen oder anderen Herzinfarkt verhindern. Jeder gesunde Mensch zwischen 20 und 50 denkt ja, er sei unsterblich. Er arbeitet viel, trinkt Alkohol, isst schlecht und hört auf keine Warnsignale. Bei mir ist das anders. Wenn ich abends ein Feierabendbier trinke, ist meine komplette Nacht durcheinander. Das möchte ich nicht, deshalb lasse ich es bleiben. Dennoch wäre natürlich die beste Kombination, all das Wissen zu haben ohne die Diagnose Diabetes.

ML: Sie haben also viel gelernt?

MS: Ich kenne mich durch das, was ich mit der Krankheit erlebt habe, beim Thema Ernährung inzwischen sehr gut aus. Ich hatte den Wechsel vom Leistungssportler zum Vortragsreisenden. Inzwischen entwickle und vertreibe ich selbst Lebensmittel, die Diabetikern, aber natürlich auch allen anderen Menschen guttun: mit wenig Kohlenhydraten, keinem zugesetzten Zucker, dafür mit vielen hochwertigen Ballaststoffen und Eiweiß. Vieles im Supermarkt kaufe ich einfach nicht, weil ich weiß, welche Blutzuckerachterbahnen sie auslösen – auch bei gesunden Menschen.

ML: Würden Sie sagen, dass diesen Weg eher der Diabetiker in Ihnen eingeschlagen hat als der Sportler?

MS: Ja. Der einzige Unterschied zwischen mir und einem Nicht-Diabetiker ist ja, dass ich kein Insulin produziere. Daher kann ich mich sehr gut mit einem gesunden Menschen vergleichen. Klar hängt an meiner Erkrankung noch ein ganzer Rattenschwanz dran, aber ansonsten unterscheide ich mich ja nicht von einem völlig gesunden Menschen. Leistungssportler bin ich schon lange nicht mehr, denn ich bin nicht mehr in der Lage, 5–6 Stunden am Tag zu trainieren. Aufgrund meines Unternehmens und auch meiner Familie habe ich ja einen Alltag wie jeder andere auch, da ist selbst ein normales Maß an Bewegung nicht immer drin.Der Grund, warum sich viele Menschen schlaff und müde fühlen, ist aber nicht nur die wenige Bewegung, sondern vor allem die falsche Ernährung. Ich kann aufgrund meines Sensors beispielsweise sehr gut anhand meiner Kurve zeigen, was in meinem Körper passiert, wenn ich ein Weißmehlbrötchen gegessen habe. (Der Blutzuckerspiegel steigt sehr schnell und steil an. Matthias muss dann Insulin spritzen. Bei einem Gesunden schüttet der Körper viel Insulin aus. Dadurch fällt der Zucker rasant wieder ab. Zum einen belastet diese Blutzuckerachterbahn den Körper, weshalb man sich dann müde und schlapp fühlt. Zum anderen bekommt man so schnell wieder Hunger. Erklärung der Redaktion). Das erstaunt Menschen ohne Diabetes oft sehr. Denn ich sage ihnen dann, dass das bei ihnen genau so passiert.

ML: Welche Therapiemöglichkeiten haben Sie denn als Sportler in Betracht gezogen – Stichwort Insulinpumpe – und welches waren die Gründe für die jeweilige Entscheidung?

MS: Ich habe mit einem Pen begonnen – also mit Basalrate und Bolusabgang (siehe Infobox) und natürlich auch mit „blutig messen“. Im Jahr 2010 gab es zwar schon andere Testgeräte, die waren aber einfach nicht schnell genug. Ich konnte mir nicht erlauben, erst 20 Minuten nach der Messung meinen Blutzuckerwert zu kennen, somit waren diese Geräte keine Alternative für mich. Bei der Spritze blieb ich zu Beginn, weil ich als junger Mann stur war und keine Pumpe wollte. Später habe ich dann auch gemerkt, dass der zugehörige Katheter, der mit einem Pflaster am Körper fixiert wird, bei mir wahrscheinlich sowieso nicht gehalten hätte, weil ich im Training immer sehr stark geschwitzt habe. Nach dem Leistungssport wurde der öffentliche Druck dann so groß, dass ich mich dazu entschieden habe, doch eine Pumpe auszuprobieren – aber unter der Prämisse, dass sie mir einen Vorteil bringen muss. Dieser war dann, dass ich beim Freizeitsport flexibler sein konnte, weil ich ihn zeitlich so legen konnte, wie ich das wollte – und nicht die Basalrate schon morgens so spritzen musste, dass ich damit gezwungen war, am Nachmittag Tennis zu spielen. Der zweite Vorteil war, dass die Blutzuckerwerte durch die Pumpe in der Nacht stabiler sind. Deshalb lege ich die Pumpe jetzt auch nie wieder ab. Fakt ist aber auch im Nachhinein: Während meiner Zeit im Leistungssport wäre die Insulinpumpe sicher nicht machbar gewesen.

ML: Was müssen Physiotherapeuten wissen, wenn sie einen Sportler betreuen, der an Diabetes erkrankt ist? Hinsichtlich Notfallmaßnahmen, Stimmungsschwankungen etc.?

MS: Je mehr Zusammenhänge ein Physiotherapeut versteht, umso besser kann er natürlich behandeln. Er muss zum Beispiel wissen, dass der Zeitpunkt des Insulinspritzens Einfluss auf den Muskel hat. Spritzt man sich eine gewisse Menge vor dem Wettkampf, ist der Muskel einfach nicht leistungsfähig. Es schadet sicher nicht, wenn man das als Physiotherapeut weiß. Auch dass zwischen Nahrungsaufnahme und Wettkampf schon 3 Stunden liegen sollten, wenn ich eine größere Menge Insulin spritze – weil der Muskel aufgrund des gestörten Mineralstoffhaushalts andernfalls leichter zu Krämpfen neigt. Eine andere Sache ist, den betroffenen Sportler daran zu erinnern, die Einstichstellen möglichst weit auseinander zu setzen, damit es nicht zu Verhärtungen im Muskel kommt.Zum Thema Stimmungsschwankungen möchte ich auch noch etwas sagen: Klar, bei mir steht nicht drauf: „Mein Zucker ist zu hoch, ich bin gleich aggressiv.“ Aber wenn der Blutzuckerspiegel schnell steigt, kommt es bei Diabetikern einfach vor, dass sie innerhalb kurzer Zeit aggressiv werden, auch wenn es oft nicht zu deren Naturell passt. Es ist schon gut zu wissen, dass das vorkommen kann. Auch die Anzeichen einer Unterzuckerung sollte man kennen: Die beginnt ja oft sehr langsam: wirres Reden, Schweißausbruch … Gut, wenn ein Physio das weiß. (Siehe hierzu auch den Artikel auf S. 93.)

ML: Der Physiotherapeut ist ja meist auch, je nach Sportart beziehungsweise Team, der einzige medizinische Ansprechpartner.

MS: Das stimmt. Ein Beispiel aus meiner Olympiateilnahme in Peking: Ich hatte das ganze Jahr über einen behandelnden Sportarzt, ein guter Mann, auf den komplett Verlass war. In Peking durften wir aber nur 3 Betreuer dabeihaben: Klar waren Trainer und Co-Trainer – einer, der sich um die Athleten kümmert, der andere beobachtet den Gegner. Die Frage war: Wer ist der dritte Mann? Arzt oder Physiotherapeut? Da ich der führende Athlet war, fragte man mich – im Vertrauen –, wen ich dabeihaben wollte. Meine Antwort: „Den Physio.“ Denn im Wettkampf kann der Arzt nichts mehr machen, der Physio dagegen schon, wenn man beispielsweise irgendwo einen Krampf hat. Zudem begleitet er das Team das ganze Jahr über beinahe täglich und ist auch die „gute Seele“ eines Teams, er kann gegebenenfalls auch mal Spannungen zwischen Trainern und Athleten abpuffern. Physiotherapeuten sind schon eine eigene Spezies. Deswegen war es mir wichtig, dass der Physio, der ja beinahe so etwas wie ein Ganzjahresbetreuer ist, mitkommt.Als Physio muss man es hinbekommen, im Hintergrund zu agieren, sich nicht zu wichtig zu nehmen, aber dann, wenn es drauf ankommt, souverän zu agieren. Das ist echt eine Aufgabe. Unser damaliger Physio betreut jetzt übrigens das Nationalteam Männerhandball in der Schweiz. Ein sehr guter Mann!

ML: Oh! (lacht) Gibt es noch etwas, das Sie unseren Leserinnen und Lesern mit auf den Weg geben möchten?

MS: Ich denke, es ist wichtig, dass sich Physiotherapeuten auch mit der Ernährung auskennen. Ich beobachte ja sehr gerne auch die „vermeintlich“ gesunden Menschen: Es ist traurig zu sehen, wie diese oft den Kontakt zu ihrem Körper verlieren und sich gehen lassen. Obwohl sie im Hinterkopf eigentlich wissen, dass sie falsch handeln. Bei vielen fehlt aber auch einfach das Basiswissen. Schauen wir nur auf die Schulen: Im Unterricht wird zu diesem Thema kaum etwas gelehrt, stattdessen stehen überall Getränkeautomaten mit überzuckerten Softgetränken, und die Schüler werden mit süßen Snacks überschüttet. Da läuft leider einiges ziemlich schief, und wir rennen sehenden Auges in viele Wohlstandskrankheiten hinein – ganz vorne Diabetes, Insulinresistenzen und nichtalkoholische Fettlebern. Das hat alles die gleiche Ursache. Unterm Strich reicht meiner Meinung nach „nur“ Hand anlegen einfach nicht aus.

ML: Herr Steiner, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für das Interview genommen haben.

MATTHIAS STEINER
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Matthias Steiner ((Quelle: © STEINERfood GmbH))

Der österreichisch-deutsche Gewichtheber Matthias Steiner wurde 2008 kurz nach seiner Einbürgerung in Deutschland Olympiasieger und Europameister im Superschwergewicht. 2010 gewann er auch die Weltmeisterschaft. Bei den Olympischen Spielen in London 2012 musste er den Wettkampf aufgrund eines technischen Fehlers abbrechen. Beim Versuch, 196 kg zu reißen, versuchte er noch, unter der Hantelstange wegzutauchen, zog sich dabei aber Bandverletzungen an der Halswirbelsäule, eine Prellung des Brustbeins und eine Muskelzerrung zu. Im darauffolgenden Jahr erklärte er seinen Rücktritt. Inzwischen hat Steiner, der kurz vor seinem 18. Geburtstag an Typ-1-Diabetes erkrankte, 45 kg abgenommen und ist als Unternehmer selbstständig. Er entwickelt und vertreibt Low-Carb-Lebensmittel. Darüber hinaus ist er Autor mehrerer Bücher und hält Vorträge zum Thema Fitness und Ernährung.

„Erkrankte sind nicht selbst schuld an der Erkrankung!“

DIABETES MELLITUS

Diabetes mellitus, auch Zuckerkrankheit genannt, ist eine Stoffwechselerkrankung, bei der der Energiestoffwechsel des Körpers beeinträchtigt ist. Man unterscheidet 2 Krankheitsformen, Diabetes Typ 1 und Typ 2.

Bei Diabetes Typ 1 handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung. Das körpereigene Immunsystem zerstört die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse, weswegen das Insulin lebenslang substituiert werden muss.

Beim Typ-2-Diabetes, der heute oft noch fälschlicherweise als „Altersdiabetes“ bezeichnet wird, kommt es aus unterschiedlichen Gründen zu einer Insulinresistenz, bei der die Körperzellen nicht mehr richtig auf Insulin reagieren. Außerdem kann es zu einer Störung der Insulin ausschüttenden Betazellen in der Bauchspeicheldrüse kommen, wodurch der Blutzuckerspiegel ansteigt.

Ein dauerhaft erhöhter Blutzuckerspiegel hat, insbesondere in Kombination mit Begleiterkrankungen, viele negative Auswirkungen. Unter anderem kann es zu einer Schädigung von Blutgefäßen, Nerven und verschiedener Organe wie Augen und Nieren kommen. Kurzfristige Schwankungen (Hypo- und Hyperglykämie) können ebenfalls schwerwiegende gesundheitliche Folgen haben.

„Es wird sehr schnell sehr kompliziert und sehr medizinisch.“

THERAPIEMÖGLICHKEITEN BEI TYP-1-DIABETES

Menschen, die an Typ-1-Diabetes erkrankt sind, müssen ihr Leben lang Insulin substituieren. Dies kann im Alltag auf unterschiedliche Art und Weise geschehen. Es gibt schnell und langsam wirkende Insuline. Je nach Fähigkeiten und der Kenntnis Erkrankter haben die unterschiedlichen Verfahren Vor- und Nachteile. In jedem Fall muss auch immer der aktuelle Blutzuckerwert berücksichtigt werden. Um diesen zu messen, stehen heute verschiedene Verfahren zur Verfügung, bis hin zu Apps für das Smartphone, die mit einem Sensor verbunden werden.

Injektion mit einer Spritze: Das Insulin wird nach Bedarf unter die Haut gespritzt. Hierzu muss das Insulin entsprechend dem aktuellen Bedarf mit der Spritze zunächst aus einer Ampulle aufgezogen werden.

Injektion mit einem Pen: Ein Pen ist eine spezielle Spritze in der Form eines Stiftes, die einen Insulinvorrat enthält und in der die erforderliche Insulinmenge bedarfsgerecht eingestellt werden kann. Zum Teil verfügen die Geräte auch über eine Memory-Funktion, mit der verschiedene Daten gespeichert werden können, was die Optimierung der Therapie erleichtert.

Insulinpumpe: In der Pumpe befindet sich ein Vorrat an Insulin, der automatisiert in den Körper abgegeben bzw. durch den Betroffenen manuell freigegeben wird. Die Injektionsnadel mit dem zugehörigen Schlauch wird mit einem Pflaster fixiert und muss regelmäßig gewechselt und an anderer Stelle angebracht werden. Zur Deckung des Grundbedarfs (Basalrate) gibt die Insulinpumpe regelmäßig eine geringe Menge Insulin in den Körper ab. Bei erhöhtem Bedarf, z. B. zu den Mahlzeiten, kann das Gerät eine zusätzliche Insulingabe (Bolus) in den Körper pumpen bzw. gibt der Betroffene die entsprechende Insulinmenge frei.



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Article published online:
10 May 2023

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