Balint Journal 2023; 24(01): 19-22
DOI: 10.1055/a-2020-1274
Interview

Ein persönlicher Rückblick – Zeitzeugen im Gespräch auf der 30. Brandenburger Leitertagung mit Carmen Dietrich, Heide Otten und Wolfram Zimmermann

A Personal Review – Contemporary Witnesses in Conversation at the 30th Brandeburg Leader Meeting

O: Wie haben Sie das damals erlebt vor 31 Jahren, als die Balintgesellschaften Ost und West zusammenkamen und dann diese Tagung hier ins Leben gerufen wurde?

Z: … soweit ich Sigmar Scheerer damals Ende 1990 verstanden habe, gab es viele ostdeutsche Kollegen, die eine mehr oder weniger berechtigte Angst hatten, dass sie vielleicht von der Deutschen Balintgesellschaft irgendwo vereinnahmt würden, oder weil sie vielleicht auch schon Erfahrung hatten. Sigmar Scheerer hat wirklich große Bemühungen unternommen, die Ressentiments vor allem der ostdeutschen Kollegen gegenüber einer möglichen „Übernahme“ ein bisschen zu bündeln und vor allem die Psychologen dazu zu ermutigen, dass wir jetzt die Chance haben, dass in dieser Sache West und Ost zusammenkommen. Wenn wir das jetzt nicht nutzen, dann wird es auf diesem Feld noch eine Weile beide Balintgesellschaften geben. Schließlich aber hat der Gedanke des Zusammengehens, des Sinnvolleren doch überwogen. Ich weiß aber, dass es viel Widerstand gerade auch von älteren ostdeutschen Kollegen gab. Ich war damals 44 Jahre und erinnere mich, dass es durchaus Widerstand gab, jetzt so schnell eine Vereinigung mit der sog. Westgesellschaft zu treffen. Sigmar Scheerer hat immer betont, dass wir ja die Ostgesellschaft gegründet haben, um überhaupt einen Anspruch zu haben – ja, das war seine besondere Leistung. Zu dieser Ostgesellschaft gehörten damals so 15 bis 20 Kollegen, mehr gab es damals in Ostdeutschland nicht. Aber Sigmar Scheerer hatte nicht das Bestreben, diese Ostgesellschaft zu profilieren, sondern er hatte tatsächlich das Bestreben, eine reale Vereinigung anzustreben. Das war wirklich nicht einfach, letztlich bis zum Abschluss teils auch kontrovers.

O: Wie haben Sie es erlebt, Frau Dietrich?

D: Ich war damals in der Praxisgründung, hatte mich sehr in der Psychosomatischen Frauenheilkunde engagiert, war dann ab 1996 Vorsitzende der Ostdeutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde, deshalb ist die Balintarbeit bei mir so nebenhergelaufen. Ich hatte die Ausbildung zur Zusatzbezeichnung absolviert. Siegmar Scheerer war einer meiner Lehrer. Dass er sehr bemüht war, auch eine Vereinigung auf Augenhöhe hinzubekommen und dass das auch gut gelungen ist, das war für uns damals etwas Wichtiges. Ich weiß noch, für unser Selbstwertgefühl war das damals sehr haltgebend und für mich hatte es Vorbildwirkung in Bezug auf die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde, einen ähnlichen Weg zur Vereinigung der beiden deutschen Gesellschaften einzuschlagen.

O: Und wann sind Sie dazu gekommen zu dieser Tagung?D: Diese Tagung gab es - ich glaube, die gab es schon früher. Wir haben uns bereits vor der Wende und zwar in Behlendorf getroffen. Das hieß nicht Leiterseminar, aber es war gesamtostdeutsch. Es waren verschiedene Kollegen dabei – aus Jena erinnere ich mich an Frau Dr. Margit Venner – es waren Berliner Kolleginnen und Kollegen dabei, also es gab so etwas schon vorher.

O: 1991 war das?

Z: Es waren die Jahre 1991 und 1993. Das erste Treffen war im Gasthof „Sieh-Dich-um“

und dann kam der Gasthof Behlendorf. In Behlendorf – wenn ich das noch ergänzen darf –

war dies damals nicht unbedingt ein Leiterseminar. Es ging zugleich auch um

medizinisch-psychologisches Grundlagen- und Gesprächsverhalten. Es ging also auch

um das, was wir in der Psychosomatik dann als Gesprächstraining bezeichnet haben.

Das erste Leitertreffen kam dann erst im Spätherbst 1991. Kurz zur Vorgeschichte.

Sigmar hat diese inhaltlichen Intentionen deutlich forciert. 1981/82 ff. war ich damals der

Vorsitzende der Regionalgesellschaft Frankfurt der Gesellschaft für ärztliche

Psychotherapie der DDR und in diesem Kontext gab es z. B. jährlich solche vor allem

medizinpsychologisch orientierten Treffen, wo dann verschiedene Kollegen diese

Gesprächskreise zur Psychosomatik realisierten. Das waren noch keine Balintgruppen

oder gar Leiterseminare im heutigen Sinn. Diese regionalen Treffen gingen mehr in

Richtung Gesprächstraining, psychosomatische Grundversorgung, d. h. um dabei

wirksame Gesprächs-Variablen. Daraus wurde dann 1986 ein festes Curriculum etabliert,

welches unter Leitung von Prof. Dr. Geyer (Leipzig) ausgearbeitet wurde, welches dann

maßgeblich war für die Psychosomatische Grundversorgung. Dazu haben wir damals

auch jährlich zweimal Kurse realisiert. Und diese Kurse bildeten dann letztlich inhaltliche

Vorbereitungen für das später durch Sigmar Scheerer schon vor der Wende etablierte

Treffen von Leitern der sog. „Problemfall-Seminare“, wie seinerzeit in der DDR die

Balintgruppen aus politischen Gründen anders benannt wurden. Erst nach der Wende hat

dann Sigmar Scheerer im Herbst 1991 erstmals dieses inhaltlich spezialisierte Treffen

zunächst ausschließlich für bereits ernannte Balintleiter etabliert.

O: Und das Balintleitertreffen 1991 war dann aber schon westdeutsch/ostdeutsch – beides?

Z: Ja.

O: Und das war dann ein reines Leiterseminar oder ein reines Balintseminar zumindest?

Z: Dies war das erste an dem zunächst nur bestätigte Balintgruppenleiter teilnahmen. Da waren noch nicht die Kollegen beteiligt, die evtl. erst eine Leiterausbildung anstrebten. Diese Option gab es damals noch gar nicht. Dies kam auch deshalb, weil es für die Psychologen auch noch unklar war, ob sie eine solche Ausbildung machen können und wollen. Damals waren bei den ersten Treffen 1991 ff. ca. 17 Kollegen aus Brandenburg und einige aus dem früheren „Westberlin“, aber dies waren alles schon Balintleiter, die zu DDR-Zeiten schon im genannten Sinne „Problemfallseminar“-Leiter waren, noch keine Kolleginnen, die das anstrebten. Diese Option kam erst 1993/94 endgültig dazu.

O: und dann im Schlaube Tal.

Z: Ja, zunächst immer in sog. „Landhotels“ im Schlaube Tal.

O: Und dann hat sich auch Balint und Wandern etabliert.

Z: Dies gab es – wie gesagt – seit Herbst 1991 mit dem erst später markanten

Markenzeichen „plus Wandern“: Dies geschah mehr zufällig, als Sigmar Scheerer in der

Mittagspause des Treffens 1991 zu einer „kleinen Wanderung“ eingeladen hat – aber da

existierte noch keine genaue Planung.

Und aus eben dieser so entwickelten kleinen Wanderung wurde dann etwa ab 1993/94

auch das nun so traditionsreiche „Balint plus Wandern“. Das war dann ein professionell

organisiertes jährliches Vorhaben, bei dem man immer ca. 1 ½ Stunden wanderte.

O: Und dann kamen auch die Ausbildungskandidaten?

Z: 1993/94 kam dann auch die Intention auf, dass an diesem Treffen auch Diplom-

Psychologen wie etwa Frau Ute Maus und ich, teilnehmen konnten, die dann auch die

Ausbildung zum Balintgruppenleiter anstrebten und zwar nun nach dem neuen DBG-Curriculum.

Dies hat sich dann kontinuierlich weiterentwickelt. Ich habe dann auch bis

1997/98 mehrere solcher Leitertreffen, auch an anderen Orten realisiert, zuletzt dann

in Würzburg 1998, wo ich meinen Abschluss erhielt.

O: Wie haben Sie die Entwicklung erlebt? Hat sich was verändert im Laufe dieser Jahre?

D: Wir hatten teilweise Gruppen, da kann ich mich erinnern, da waren im Außenkreis 15

bis 20 manchmal und im Innenkreis ebenso viele- also es waren viel mehr Teilnehmer aus

Ost und West, eine richtig große Gruppe.

O: Aber es war immer nur ein Seminar? Also eine Leitergruppe?

D: Ja. Man kam kaum zu einem Votum. Also ich fand es ein bisschen zu groß.

Z: Es wurde auch kritisch betont, dass die Gruppen zu groß waren. Man musste am

Anfang wohl viele Interessenten hereinnehmen. Man hätte damals vielleicht praktisch

lieber 2 Seminare machen sollen, aber damals war eben Vieles offener, noch nicht so

reguliert wie später.

D: Auf der anderen Seite sprach das natürlich für eine Riesennachfrage.

Also wenn ich mir das heute ansehe, sind die Teilnehmerzahlen wesentlich geringer. Es

waren damals zwei große Kreise. War auch schön, es gab mehr Fülle.

Z: es war sehr unmittelbar zum Teil, nicht so strukturiert, noch nicht so organisiert.

D: Nicht so vorsichtig wie heute, sondern viel spontaner. Das war eine andre Zeit. Von

Anfang an viel spontaner. Die Leute waren locker. Heute will man ja sozusagen …

Z: „…angepasst sein“

D: … differenziert sein und will sich möglichst gut artikulieren. Das war früher völlig

wurscht. Es wurde frei von der Leber gesprochen. Kontraproduktiv, was die DDR

-Vergangenheit betrifft. Wahrscheinlich waren wir in der Nachwendezeit noch freier.

Z: Es war sicher ein Reflex auf diese Zeit.

D: Und die Strukturen hatten sich ein bisschen aufgelöst. Es war nicht so ganz klassisch.

Z: Aus historischer Sicht darf rückblickend festgestellt werden: Sigmar Scheerer hatte

auch manchmal so eine Art, ziemlich temperamentvoll in das Geschehen reinzugehen. Er

hat ja manchmal auch provoziert, also aggressiv provoziert, so dass dann wirklich die

Gruppe auch in Bewegung kam. Das war noch zu DDR-Zeiten vor 1989, als diese

Gesprächs-Seminare realisiert wurden. Es war manchmal nicht einfach, aber in den

Gesprächen ging es meist unmittelbar authentisch zu. Z.B: gab es einen Kollegen, der

stand auf und kochte im Nebenraum Pilze; es war eine Sensation, dass er sich solche

„Freiheit“ nahm. Wir haben darüber gelacht, der Kollege wurde dann auch von Sigmar

„zur Ordnung“ gerufen.

O: Und er hat noch zugehört?

Z: Er hat natürlich noch zugehört - im Nebenraum, in der Küche. Und das wurde von der

Gruppe toleriert. Das war damals also alles noch unmittelbar „bodenständig“. Heute wäre

so etwas nicht mehr denkbar. Heute ist alles mehr - ohne jetzige Bewertung – so ein

bisschen aristokratisch und distanziert und vorsichtig. Diese Lebendigkeit, diese

Unmittelbarkeit und besondere emotionale Intensität mit dem Risiko, sich ggf. zu

„blamieren“ oder die Professionalität zu verlassen, das ist sicher einmalig gewesen.

O: Und wie war das Ergebnis, würden Sie da einen Unterschied sehen? Wir sind ja immer auf das Ergebnis für den Referenten oder für den Leiter aus, der jetzt in Ausbildung ist in diesem Falle.

D: Was mich betrifft, war es belebend, facetten- und spannungsreich, emotional tief

berührend.

Z: Letzten Endes war die Gruppenarbeit zumeist anstrengend. Jemand hat mal zu mir

gesagt: Fahr nicht alleine Auto. Manchmal war es fast wie in der Selbsterfahrung. Es war

viel Selbsterfahrung drin, wo man hinterher geschlaucht war, aber nicht so sehr durch die

kognitive, durch die mentale Arbeit, sondern mehr durch den Selbsterfahrungsanteil. Dies

auch deshalb, weil Sigmar Scheerer meist sehr fordernd war. Ich persönlich hatte immer

das Gefühl, da war relativ viel realisierte Selbsterfahrung drin. Man kriegte auch „mal eins

auf den Deckel…“, und eben das ist heute eigentlich gar nicht mehr so.

D: Es ist heute kultivierter, möglicherweise lehrreicher für die Teilnehmer, didaktischer.

Z: Kultivierter, aber Lebendigkeit fehlt auch so ein bisschen.

O: Und der aggressive Aspekt, den Sigmar ja gut reinbringen konnte. Er sagte immer: die

dritte Gruppe muss aggressiv sein, da muss es raus.

Z: ja, er hat das geradezu richtig gefördert. Aber das war dann auch dazu da, dass man

hinterher „geschlaucht“ war. Ich kann mich erinnern, dass ich nie allein zurück gefahren

bin, sondern ich habe mich immer fahren lassen, weil ich mich auch erschöpft fühlte

durch die erlebte Selbsterfahrung.

O: Gab es auch mehr als diese Erschöpfung? Gab es auch ein Ergebnis? Gerade jetzt für

Sie?

Z: Es war das Gefühl, dass man durch die Gruppe auch wirklich eigene „blinde Flecken“

erkennen konnte, den Eigenanteil, den man im Gruppengeschehen erlebt hatte.

Ich hatte durch die von mir vorgestellten Balintfälle zumeist das intensive und entlastende

Gefühl, dass mir das Gruppengeschehen ganz unmittelbar und viel gebracht hat. Dass ich

zum Abschluss wirklich sagte, ich habe also das Gefühl, diese blinden Flecken existieren

nun nicht mehr, ich verstehe mein Verhalten besser. Dieses wichtige „Aha-Erlebnis“, das

da realisiert wurde, was also der Hintergrund für eigenes Verhalten war. So wurden mir

z. B. auch narzisstische und zwanghafte eigene Anteile klar, also Anteile, die wir in

ähnlicher Hinsicht alle haben und die uns ggf. bei der Arbeit im Wege stehen.

O: Und heute wird die Selbsterfahrung mehr in den Hintergrund geschoben.

D: Wir waren ja auch jünger. Das Akademische hat auch ein bisschen was mit der

Altersbehäbigkeit zu tun.

O: Von uns jetzt, aber die anderen sind ja jung, es sind sehr viel Junge dabei.

D: Ich habe es damals als ungebremst erlebt, es war alles viel offener, ob unbedingt lehrreicher kann ich nicht sagen. Die Teilnehmer heute erlebe ich vorsichtiger.

Z: Jeder war anfangs anteilig ungebremst. So auch beim „Kassieren“. Das Ökonomische lief auch anders ab. Es wurde teilweise dort einfach auch in bar bei Sigmar bezahlt. Es existierten manche teils „haudegenartige“ Manieren, die wir heute sicher nicht riskieren würden.

O: Es bringt mich auf die Idee, ob wir es vielleicht nur nicht sehen und die Gruppe, die jetzt hier zusammen ist, ganz anders ist.

D: Dass die Teilnehmer hier vorsichtiger sind?

Z: Das kann natürlich sein. Aber das will ich sagen, es war zwar auch etwas von den „Haudegen“-Manieren dabei, aber das Verhalten war nicht primitiv, sondern es war wirklich sehr viel Authentisches dabei. Und so wie Sigmar teils diese Aggressivität hereingebracht hat, so gab es auch Kollegen, die ein bisschen gebremst haben. Es war eine interessante und positive Dynamik. Ich fühlte mich zumeist reich an emotionalen Erfahrungen, aber eben auch anteilig geschlaucht.

O: Was war das Andere an anderen Leiterseminaren? Sie haben ja wahrscheinlich dann auch Leiterseminare an anderer Stelle mitgemacht. War das Schlaubetal, bzw. hier jetzt dieses Seminar anders?

D: Also ich muss sagen, ich habe dann praxis- und familienbedingt relativ viel im eigenen Saft gekocht, will sagen ich bin eher selten zu anderen Balint Tagungen gefahren.

O: In Hahnenklee waren Sie nicht?

D: Doch, in Hahnenklee war ich.

O: War das anders für Sie?

D: Nicht so entscheidend. Ich habe keinen so großen Unterschied gesehen. Ich war zwei oder drei Mal da und es hat sich für mich jetzt nicht so groß unterschieden. Es gab Experimente, z. B. im Westteil von Berlin. Das hat jetzt aber keine so wahnsinnig große Veränderung gebracht, was das Output betraf. Wir waren ja damals auch Gruppenmitglieder, die etwas vorgestellt haben. Jetzt bin ich eher Beobachterin oder intendiere. Man ist ja viel mehr drin, wenn man sich in Form einer Fallvorstellung präsentiert. Wir sind als Leiter und Co-Leiterin auch ein wenig außen vor. Wir betrachten und beurteilen die äußere Dynamik. Was sich jetzt in den einzelnen Gruppenteilnehmern abspielt, können wir nur vermuten. Ich denke, dieses intensive Erleben hat einmal auch damit zu tun, dass wir selbst teilnahmen. Zum anderen war die Zeit in den neunziger Jahren und nach der Jahrtausendwende lebendiger. Es hat sich leichter und freier angefühlt.

O: Und in der Leiterausbildung, war es da anders, z. b. in Hahnenklee als hier?

Z: Ich habe den Eindruck – in Würzburg habe ich es jedenfalls so erlebt, oder auch beim Leitertreffen in Schierke z. B. bei Herrn Prof. Dr. König, diese beiden Treffen z. B. waren in

meinem Erleben fast so, wie wir es noch heute gewohnt sind. Die waren so lebendig, dass ich absolut begeistert war. Der erlebte Inhalt hat mir sehr gut gefallen. Diese beiden Treffen haben mich rückblickend sehr geprägt. Und ich dachte, das ist doch gut, was wir dort machen, auch durchaus ein bisschen Selbsterfahrung, aber weitaus weniger als es früher der Fall war.

O: Und war es so „bodenständig“ wie hier? Sie haben es ja so beschrieben. Oder war es doch anders?

Z: Es war alles vielleicht ein bisschen intellektueller.

O: In Würzburg war ja auch das Hotel Rebstock dann immer noch als Hintergrund anders.

Z: Ja, ja, das Hotel mit Gold und so… Es war alles ein bisschen anders … im Unterschied zu hier war das alles quasi „in Brokat und Seide.“.

D: Man hat sich dann eben etwas zurückgehalten beim Betreten einer anderen Welt. Ist ja eher normal. Im vertrauten Kreis sind die Menschen offener.

O: Und was würden Sie für Würzburg dann sagen?

D: Da war ich noch gar nicht.

Z: Teilweise vielleicht etwas „abgehoben“.

O: Und hat das was mit der Dynamik der Gruppen gemacht?

Z: Ich denke schon. Es war damals viel Emotionales zugelassen aber es war eben auch

… Man passte auf, dass man einen Anzug anhatte und eine Krawatte trug… So ein

bisschen auf die Form wurde schon geachtet.

O: Und bei den Voten, mussten Sie da auch aufpassen? Sage ich das jetzt oder besser

nicht?

Z: Ich habe auch einen Fall in Würzburg auf meiner letzten Leitertagung vorgestellt, daran

kann ich mich im Einzelnen nicht mehr genau erinnern. Ich war angenehm emotional

berührt, aber ich war auch ziemlich erschöpft. An die Voten kann ich mich nicht mehr so

erinnern. Ich weiß noch, dass Prof. König zu mir sagte: „Sie können sich ruhig trauen“,

oder irgend Ähnliches hat er zu mir gesagt. Er kam auch hinterher und hat mich gefragt,

wie ich mich als Referent gefühlt habe. Er sagte, “ich habe das Gefühl, dass Sie sich nicht

richtig getraut haben“. Also so diese erlebte Gehemmtheit, die gespürt wurde, hat er

sehr treffend ausgedrückt. Und ansonsten war alles sehr professionell und solide.

O: Wann und wie hat sich das angeglichen aneinander? Oder hat es sich gar nicht

angeglichen? Ist immer noch ein Unterschied?

D: Es ist kein Unterschied mehr. Ich war dieses Jahr in Göttingen und ich habe mich zu

Hause gefühlt. Ich habe überhaupt keinen Unterschied gemerkt. Frau Dr. Kuhfahl aus

Dresden hat die Gruppe geleitet. Ich kenne ja die dynamisch intendierte Gruppentherapie,

da waren auch noch Elemente davon drin. Die Gruppe bestand überwiegend aus Frauen

und Männern aus den alten Bundesländern und ich habe da jetzt überhaupt keinen Unterschied mehr gemerkt. Das ist schon sehr ähnlich.

O: Hat sich das langsam so entwickelt?

Z: Herr Loesch mit den Potsdamer Balintstudientagungen, er hat, so glaube ich, etwas erreicht, was am Anfang noch die Differenz zu den westlichen Tagungen war. Durch die Balintstudientagungen wurde mehr Ostdeutsches Bodenständiges deutlich, aber dann kam natürlich auch sehr viel „Westliches“ herein. Ich glaube, Wolfgang Loesch hat gerade diese wichtige Integration, die Sie meinten, schrittweise erreicht. Im Schlaubetal, hat Wolfgang Loesch schon darauf geachtet, dass künftig auch die Studenten an solchen Tagungen teilnehmen sollten. Und eben diese Balintstudientagungen, die fand ich sehr integrierend. Er war ja auch raumgreifend in seiner Person, er nahm alle „unter seine Fittiche“. Da kam glaube ich die Ost-West Integration im erwähnten Sinne seit den Tagungen in 1996/97 zum Tragen. Da ist m.E. dieser ehemalige West-Ost- Unterschied verschwunden.

D: Heute mache ich mir darüber gar keine Gedanken mehr. Es gibt eher regionale Unterschiede, z. B. Stadt/ Land.

Z: Also hier ist es noch viel bodenständiger als bei so mancher anderen Tagung. Ich habe mal in Berlin eine Leitertagung erlebt, die war sehr unangenehm und aristokratisch. Also ich denke hier ist Alles noch ziemlich bodenständig. Aber diese Differenzen sind nicht mehr wirklich relevant.

O: Was ist und bleibt das Besondere an dieser Tagung?

D: Brandenburg ist ein Flächenland, hat große Waldbestände, große und kleine Seen. Es gibt viel Stille und Weite, aber das macht es mitunter auch schwer in persönlichen kollegialen Austausch zu kommen. Das ist, denke ich, eine Besonderheit. Die Kolleginnen und Kollegen suchen hier auch den gegenseitigen Kontakt, da sie ja oft an der Grenze der Überforderung sind. Wir haben einen Hausärztemangel, vor allem im ländlichen Bereich. Unsere Leiterseminare werden überwiegend von Hausärztinnen und Hausärzten besucht.

O: Nun kommen ja auch andere hier her. Es sind z. B. süddeutsche Kollegen da. Es scheint ja eben doch auch anzuziehen, ins Brandenburger Land zu fahren.

Z: Was Sie sagten bezüglich der Psychohygiene. Das hat mir auch die Kollegin aus Bayern gesagt, dass das Fachliche keine so große Rolle spielt, aber dass dieses Brandenburg doch durch „Balint und Wandern“ auch ein echtes Markenzeichen geworden ist. Durch das zusätzliche „Wandern“ kann auch etwas Spannung abgebaut werden und diese Aktivität hat auch etwas emotional Verbindendes. Und das ist etwas Besonderes. Seit mindestens 10 Jahren ist das Brandenburgische Balintgruppenleitertreffen ziemlich bundesweit geworden, also schon lange kein rein Brandenburgisches Treffen mehr. Aber die positive „Wander-Tradition“ ist auch verbunden mit diesem Besonderen hier in der Unterkunft im urgemütlichen Landgasthof Simke und seiner Tradition. Das Landhotel und das Wandern sind die Markenzeichen dieses Brandenburgischen Balintgruppenleiter-Treffens.

O: Wie sieht die Zukunft aus? Was planen Sie?

D: Wir haben bisher noch nichts geplant.

Z: Einerseits bedeuten ja 30 Treffen schon viel. Ich hatte zunächst gedacht, ich höre dann vielleicht auf. Andererseits, nachdem ich hier angekommen bin, wurde ich von mehreren KollegInnen gebeten, dieses traditionelle Treffen doch weiter zu leiten. Ich selbst erkenne dabei ein bisschen Ambivalenz. Einerseits bin ich gesundheitlich teils müde durch meine chronische Erkrankung, aber andererseits merke ich, dass es mir doch enormen Spaß macht, also dass hier Spaß wirklich authentisch im Sinne von innerer Aktivierung bedeutet. Ich plane also, wenn es die Gesundheit erlaubt, dieses Treffen noch weiterhin zu leiten.

O: Und dann in gleicher Weise? Oder wollen Sie etwas ändern?

Z: Ja, in gleicher Weise. Vom Gefühl sage ich eindeutig ja. Vom Gesundheitszustand ist man sicher immer irgendwo „auf Abruf“. Aber ich habe es zumindest mental vor.

D: Ich freue mich drauf, das muss ich sagen.

O: Also es soll die nächsten Jahre genauso mit Balint und Wandern und dem gleichen Team weiter gehen.



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Article published online:
22 March 2023

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