Psychiatr Prax 2023; 50(02): 60-62
DOI: 10.1055/a-2010-9292
Editorial

„Psychiatrie on tour“: was bleibt, was muss sich – jetzt – ändern?

”Psychiatry on Tour”: what Remains, what Must Change – Now?
Ingmar Steinhart
,
Katarina Stengler
 

Worum es geht

Spätestens seit der Corona-Pandemie hat das Thema Krise in der Versorgungslandschaft in Deutschland, so auch in der Psychiatrie, Konjunktur. Und wir erkennen, an welchen Stellen die Psychiatrie eher robust oder eher „anfällig“ aufgestellt war – und heute noch ist.


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Ingmar Steinhart
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Katarina Stengler

Krieg, Klima und andere Katastrophen bilden einen globalen Rahmen, der psychische Krisen ungebremst in den Fokus rückt – nicht nur innerhalb der Psychiatrie, aber dort ganz besonders.

Gleichzeitig wird das bestehende System unter Druck gesetzt mit Notwendigkeiten einer ökologischen Umgestaltung und in der Folge mit einer Verknappung der Ressourcen.

Die WHO prophezeit denn auch in ihrem jüngsten Mental Health Report eine stetig wachsende Inanspruchnahme der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgungsleistungen vor allem aufgrund von Depressionen, Angst- und Suchterkrankungen [1].

Das psychiatrische Binnenklima in Deutschland ist zudem durch aktuell brisante, parallel verlaufende Entwicklungen gekennzeichnet:

  • Veränderungen der Personalbemessung und Transparenzvorgaben (enge Kontrolle des Personaleinsatzes verbunden mit Sanktionen) in psychiatrischen Kliniken und in Angeboten der Eingliederungshilfe

  • dramatisch wachsende Personalverknappung

  • verschiedene Gesetzesinitiativen, die weitreichende Struktur- und Systemrelevanz adressieren

  • kontinuierliche Zunahme von Gewalt und Akuität bei einer ungebremst sozial exkludierten Patientenklientel

  • Reform in der (allgemeinen) Krankenhausversorgung

Auch wenn die Krisen- und Notfallbeschreibung der Psychiatrie fortgesetzt werden kann, gilt auch hier: jede Krise bietet Chancen – oder wie Ferdinand von Schirach in seinem Dialog mit Alexander Kluge zur Einordnung der Corona-Krise schreibt: „…Beides ist jetzt möglich, das Strahlende und das Schreckliche“ [2].

Was können wir – gerade weil wir in einer globalen und zugleich psychiatriespezifischen Krise sind – aktuell tun? Welche Chancen müssen wir jetzt nutzen, um die seit geraumer Zeit anstehenden Reformen im psychiatrischen Versorgungskontext umzusetzen? Welche (sozial)psychiatrischen Herausforderungen haben in der aktuellen Krise besondere Relevanz erlangt und könnten gerade mit dem Druck der Akuität bewältigt werden? Welcher Akteure und Aktionen bedarf es? Jetzt?!

Jetzt – weil gerade jetzt benachteiligte Gruppen, so auch Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, Gefahr laufen, übersehen zu werden. Und jetzt – weil es enorme Chancen gibt, dem (gesundheits)ökonomischen Druck mit sinnvollen Versorgungskonzepten zu begegnen.

Die Psychiatrie könnte sich aktuell deutlicher denn je als Anwalt der Schwachen und Partner der Armen generieren [3] und gleichzeitig gesundheitspolitische Herausforderungen meistern – ihre Akteure müssen es erkennen und wollen.

Es scheint, als würde die Psychiatrie aktuell durch die beschriebenen Prozesse „getrieben“, stattdessen sollte sie selbstbewusster, konsequenter und in den eigenen Reihen als solidarischer Akteur ihre Zielgruppen mit ressourcenorientiertem Blick in den Fokus nehmen. Dabei scheint ein „zurück zu den Anstalten“, d. h. eine hohe Konzentration von Menschen mit Behandlungs- und Assistenzbedarf an einem Ort verbunden mit einer deregulierten Personalausstattung, kein Ausweg zu sein. Alternative Überlegungen auf Basis evidenzbasierter und durchaus praxiserprobter Konzepte müssten die Weiterentwicklung bestimmen, damit 50 Jahre Psychiatrie-Entwicklung in Deutschland nicht vergebens waren. Dies hat u. a. auch die APK in ihrem Positionspapier zu „Perspektiven der Hilfen für psychisch erkrankte Menschen“ klar adressiert [4].

Ökonomie trifft Evidenz trifft Versorgung trifft Personal

Der ökonomische Druck im (Gesundheits-)System hat einen „point of no return“ erreicht: einfach mehr Effizienz geht nicht. Der amtierende Gesundheitsminister ergreift mit seiner aktuellen gesundheitspolitischen Strategie Maßnahmen, die eine neue Ausbalancierung zwischen Ökonomie und fachlich-qualitativem Behandlungsstandard am Krankenbett adressieren. Dies kann der Psychiatrie gerade recht sein: wenn wir unsere inhaltlichen Schwerpunkte einer sozial-psychiatrischen Ausrichtung der Versorgung ernstnehmen.

Auch in der Eingliederungshilfe verhindert der ökonomische Druck auf die Sozialkassen die Umsetzung gesetzlicher Vorgaben zur Erreichung von einem Mehr an gleichberechtigter Teilhabe für die einzelnen Menschen. Hier führt das starre Festhalten am Status Quo zu einem Stillstand statt der gewünschten UN-BRK-konformen Weiterentwicklung.

Im jüngsten Update der S3 Leitlinie psychosoziale Versorgung wird noch einmal die Evidenz aufsuchender, gemeindepsychiatrischer, multiprofessioneller Behandlung bestätigt und auf eine Sektor- und Sozialgesetzbuch-übergreifende Orientierung fokussiert. Mit dem Funktionalen Basismodell von Steinhart und Wienberg [5] [6] liegt ein möglicher Orientierungsrahmen für die Ausgestaltung einer innovativen Ausrichtung gemeindepsychiatrischer Versorgungsstrukturen vor. Ergänzend wurden für das Wohnen und Arbeiten und für Organisationsstrukturen deutschsprachige Modelltreueskalen entwickelt [7] [8] [9]. Einige Modell- und Pilotprojekte haben diesen Hintergrund bereits aufgegriffen und Umsetzungsversuche vorgelegt. So liegt für das Funktionale Basismodell mit den Ergebnissen aus LeiP#netz, als einer Pilotstudie in einem urbanen großstädtischen Raum, eine evidenzbasierte Grundlage für strukturelle Diskussionen einer zukünftigen personenzentrierten und bedarfsgerechten psychiatrischen Versorgung vor [10] [11].

Die Nutzer/innen der Psychiatrie sind selbstbewusster geworden und können ihre Bedarfe klar formulieren: wo und wie sie Unterstützung benötigen; wieviel genug – wieviel zu viel, wieviel zu wenig, was anders stattfinden sollte. Das bezieht das Setting der Interaktionen ganz selbstverständlich ein – ambulant, zu Hause oder in der Einrichtung. Sie können ebenso präzise beschreiben, wo und wie sie wohnen und arbeiten wollen. Wir müssen diese selbstbestimmten, klar formulierten Aufträge nicht nur kennen und hören – sondern umsetzen. Gemeinsam!

Und das immer knapper werdende Personal hat die aus Sicht der Nutzer/innen attraktiven Versorgungsansätze für sich als durchaus ebenso attraktiv erkannt: es entstehen lohnenswerte Arbeitsorte, an denen gern und mit hohem Engagement gearbeitet wird. Eine partizipative – und im Kern für alle solidarische – Dienstplangestaltung kann eine gute Antwort auf den Wunsch nach „mehr Macht über die Dienstpläne“ und das eigene berufliche Engagement sein.

Personalverknappung verschärft sich zudem durch die doppelt negative demographische Entwicklung und schränkt die Bewegungsspielräume, klassische Angebote wie Kliniken oder besondere Wohnformen in ihrer bisherigen (Personal)Struktur weiterhin betreiben zu wollen, erheblich ein.

Das seit Jahren geforderte Versorgungskontinuum insbesondere für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen muss endlich Umsetzung finden. Danach würden die Behandlungs- und Unterstützungsleistungen nicht mehr eng an den Vorgaben der vielen einzelnen Gesetzbücher fixiert sein, sondern Sozialgesetzbuch übergreifend an den Zielen von Teilhabe und Selbstbestimmung orientiert, wie es u. a. die UN-BRK und das SGB IX als Leitidee vorgeben. Dies erfordert neue Organisationsstrukturen in der Angebotslandschaft, aber auch deutlicher verbindende Elemente zwischen den Sozialgesetzbüchern, die aktuell eher auf „Abgrenzung“ ausgerichtet sind. Vor allem aber bedarf es der Offenheit einer überzeugt handelnden und an den o.g. Zielen orientierten Akteursszene in der Psychiatrie – einer „Psychiatrie on tour“!


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Fazit

Wenn wir einmal mutig die Rückentwicklung auf frühere Anstaltskonzepte ausschließen, dann muss für die gesamte Psychiatrielandschaft eine konsequente Organisationsentwicklung mit neuen Prioritäten angestoßen werden:

  1. Ressourcenorientierung oder „aus der Not eine Tugend machen“?!

    Ressourcen werden knapp – alle und überall. Das heißt für die Psychiatrie konsequent auf evidenzbasierte Modelle setzen und alle Maßnahmen, die verlässliche Angebotsstrukturen garantieren, umsetzen. Wie auch in Zeiten der „1.“ Psychiatrie-Enquete sollten wir am Bau sparen, weniger Mauern und Einrichtungen vorhalten.

  2. Personal – wer, wo, wie…

    Die am wenigsten verfügbare Ressource ist das Personal. Deshalb gilt es mit flexibel gesteuertem Personaleinsatz die psychiatrischen Leistungen in den Lebensräumen der Nutzerinnen und Nutzer zu erbringen, wo die Menschen es brauchen – und meist auch wünschen, also wo sie leben, wohnen, arbeiten. Versorgung sollte „on tour“ sein – mindestens aber konsequent ambulant vor teilstationär vor stationsäquivalent vor stationär im Haus. Beide Gruppen – Personal und Nutzerinnen und Nutzer – werden in so einer Organisationsform zufriedener sein – mit ihrer Behandlung bzw. Assistenz und mit dem eigenen Arbeitsplatz.

    Und im besten Fall dies auch in der Krise, im Notfall, niedrigschwellig, 24/7 – so wie psychische Krise eben passiert. Verlässlichkeit ist dabei eine der wichtigsten Verpflichtungen, die wir gegenüber Nutzer/innen in solchen Angebotsstrukturen vorhalten müssen – eine Diskussion, die aktuell unter der Thematik „Krisendienst“ geführt wird und in der Koalitionsvereinbarung der aktuellen Bundesregierung als Ziel verankert ist, aber leider in dieser konsequenten Definition wenig praktische Umsetzung in Deutschland erfährt.

    Außerdem: Personal muss gesund bleiben – es muss stärker denn je um Förderung von Resilienz der Mitarbeitenden gehen, dies wissen wir spätestens seit der Corona-Pandemie [12] [13].

    Partizipativ organisierte, resiliente und verlässliche Angebotsstrukturen der Zukunft müssen das Wohlergehen der Mitarbeitenden im Blick haben und entsprechende Kompetenzen für die Herausforderungen einer neuen Arbeitswelt bereitstellen und – wie in der Corona-Krise – nicht nur AHAL-Regeln schulen.

  3. Nutzer/innen

    Wir wissen, was Nutzer/innen brauchen, was sie wollen, was ihnen in psychischen Krisen hilft – wir müssen es nur hören und gemeinsam mit ihnen umsetzen. Fragen wir sie also, beziehen wir sie konsequent ein – in die Systeme, in die Veränderungen, in die psychiatrische Zukunft. Diese einfache Botschaft scheint verdammt schwer umzusetzen in Deutschland…oder?

  4. Psychiatrie-Politik aktiv gestalten

    Gesundheits- und sozialpolitisch sollte die Psychiatrie wieder deutlicher Verantwortung übernehmen und aktiv die Prozesse der Transformation vorantreiben statt zu warten bis politische Vorgaben kommen. Die Psychiatrie hat es selbst in der Hand [3]! Das Motto lautet: die Transformation gestalten statt sie zu erleiden und dabei die Schwächsten in diesen Prozessen kontinuierlich im Blick behalten.

    Die spezifisch deutsche, zersplitterte Angebotsstruktur muss sich auf einem Versorgungskontinuum deutlicher an den Themen Genesung, Teilhabe und Selbstbestimmung orientieren und damit Sozialgesetzbuch übergreifend organisiert werden. Damit werden Doppelstrukturen abgeschafft und eine zielgerichtete Effizienz der psychiatrischen Angebote erhöht. Bisherige Kooperationsstrukturen konnten diese Thematik nicht lösen, was den Innovationsbedarf für eine verbindliche Organisation der Angebotslandschaft andeutet.

  5. Risiken in den Blick nehmen

Neue Wege können Risiken bereithalten, die mit der hier geforderten Transformation für alle Beteiligten verbunden sein werden: Mitarbeitende werden, wenn sie stärker im Sozialraum der Nutzer/innen aktiv sind, häufiger eigenverantwortlich Entscheidungen treffen müssen. Betroffene, die viele Stunden am Tag und in der Woche auf sich allein gestellt sind statt in der Gruppe einer Klinik oder einer besonderen Wohnform rund um die Uhr unterstützt zu werden, stellen sich zusätzlichen neuen Herausforderungen, die nicht sofort bewältigt werden können. Dabei ist ein möglicher Wunsch nach umfassender Fürsorge im Einzelfall zu respektieren und offensiv zu diskutieren.

Um die Herausforderungen einer Ressourcen-orientierten – und gleichsam – schonenden Psychiatrie gelingend zu bewältigen, können wir erste Schritte einfach gestalten: wir müssen diese lediglich an bekanntem Wissen aus Praxis und Forschung orientieren und in Verbindung mit einem guten Risikomanagement ausrichten – ein „zurück“ ist ebenso ausgeschlossen wie ein „weiter so“.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Ingmar Steinhart
Institut für Sozialpsychiatrie Mecklenburg-Vorpommern e.V.
An-Institut der Universität Greifswald
Außenstelle Rostock
Carl-Hopp-Straße 19a
18069
Rostock

Publication History

Article published online:
13 March 2023

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