Nervenheilkunde 2023; 42(05): 286-293
DOI: 10.1055/a-2003-3171
Übersichtsarbeit

Möglichkeiten und Grenzen des hermeneutisch-narrativen Ansatzes am Lebensende[*]

Enriching chances and limitations of the hermeneutic-narrative approach at the end of life
Juan Valdés-Stauber
1   Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg, Universität Ulm
› Author Affiliations
Preview

ZUSAMMENFASSUNG

Der narrative Ansatz in der Medizin entlehnt aus der Literaturwissenschaft die Idee, dass eine Erzählung von Patienten, über Patienten oder mit Patienten eine kohärente Struktur aufweist, wie sie jeder wohlgeformten Erzählung innewohnt. Medizinische Erzählungen haben eine ordnende und womöglich sinnverleihende Funktion für das eigene Erleben im Daseinsmodus des Erkranktseins. Aus philosophischer Sicht kann dieser Ansatz bedeuten, dass Geschehnisse durch deren erzählerisches Verweben einen Sinn gewinnen könnten, wenn man annimmt, dass die menschliche Identität narrativer Natur und dadurch erzählerisch erfassbar ist oder dass im Einzelfall erst in der Dialektik zwischen der abstrakten philosophischen Argumentation und der erzählerischen Wahrheitsexploration eine Erhellung menschennaher Sachverhalte erreichbar ist.

In der vorliegenden Untersuchung wird der Frage nachgegangen, ob ein psychotherapeutisch-narrativer Ansatz in der Behandlung und in der Begegnung mit Sterbenden grundsätzlich anzuwenden ist oder nicht vielmehr eine anthropologisch fundierte Haltung der beistehenden Schicksalssolidarität geboten ist, spätestens wenn eine verbale Kommunikation nicht mehr zustande kommen kann. Die Argumentation beginnt mit einer Standortbestimmung der Narrativität und deren Stellenwert in der Annäherung an die Phänomenologie des Sterbens, jedoch nicht als Selbstzweck, sondern als Grundlage für die Entwicklung von angemessenen Interventionen am Lebensende. Konsequenterweise müssten diese Interventionen auf einer Haltung basieren, die einerseits anthropologische Annahmen berücksichtigt andererseits von Schicksalssolidarität in der Linderung und in der Begleitung zeugt, nicht zuletzt von einer tröstenden Intention. Der Aufsatz schließt mit der Formulierung von 10 Thesen, die sich aus den davor ausgearbeiteten Kapiteln über Narrativität und deren Transfer in die Praxis ableiten lassen.

ABSTRACT

The narrative approach in medicine borrows from literary studies the idea that a narrative by patients, about patients, or with patients displays a coherent structure like any well-formed narrative. Medical narratives exhibit an ordering and possibly sense-conferring function for one’s own experience in the “existential mode of being ill”. From a philosophical point of view, this approach may imply that events could gain meaning through narrative interweaving of the same, assuming that human identity is narrative in nature and thus narratively graspable.

In the present investigation the question is pursued whether a psychotherapeutic-narrative approach is to be applied in principle in the treatment and encounter with the dying or whether an anthropologically founded attitude of assisting solidarity with fate is not rather called for, at the latest when verbal communication can no longer come about. The argumentation begins with a positional analysis of narrativity and its place in the approach to the phenomenology of dying, but not as an end, but as a basis for the development of appropriate interventions at the end of life. Thought through to the end, these interventions culminate in an attitude that, on the one hand, takes anthropological assumptions into account, and, on the other, testifies to a solidarity in palliation and in accompanying, but also to a consolatory intention. The paper concludes with the formulation of 10 theses that can be derived from the chapters on narrativity and its transfer into practice elaborated before.

* Überarbeitete und erweiterte Version von [78] mit Genehmigung der Zeitschrift P&S.




Publication History

Article published online:
03 May 2023

© 2023. Thieme. All rights reserved.

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York