Nervenheilkunde 2023; 42(03): 153-162
DOI: 10.1055/a-1986-5990
Schwerpunkt

Die Rolle des Oxytocinsystems für die Entstehung der Depression

The role of the oxytocin system for the development of depression
Simon Sanwald
1   Ulm University, Department of Psychiatry and Psychotherapy III
,
Thomas Kammer
1   Ulm University, Department of Psychiatry and Psychotherapy III
,
Christian Montag
2   Ulm University, Department of Molecular Psychology, Institute of Psychology and Education
,
Markus Kiefer
1   Ulm University, Department of Psychiatry and Psychotherapy III
› Author Affiliations
 

ZUSAMMENFASSUNG

Oxytocin erregte aufgrund seiner Rolle für das menschliche Sozialverhalten in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit hinsichtlich der Erforschung der Ätiologie depressiver Erkrankungen. Aktuelle Forschungsergebnisse legen die Komplexität des Oxytocinsystems und sowohl pro- als auch antisoziale Effekte des Neuropeptids offen, weshalb seine Rolle für die Salienz sozialer Reize oder allgemeiner für allostatische Prozesse diskutiert wird. Diese Arbeit fasst Befunde zu den Zusammenhängen zwischen Oxytocin und belastenden Lebensereignissen sowie zwischen Oxytocin und der Verstärkung sozialer Interaktionen zusammen. Ausgehend von diesen Verknüpfungen des Oxytocinsystems mit dem körperlichen Stresssystem und dem Belohnungssystem stellt diese Arbeit einen Versuch dar, aktuelle Theorien zur Funktion von Oxytocin auf die Depression anzuwenden, um so eine Hypothese zur Rolle des Oxytocinsystems hinsichtlich des Ursprungs der biologischen und behavioralen Korrelate dieser Störung aufzustellen.


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ABSTRACT

Oxytocin has attracted increased attention in recent years with regard to research on the etiology of depressive disorders due to its role in human social behavior. Recent research has revealed the complexity of the oxytocin system and both pro- as well as antisocial effects of the neuropeptide, thus its role in the salience of social stimuli or more generally in allostatic processes is debated. This paper summarizes findings on the links between oxytocin and stressful life events as well as between oxytocin and reinforcement of social interactions. Based on these linkages of the oxytocin system with the physical stress system and the reward system, this work represents an attempt to apply current theories on the oxytocin system to depression to hypothesize the role of the oxytocin system with respect to the origin of the biological and behavioral correlates of this disorder.


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Einleitung

Der Mensch organisiert sich in komplexen sozialen Gefügen. Kooperation und Altruismus, aber auch Selbstbehauptung und Abgrenzung sicherten das Überleben unserer Spezies und ermöglichten darüber hinaus eine einzigartige Entwicklung kultureller sowie technischer Fortschritte [1]. Eine zentrale Rolle für das phylogenetisch junge und komplexe Sozialverhalten des Menschen und anderer sozialer Tiere nimmt ein Nonapeptid (aus 9 Aminosäuren bestehendes Peptid) ein, welches in bemerkenswerter Weise über die Phylogenese hinweg erhalten blieb und eine Vielzahl an Funktionen gewann: Oxytocin [2]–[4]. Aufgrund seiner Eigenschaft als Moderator sozialer Interaktion weckte Oxytocin in den letzten Jahrzehnten vermehrt das Interesse von Forschenden als potenzielles Therapeutikum für psychische Störungen mit sozialer Komponente. Eine der Störungen für welche in den letzten Jahren die Rolle des Oxytocins erforscht wurde, ist die Depression, welche neben ihren Hauptsymptomen der depressiven Verstimmung und dem Interessens-/Antriebsverlust auch durch sozialen Rückzug gekennzeichnet ist [5], [6] und für welche emotionale Misshandlung während der Kindheit als ätiologischer Faktor vielfach belegt ist [7]–[9]. Emotionale Misshandlung ist im Vergleich zu anderen Arten von Missbrauchs-/Vernachlässigungserfahrungen besonders stark mit einer niedrigeren Oxytocinkonzentration in der Zerebrospinalflüssigkeit assoziiert [10]. Diese Arbeit soll einen Überblick über die neurobiologischen Grundlagen und die oft widersprüchlichen Effekte von Oxytocin und Theorien, welche diese aufzulösen suchen, geben. Darauf aufbauend wird die mögliche Rolle des Oxytocins für die Depression diskutiert.


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Das Oxytocinsystem

Das Nonapeptid Oxytocin wird in den magno- und parvozellulären Neuronen des Hypothalamus synthetisiert, welche hauptsächlich im paraventrikulären Nucleus (PVN) und im supraoptischen Nukleus (SON) zu finden sind. Oxytocin wird in diesen Neuronen entlang deren Axone in die Hypophyse aber auch in viele andere Bereiche des Gehirns transportiert. Während von der Hypophyse aus eine Sekretion in die Peripherie stattfindet, nimmt man zentral ausgehend vom Hypothalamus eine axonale und eine dendritische Freisetzung an, wobei Oxytocin seine Wirkung über die Bindung an den Oxytocinrezeptor entfaltet [2], [11]. Eine übersichtliche Darstellung der Neuroanatomie des Oxytocinsystems findet sich bei Quintana und Guastella [12]. Oxytocin war ursprünglich bekannt für seine Funktion beim Stillen und bei der Geburt. Tatsächlich ist die Laktation die einzige bekannte Funktion, für welche Oxytocin notwendig ist. Alle anderen Funktionen können – wenn auch zum Teil mit Einschränkungen – ohne Oxytocin stattfinden; hier erfüllt Oxytocin eine redundante Rolle [2]. Neben seinen physiologischen Funktionen im Bereich der Fortpflanzung (Laktation, Geburt, Erektion des Penis, Ejakulation) wurde Oxytocin mit einer Reihe sozialer, aber auch nicht sozialer Funktionen in Verbindung gebracht, was unter anderem in der allostatischen Theorie von Oxytocin mündete [12]. Für diese Arbeit wird der Fokus auf die Funktionen des Oxytocins gelegt, welche mit der Stressregulation, Bindungsverhalten und in diesem Kontext mit der Depression in Verbindung gebracht wurden.


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Oxytocin und Stress

Belastende Lebensereignisse während der Kindheit, insbesondere emotionaler Missbrauch und emotionale Vernachlässigung, stellen Risikofaktoren für die Entwicklung einer Depression dar [8]. Ferner ist chronischer Stress während der Kindheit mit langfristigen Änderungen der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse, englisch hypothalamus-pituitary-adrenal) assoziiert [13]–[15]. Nun ist es zunächst zweckmäßig, die HPA-Achse zu verstehen: Wenn als aversiv erlebte Stimuli nicht durch eine Kampf- oder Fluchtreaktion – diese sind stärker mit dem sympathoadrenergen System assoziiert – kontrolliert werden können, läuft die adaptive Stressantwort über die HPA-Achse ab [16], [17]. Entsprechend synthetisiert und sekretiert der Hypothalamus den Corticotropin Releasing Factor (CRF), welcher seinerseits die Synthese und Sekretion des adrenokortikotropen Hormons (ACTH) durch die Hypophyse stimuliert. ACTH wiederum regt die Produktion von Cortisol in der Nebennierenrinde an. Glucocorticoide wie Cortisol inhibieren über ihre Bindung an den Glucocorticoidrezeptor im Hypothalamus über Zwischenschritte die Transkription von CRF, was die Aktivität der HPA-Achse im Sinne eines negativen Feedbacks herunterreguliert [18]. Oxytocin wird entweder simultan zu oder unmittelbar nach akutem Stress vom PVN freigesetzt, was vom Kontext oder der Art des Stressors abzuhängen scheint. Oxytocin wirkt nach seiner Freisetzung direkt und indirekt hemmend auf das CRF-System und somit inhibierend auf die Aktivität der HPA-Achse [16], [18].

Ein Beispiel für die Modulation der Stressantwort durch Oxytocin liefern Studien an Präriewühlmäusen: Durch Immobilisierung gestresste weibliche Mäuse, bei welchen während der Erholung von diesem Stress der Partner zugegen war, zeigten im Vergleich zu Mäusen, welche während der Erholungsphase sozial isoliert waren, weniger ängstliches Verhalten. Diese Ängstlichkeitsreduktion konnte in der Isolationsbedingung durch eine bilaterale Infusion einer hohen Oxytocindosis in den PVN erzielt werden, während die Gabe eines Oxytocinrezeptorantagonisten den positiven Effekt, welchen die Anwesenheit des männlichen Partners hatte, aufhob [19]. Es konnte zusätzlich im Tiermodell gezeigt werden, dass CRF enthaltende Neuronen im PVN Oxytocinrezeptoren und magnozelluläre oxytocinerge Neurone CRF2-Rezeptoren haben [20], also Rezeptoren an denen der CRF binden kann. Die Befunde zu den Interaktionen zwischen der HPA-Achse und dem Oxytocinsystem werden durch ältere Studien gestützt, welche unter der Annahme durchgeführt wurden, dass die Trennung junger Säugetiere vom Muttertier zu depressionsähnlichen Phänotypen führt [13], [14]. In diesen Studien konnte an Säugetieren – und in wenigen Studien auch am Menschen [21], [22] – gezeigt werden, dass junge Säugetiere nach der Trennung von der Mutter – die extremste Form der Vernachlässigung – beginnen, charakteristische Laute auszustoßen und aktives Suchverhalten zeigen, um eine Wiedervereinigung mit der Mutter herbeizuführen [23]–[25]. Gelingt dies allerdings für eine längere Zeit nicht, kommt es zu einer Reaktion, die man als Resignation interpretieren könnte. Diese zweite Phase ist geprägt von Rückzug und Inaktivität, verhält sich entsprechend der beobachtbaren Symptomatik also ähnlich, wenn nicht identisch zur Depression [13], [14]. Nun kann durch Gabe von Oxytocin ein Verstummen der Laute, welche junge Säugetiere nach der Trennung von der Mutter ausstoßen, herbeigeführt werden [26]. Oxytocin ist zudem das einzig wirksame Mittel gegen Trennungsstress, das keine sedierenden Eigenschaften aufweist [14], [26].

Auch konnte gezeigt werden, dass belastende Erlebnisse mit Unterschieden in der Epigenetik, genauer in der Methylierung, sowohl des Oxytocin- als auch des Oxytocinrezeptorgens (OXT und OXTR) assoziiert sind. Die Epigenetik beschreibt Mechanismen, die eine Veränderung hinsichtlich der Transkription der DNA nach sich ziehen, welche nicht auf eine unterschiedliche Sequenz der 4 DNA-Basen zurückzuführen ist. Die Methylierung ist der am meisten untersuchte epigenetische Mechanismus, der die kovalente Bindung einer Methylgruppe an das Cytosin von Cytosin-Guanin-Dinukleotiden beschreibt und die Zugänglichkeit der DNA für den Transkriptionsapparat moduliert [27]. Die Epigenetik ist die Brücke zwischen Umwelt und Genetik, welche langfristige Folgen externer Ereignisse für die Biologie des Individuums zu erklären vermag [28], [29].

Sowohl belastende Erlebnisse als auch die Methylierungsunterschiede im OXT und OXTR sind mit depressiver Symptomatik assoziiert [30]–[34]. Der Befund, dass belastende Ereignisse mit Unterschieden in der Methylierung des OXT(R) assoziiert sind, zeigt, dass externe Ereignisse langfristig durch Methylierungsunterschiede Einfluss auf die Funktionsweise stressassoziierter Systeme haben können. Kurz gesagt legt die Befundlage nahe, dass Oxytocin und CRF funktional interagieren, so die Stressantwort regulieren, beispielsweise Trennungsstress lindern, und dass das Oxytocinsystem durch externe Ereignisse „programmiert“ wird. Darüber hinaus konnte im Mausmodell gezeigt werden, dass eine herbeigeführte Veränderung im Oxytocinsystem nicht nur mit einer dysregulierten HPA-Achse, sondern auch mit Defiziten hinsichtlich des Bindungsverhaltens assoziiert ist [35]–[37]. Dies ist vor dem Hintergrund der protektiven Wirkung unterstützender Beziehungen hinsichtlich der Entwicklung einer Depression interessant [38]. So stellt insbesondere eine stabile Mutter-Kind-Beziehung einen Resilienzfaktor bezüglich belastender Erlebnisse und des Risikos einer Depressionserkrankung später im Leben dar [39], [40], weshalb sich der nächste Absatz der Funktion des Oxytocins für die Ausbildung stabiler sozialer Beziehungen widmet.


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Oxytocin und Bindung

Nach der Geburt kann das Neugeborene zunächst eine zeitliche Übereinstimmung zwischen dem eigenen Zustand und seiner sozialen Umgebung vermittelt durch die Mutter erleben. Ab ungefähr dem dritten Lebensmonat nehmen die Neugeborenen aktiv an der sozialen Umwelt teil [41]. Es kommt zu koordinierten Sequenzen von Blickmuster, Kovokalisation, gegenseitigem Ausdruck von positivem Affekt und liebevollen Berührungen [41], [42]. Eine zeitliche Konkordanz dieser Aktivitätsmuster zwischen Kleinkind und Mutter innerhalb der Zeitspanne vom dritten bis zum neunten Lebensmonat ist mit positiven Eigenschaften im späteren Leben des Kindes assoziiert, so zum Beispiel mit sozialer Anpassung und einem geringeren Risiko für die Entwicklung einer Depression [43]. Auch für diese frühe Bindungserfahrung zwischen Mutter und Kind, welche den Grundstein für spätere befriedigende und stabile soziale Beziehungen legt, spielt das Oxytocin eine zentrale Rolle [44]. Diese Rolle erfüllt es über Verbindungen zum Belohnungssystem, wie die anatomische Verteilung der Oxytocinrezeptoren und die funktionelle Neurobildgebung nahelegen [45], [46]. Entsprechend erfahren soziale Tiere einen Belohnungseffekt durch soziale Interaktion. Oxytocin stattet also das Neugeborene mit einem intuitiven Belohnungssystem aus und schafft bei der Mutter den Anreiz, mit dem Neugeborenen zu interagieren [41], [47]. Diese Verstärkung wird, wie eine Studie an Mäusen nahelegt, über serotonerge Signale des dorsalen Raphekerns an den Nucleus accumbens vermittelt. Haben die Mäuse durch eine genetische Mutation keine Oxytocinrezeptoren am dorsalen Raphekern, verlieren soziale Interaktionen ihre verstärkende Wirkung und es kann ein sozialer Rückzug beobachtet werden, wie er auch bei der Depression auftritt [48]. Auch scheint Oxytocin essenziell für soziales Lernen zu sein: Mäuse, die aufgrund einer genetischen Mutation kein Oxytocin produzieren, weisen bei intaktem nicht sozialem Lernen eine Unfähigkeit auf, eigentlich bekannte Artgenossen zu erkennen [36].

Die Möglichkeit zur Ausbildung stabiler Beziehungen im Erwachsenenalter ist nicht einfach gegeben, sondern wird maßgeblich durch frühe Beziehungserfahrungen beeinflusst und bleibt dann relativ stabil über das Leben erhalten [49], [50]. Gleichermaßen programmieren die frühen Beziehungserfahrungen auf physiologischer Ebene das Oxytocinsystem, was wiederum Einfluss auf die spätere Beziehungsgestaltung hat [51], [52]. Dies zeigt sich auch durch Befunde, welche eine Assoziation von Mutter-Kind-Interaktionen mit der Methylierung des Oxytocinrezeptorgens zeigen sowie der Assoziation zwischen Bindungsverhalten im Erwachsenenalter und der Methylierung des Oxytocinrezeptorgens [53]–[55]. Die Art der Beziehungsgestaltung und die daraus resultierende soziale Unterstützung bleibt über das ganze Leben ein wichtiger Prädiktor für psychische Gesundheit [56]. Das durch frühe Bindungserfahrungen programmierte Oxytocinsystem spielt auch für soziale Beziehungen und Stressbelastung später im Leben eine zentrale Rolle [57]. Außerdem scheint das Oxytocinsystem für die heilsame, stressreduzierende Wirkung sozialer Interaktionen im Erwachsenenalter wichtig zu sein: So stellt der Aufbau einer therapeutischen Beziehung unabhängig von der Therapieschule den wichtigsten Wirkfaktor der Psychotherapie dar [58], [59]. Studien legen nahe, dass sowohl die Veränderungen der Oxytocinkonzentration im Speichel der Patienten mit Depression während der Psychotherapie als auch deren zeitliche Synchronität mit den Veränderungen der Oxytocinkonzentrationen im Speichel der Psychotherapeuten während der Psychotherapie mit der Reduktion depressiver Symptomatik zusammenhängen [60], [61].


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Oxytocin als Schlüsselelement allostatischer Prozesse

Die Befundlage zu den sozialen Wirkungen von Oxytocin ist allerdings heterogen: Oxytocin wurde mit einer Steigerung von Vertrauen [62]–[64] aber auch mit erhöhter Ängstlichkeit und Aggression [66] und darüber hinaus mit (stärkerem) Lügenverhalten in Zusammenhang gebracht [67]. Dieser Widerspruch machte Oxytocin das Image des „Kuschelhormons“ abspenstig und wurde über die Social-Salience-Hypothese elegant aufgelöst: Die funktionelle Rolle von Oxytocin wird über eine Lenkung der Aufmerksamkeit auf soziale Reize interpretiert. Die oxytocininduzierte Salienz sozialer Reize führt dann je nach Kontext und individuellen Charakteristika zu pro- oder antisozialem Verhalten [68]. Eine neuere, noch allgemeinere Theorie versteht Oxytocin als Schlüsselelement allostatischer Prozesse, also als einen Neuromodulator, welcher die Anpassung an eine veränderliche Umgebung ermöglicht [12]. Allostase – im Gegensatz zur klassischen Definition der Homöostase – beschreibt die Anpassung bestimmter metabolischer und behavioraler Sollwerte an antizipierte oder vorherrschende Gegebenheiten der Umwelt. Dem Konzept der Allostase liegen folgende Annahmen zugrunde: Erstens ist die effizienteste Regulation antizipatorisch und basiert auf vergangenen (Lern-)Erfahrungen. Zweitens können und müssen Sollwerte regulierter Parameter veränderbar sein, um eine optimale Anpassung an veränderliche Umweltbedingungen gewährleisten zu können. Drittens wird die optimale Regulation gesteuert durch eine zentrale Einheit (gemeint ist das Gehirn) vor dem Hintergrund einer Kosten-Nutzen-Abwägung erreicht [69]. So kann es beispielsweise in einer stressreichen Umgebung adaptiv sein, einen hohen Blutdruck relativ zur Höhe des Blutdrucks in einer weniger stressigen Umwelt aufzubauen und aufrechtzuerhalten, wobei ein solcher Anpassungsprozess Kosten verursachen kann [70]. Entsprechend wurde bereits argumentiert, dass eine starke oder sehr häufige Anpassung eines Parameters, genauso wie eine chronifizierte Veränderung eines Sollwerts oder eine fehlerhafte Anpassungsreaktion auf eine Herausforderung zu stressassoziierten Krankheitsbildern führen kann [71]. Allerdings beinhalten aktuelle Definitionen der Homöostase ebenfalls antizipatorische Prozesse und einstellbare Sollwerte sowie auch Kosten der Anpassung [70]. Im Folgenden wird in diesem Artikel dennoch in Anlehnung an die Autoren der allostatischen Theorie von Oxytocin der Begriff Allostase verwendet. So beschreiben die Autoren die Allostase als eine effiziente Strategie für das Überleben einer Spezies, welche die Homöostase zur Post-hoc-Korrektur von Vorhersagefehlern benötigt [12].

ANMERKUNG

Die Allostase beinhaltet die Vorhersage der, das Lernen von und die Reaktion auf Umweltbedingungen, beschreibt also Stabilität durch Veränderung in einer sich verändernden Umwelt. Damit muss ein System, welches metabolische oder behaviorale Parameter im Sinne der Allostase moduliert, interpersonell in Abhängigkeit der Lernerfahrungen unterschiedliche Sollwerte und Reagibilität aufweisen. Dies bedeutet aber, dass die Falsifikation einer Beteiligung eines Systems an allostatischen Prozessen aufgrund der Erwartbarkeit heterogener Befunde herausfordernd ist. Entsprechend ist es zentral genau festzulegen, auf welche Art und Weise die allostatische Theorie des Oxytocins falsifiziert werden könnte.

Die Autoren argumentieren, dass Oxytocin für viele soziale und nicht soziale Lernprozesse von zentraler Bedeutung ist und dass das Oxytocinsystem über die Lebensspanne hinweg veränderbar bleibt. Die Vorteile, welche Oxytocin im Sinne der außerordentlichen Fähigkeit sich unterschiedlichsten Umweltbedingungen anzupassen bietet, wiegt die Kosten auf, welche aus der Anfälligkeit des Oxytocinsystems für belastende Ereignisse resultieren und mit psychischen Erkrankungen assoziiert sein können [12]. Neben der beschriebenen Rolle des Oxytocinsystems für die Anpassung des Verhaltens an soziale Situationen [68], welche einen allostatischen Prozess darstellt [72], gibt es auch eine Vielzahl an Hinweisen darauf, dass Oxytocin eine flexible Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen ermöglicht [12], [72]. Beispielsweise kann Oxytocin passives Freezing-Verhalten reduzieren [73] oder den stressinduzierten Sauerstoffverbrauch erhöhen, um die Muskulatur auf aktives Bewältigungsverhalten vorzubereiten [74]. [ Tab. 1 ] enthält eine Übersicht der im Artikel beschriebenen Funktionen des Oxytocinsystems.

Tab. 1

Übersicht der im Artikel beschriebenen Funktionen des Oxytocinsystems

Funktionen des Oxytocinsystems

Beispiele

Literatur

Biologische Funktionen

Geburt (Auslösung von Wehen), Laktation

[2]

Stress

Modulation der HPA-Achse

[18]

Bindung

Belohnung durch soziale Interaktion, Programmierung für spätere Interaktionen

[44], [48], [52]

Soziales und antisoziales Verhalten

Vertrauen, Aggression, Lügen

[3], [62], [63], [67]

Allostatische Prozesse

Anpassung von Sollwerten, antizipatorische Prozesse

[12]


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Rolle des Oxytocins für die Entstehung der Depression

Die allostatische Theorie liefert in Kombination mit den dargelegten Befunden das Gerüst für die Rolle, welche Oxytocin bei der Entstehung einer Depression spielen könnte. Dabei gilt, dass Oxytocin ein Baustein unter vielen ist und die Depression mit Auffälligkeiten in allen funktionalen Domänen des Gehirns – Kognition, Emotion, Allostase und Homöostase [14], [75] – assoziiert ist. Daher ist Oxytocin, vor dem Hintergrund der Annahme eines bio-psycho-sozialen Modells im Zusammenspiel mit anderen Neurotransmittersystemen, dem Stresssystem, belastenden Erfahrungen, dem Temperament/den primären Emotionssystemen, Persönlichkeit, aktuellen Stressoren, usw. ein Faktor, der in Interaktion mit anderen prädisponierenden Faktoren zu einer Vulnerabilität für die Depression beiträgt [14], [76], [77]: Frühe soziale Erfahrungen, welche für soziale Tiere wie den Menschen überlebenswichtig sind, prägen unser Verständnis und unsere Fähigkeit zum Knüpfen von Beziehungen [49], [50]. Beim Neugeborenen führen soziale Interaktion vermittelt über das Oxytocinsystem zu unkonditionierten Belohnungseffekten [41]. Die intuitiv belohnenden Erfahrungen werden dann im Laufe der frühkindlichen Entwicklung durch Lernprozesse ergänzt [78], [79]. Werden frühe soziale Interaktionen als wenig belohnend oder gar entwertend erlebt, findet vermittelt über Veränderungen im Stress-, Belohnungs- und Oxytocinsystem eine Einstellung auf eine lieblose oder strafende soziale Umwelt statt. Diese Erfahrungswerte werden dann vermittelt über das Oxytocinsystem zur Antizipation zukünftiger sozialer Interaktionen genutzt, die Physiologie und das Verhalten wird auf die Vermeidung entwertender Beziehungserfahrungen ausgelegt [12], [68]. Dies kann einerseits dafür sorgen, dass große Anstrengungen unternommen werden, um beachtet oder wertgeschätzt zu werden. Andererseits kann eine oxytocinvermittelte Einschätzung sozialer Reize als anstrengend oder bedrohlich stattfinden. Somit würde das Individuum je nach Genetik und Temperament entweder lernen, dass große Anstrengung und Leistung gefordert sind, um positive Beziehungserfahrungen zu machen, oder dass es unabhängig von der eigenen Anstrengung nicht wertgeschätzt wird. Als logische Konsequenz entstünde, wenn Oxytocin auf entweder die eine oder die andere Art auf zukünftigen sozialen Interaktionen vorbereitete, entweder ein enormer Stress durch Leistungsanspruch also eine Hyperaktivität der HPA-Achse und irgendwann ein „Ausbrennen“. Dies würde aufgrund der lebensbedrohlichen Wirkung eines zu großen Ressourcenverbrauchs zu einem Herunterfahren und somit zu einem Verstärkerverlust nach Lewinsohn (1974) [80] führen. Oder es entwickelte sich aufgrund der wahrgenommenen Unabhängigkeit von Verhalten und Ergebnis hinsichtlich sozialer Interaktion eine Hilflosigkeit gepaart mit einer Stressreaktion bei sozialen Reizen und in der Folge sozialer Rückzug, also eine Hyperreaktivität der HPA-Achse, was mit einer erlernten (sozialen) Hilflosigkeit gleichzusetzen wäre [81]. So könnte die allostatische, oxytocinvermittelte Einstellung auf soziale Interaktionen die teilweise heterogene Befundlage zum Zusammenhang zwischen Depression und Cortisol (erhöhte Cortisolwerte oder lediglich eine verstärkte HPA-Reaktivität) erklären [82]–[85]. Nimmt man eine allostatische Regulation sozialer Interaktion beispielsweise durch das Lenken der Aufmerksamkeit auf potenzielle Indikatoren für Ablehnung und Nichtachtung an, so wäre eine veränderte Reaktivität des Oxytocinsystems eher im Sinne dieser Theorie als Gruppenunterschiede hinsichtlich peripherer und zentraler Oxytocinlevel beim Vergleich von gesunden Menschen und Menschen mit Depression. Entsprechend konnte ein solcher Gruppenunterschied hinsichtlich der Oxytocinkonzentration im Plasma in einer aktuellen Metaanalyse nicht gezeigt werden [86]. Im Gegensatz dazu konnte in einigen früheren Studien gezeigt werden, dass das Oxytocinsystem in Abhängigkeit der Depression oder sozialer Ängste reagibel in Bezug auf sozialen Stress ist, soziale Stressoren also mit Veränderungen hinsichtlich der Oxytocinkonzentration im Blutplasma assoziiert sind [87], [88]. Allerdings scheint die Assoziation zwischen sozialen Stressoren oder Beziehungserfahrungen und dem Oxytocinsystem komplex zu sein. Denn sowohl die genannten als auch die Zusammenhänge zwischen der Reaktivität des Oxytocinsystems und der Reduktion depressiver Symptomatik durch Psychotherapie, konnten in beide Richtungen (sowohl negative als auch positive Zusammenhänge, es geht also mehr um die Reaktivität des Systems) gefunden werden [61], [87], [88].

Entsprechend komplex ist der Einsatz von Oxytocin als Therapeutikum für die Depression, was auch von der Heterogenität der Befundlage und den eher ernüchternden Effekten bei der Behandlung affektiver Erkrankungen widergespiegelt wird [89]. Oxytocin scheint beispielsweise eine Rolle für die Konditionierung furchtassoziierter Stimuli zu spielen, worin die Autoren einen klaren evolutionären Vorteil, aber eben auch eine Rolle für das Entstehen interpersoneller Traumata sehen [90]. Ob Oxytocin also effektiv und sicher als Therapeutikum Anwendung finden kann, ist unklar und es liegt noch ein weiter Weg zur Entschlüsselung der komplexen Wirkungen des Neuropeptids auf das Stresssystem und unser Sozialverhalten vor uns. Denn die bloße Fokussierung auf Oxytocinkonzentrationen missversteht die Anpassungsfähigkeit dieses Systems an frühe Umweltbedingungen, weshalb es sinnvoller sein könnte, unterschiedliche Präventionsprogramme mit Fokus auf die Umwelt und das Individuum hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf das Oxytocinsystem zu untersuchen [51]. Weiterhin scheint es wichtig zu sein, für ein besseres Verständnis der Effekte von Oxytocin die unterschiedlichen Analyseebenen in einem Modell zu berücksichtigen. Aus der Autismus-Forschung ist bekannt, dass die „richtige“ Oxytocindosis für die Behandlung des Autismus von der eigenen genetischen Ausstattung abhängig sein könnte [91]. Möglicherweise gilt Ähnliches auch für die Depressionserkrankung.

FAZIT

Zusammengefasst ist das Oxytocinsystem durch Umweltbedingungen veränderlich und scheint eine wichtige Rolle für allostatische Prozesse zu spielen. Da die Depression über viele Studien hinweg konsistent mit frühen Erfahrungen emotionalen Missbrauchs assoziiert ist und das Oxytocinsystem von frühen Bindungserfahrungen programmiert wird, könnte dieses System zu einer Vulnerabilität für die Depression beitragen. Dies könnte über eine Nichtpassung früh erlernter und wenig flexibler Strategien zur (sozialen) Stressbewältigung, welche in späteren Situationen reaktiviert werden, und ebendiesen späteren Umweltbedingungen beobachtbar als maladaptive kognitiv-behaviorale Muster ablaufen. So kann chronischer Stress entstehen, welcher in der Entwicklung einer Depression kulminiert.


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Medizinisch Verantwortlicher

Der medizinisch Verantwortliche gemäß Zertifizierungsbedingungen für diesen Beitrag ist Prof. Dr. med. Thomas Kammer, Universitätsklinikum Ulm.


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Interessenkonflikt

Erklärung zu finanziellen Interessen

Forschungsförderung erhalten: nein; Honorar/geldwerten Vorteil für Referententätigkeit erhalten: nein; Bezahlter Berater/interner Schulungsreferent/Gehaltsempfänger: nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Nicht-Sponsor der Veranstaltung): nein; Patent/Geschäftsanteile/Aktien (Autor/Partner, Ehepartner, Kinder) an Firma (Sponsor der Veranstaltung): nein.

Erklärung zu nicht finanziellen Interessen

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

* Beide Autoren trugen gleichermaßen zur Entstehung dieses Manuskripts bei.



Korrespondenzadresse

Simon Sanwald
Ulm University
Department of Psychiatry and Psychotherapy III
Section for Cognitive Electrophysiology
Leimgrubenweg 12
89075 Ulm
Deutschland   
Phone: 0731/50061538   

Publication History

Article published online:
03 March 2023

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