Die Berufsbezeichnung der „Beschäftigungs- und Arbeitstherapie“ änderte sich im Jahr
1998 offiziell in „Ergotherapie“ [1]. Sowohl ergotherapeutische Sichtweisen als auch die Berufsinhalte wurden seither
weiterentwickelt [2]. Die Umsetzung der Erneuerungen hat in manchen Einrichtungen und Kliniken seine
Zeit gebraucht und dauert weiterhin an. Im Maßregelvollzug ist der Begriff der „Beschäftigungstherapie“
weiterhin sehr präsent, beispielsweise in den Verwaltungsvorschriften des bayerischen
Maßregelvollzugsgesetzes (VVBayMRVG) [3]. Es folgt ein kleiner Einblick in den Umstrukturierungsprozess der Ergotherapie
einer forensischen Psychiatrie in Bayern.
Notwendige Veränderungen
Die ausschließlich männlichen Patienten der beschriebenen Einrichtung sind aufgrund
eines richterlichen Urteils untergebracht (vorwiegend nach § 63 und § 64 StGB). Ein
Machtgefälle sowie eine Rollendiskrepanz führen dazu, dass ich meinen Patienten oft
nicht wie gewünscht auf Augenhöhe begegnen kann und diese nicht die Rolle des Klienten
einnehmen können. Das Machtgefälle wird unter anderem dadurch bedingt, dass die Unterbringung
unfreiwillig ist und somit die Therapiemotivation kritisch hinterfragt werden muss.
Fraglich ist außerdem, ob die angeordneten Therapien und Therapieinhalte zu dem einzelnen
Menschen passen. Aufgrund dieser Tatsache verwende ich die Terminologie Patient*in
statt Klient*in. Nichtsdestotrotz basiert meine Arbeit auf den Säulen der Ergotherapie.
Jahrzehntelang setzten Ergotherapeut*innen in Deutschland überwiegend Handwerkstechniken
als Therapiemittel und -ziel ein [2]. Eine fundierte ergotherapeutische Diagnostik mit evidenzbasierten, klientenzentrierten
und betätigungsorientierten Herangehensweisen ist in forensischen Kliniken in Bayern
nicht weit verbreitet. Vor 2,5 Jahren habe ich die Chance bekommen, eine Ergotherapieabteilung
im Sinne des aktuellen Berufsparadigmas zu gestalten. Eine ehemalige Druckerei wurde
aufgelöst, weshalb Räumlichkeiten frei wurden. In einem Praktikum während der Ausbildung
habe ich die Arbeitsweise vor Ort kennengelernt und Möglichkeiten zur Weiterentwicklung
der Abteilung erkannt.
Bis vor 2,5 Jahren arbeiteten in dem Therapiezentrum der forensischen Psychiatrie
ausschließlich Meister und Facharbeiter mit vorwiegend handwerklichem und industriellem
Hintergrund. Es wurde nur Arbeitstherapie angeboten. Als einzige Ergotherapeutin habe
ich die Chance bekommen, die neue Abteilung aufzubauen, mit dem Ziel, das Ansehen
der Berufsgruppe durch ihre Professionalisierung zu verbessern – sowohl auf Mikro-
und Mesoebene gegenüber Patienten, dem interdisziplinären Team und dem Direktorium
als auch auf Makroebene. Dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen.
Neue Herangehensweisen
Eine klientenzentrierte und betätigungsorientierte Herangehensweise ermöglicht es,
gemeinsam mit den Patienten Ziele zu setzen. Eine evidenzbasierte Diagnostik mit ergotherapeutischen
Assessments ist die Grundlage dieser Zielsetzung. Zielgerichtete und evidenzbasierte
Arbeit ist zudem ökonomischer, da nach der Implementierung Fortschritte erreicht werden,
die kostensparende Wirkungen haben können.
Der Arbeitsalltag in der Klinik hat gezeigt, dass eine Veränderung nötig war. Ein
Zeichen dafür war der fehlende Theorie-Praxis-Transfer. Das theoretische Wissen über
ergotherapeutische Annahmen fehlte im Team. Vorhandene Vorgehensweisen waren durch
ältere Strukturen und Gewohnheiten geprägt. Die Einstellung und der Wille, klientenzentriert
zu arbeiten, waren grundlegend bereits vorhanden, auch wenn das Kollegium (Meister
und Facharbeiter) diesen Begriff nicht bewusst verwendete. Zur Umsetzung fehlten jedoch
die nötigen Mittel und Strukturen. Meine Berufsidentität, Menschen wertschätzend mittels
Betätigung Wohlbefinden und Gesundheit zu ermöglichen, wurde von meinem Studium der
Ergotherapie an der Zuyd Hogeschool in den Niederlanden geprägt und bestätigt. Durch
das Studium konnte ich mich vernetzen und Möglichkeiten kennenlernen, um gemäß den
Säulen der Ergotherapie zu arbeiten.
Wie gelangt eine Person in die forensische Psychiatrie?
Die Form der Unterbringung eines Täters in der forensischen Psychiatrie ist abhängig
vom Delikt und der bei den Patient*innen vorliegenden Störung [4], [5].
-
§ 63 StGB gilt, wenn jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit
oder der verminderten Schuldfähigkeit, zum Beispiel bei Vorliegen einer krankhaften
seelischen Störung, begeht. Es wird eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus
angeordnet, wenn davon auszugehen ist, dass „[der Täter] infolge seines Zustandes
(…) für die Allgemeinheit gefährlich ist“. Die Unterbringung erfolgt auf unbestimmte
Zeit. Genau heißt dies, dass die Unterbringung fortdauert, solange eine Therapie als
notwendig erachtet wird und die Entlassung des Patienten eine Gefahr für sich oder
die Gesellschaft darstellt.
-
§ 64 StGB gilt, wenn unter Einfluss von berauschenden Mitteln oder dem Hang danach
eine Straftat begangen wird. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wird nur
dann angeordnet, wenn „eine hinreichend konkrete Aussicht besteht, die Person durch
die Behandlung in einer Entziehungsanstalt (…) zu heilen oder über eine erhebliche
Zeit vor dem Rückfall in den Hang zu bewahren und von der Begehung erheblicher rechtswidriger
Taten abzuhalten, die auf ihren Hang zurückgehen“.
Die Kluft zwischen Theorie und Praxis merke ich zudem in der Anleitung von Lernenden.
Lehrpläne werden angepasst, Berichte für Prüfungen ändern sich und stimmen nicht mit
der Praxis überein. Diese verschiedenen Signale motivierten mich, meine Zeit und Energie
in den anstrengenden Erneuerungsprozess zu stecken. Wichtige Motivationsfaktoren sind
die Aufrechterhaltung meiner Arbeitszufriedenheit, die Übernahme von Verantwortung
gegenüber meiner Profession sowie die Qualität der Behandlung der Patienten zu sichern.
Evidenz
Bisher existiert wenig Literatur zu ergotherapeutischen Behandlungen im Setting der
forensischen Psychiatrie. Dennoch gibt es Leitlinien zur Behandlung psychisch erkrankter
Menschen sowie Studien aus dem Bereich der Psychiatrie, die als Basis für die ergotherapeutische
Arbeit in der Forensik genutzt werden können. Ein Beispiel einer hilfreichen Leitlinie
für meine Arbeit ist die „S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen
Erkrankungen“ [6]. Zusammengefasste und übersetzte Studien findet man unter anderem in der EBP-Datenbank
des DVE.
Mein Handeln als Ergotherapeutin und Barrieren
Mein Handeln als Ergotherapeutin und Barrieren
Um eine Änderung der Arbeitsweisen der Ergotherapieabteilung zu ermöglichen, musste
ich meinem direkten Arbeitsumfeld vermitteln, welche Entwicklungen die Ergotherapie
in den letzten Jahrzehnten erlebt hat. Im Fokus der Zusammenarbeit mit den Patienten
stehen dabei insbesondere Aktivitäten des täglichen Lebens und zufriedenstellende
Betätigungen mit dem Ziel der Teilhabe. Handwerk findet bei mir dagegen hauptsächlich
in der Hobbyfindung seine Daseinsberechtigung. Eine ergotherapeutische Diagnostik
führten die Mitarbeitenden der Klinik bis vor zwei Jahren nicht durch. Um eine Grundlage
für die Diagnostik zu schaffen, erwarben wir verschiedene ergotherapeutische Assessments.
Umgebauter Ergotherapieraum des Therapiezentrums: Billard kann ein mögliches Hobby
sein, was in der Ergotherapie ausprobiert wird. Auch die Werkbänke werden nur noch
zur Hobbyfindung genutzt.© D. Haase
Ergotherapeutische Diagnostik
Ergotherapeutische Diagnostik
Grundlage des Prozesses ist eine ergotherapeutische Diagnostik. Als Arbeitsdiagnostik
implementierte die forensische Klinik bereits die Merkmalsprofile zur Eingliederung
Leistungsgewandelter und Behinderter in Arbeit (MELBA) und das Instrumentarium zur
Diagnostik von Arbeitsfähigkeiten (IDA) [7], [8]. Aufgrund der fehlenden personellen und strukturellen Ressourcen führen Mitarbeitende
sie aber nur in Einzelfällen durch. Um Betätigungsanliegen zu erheben, schafften wir
das Canadian Occupational Performance Measure (COPM) sowie die Assessments Occupational
Circumstances Assessment and Interview Rating Scale (OCAIRS) und Worker Role Interview
(WRI) aus dem Model of Human Occupation (MOHO) an [9]-[11]. Diese können kombiniert eingesetzt werden, was zeitliche Ressourcen spart. Das
OCAIRS enthält zudem einen speziell adaptierten Fragebogen für den Arbeitsbereich
der forensischen Psychiatrie.
Um zeitsparend aktuelle Anliegen mehrerer Patienten zu erfassen, führe ich die Interessen-
und Rollenchecklisten aus dem MOHO durch und werte sie anschließend aus [12]. Wenn der Praxiskontext es ermöglicht, können auf Basis der Ergebnisse der Checklisten
Zusatzangebote im Rahmen der Therapie entwickelt werden, zum Beispiel ein Bewerbungstraining.
Außerdem können sich Ergotherapeut*innen im Rahmen der Berufskompetenz Fürsprechen
für die Patienten einsetzen, damit diese empowert werden und ihre Gesundheitskompetenz
gestärkt wird [13]. Es entsteht die Chance, einer Betätigungsdeprivation, also der Ausgrenzung einer
Person von sinnvollen Betätigungen, entgegenzuwirken.
Wir bestellten die Assessments unterschiedlicher Inhaltsmodelle, damit wir Patienten
holistisch und passend zum individuellen Kontext betrachten können. Die Diagnostik
wird im Sinne der Klientenzentrierung an sie angepasst. Manche Patienten haben zum
Beispiel Schwierigkeiten dabei, die Wichtigkeit, Ausführung und Zufriedenheit auf
einer Skala anzugeben, weil sie Einschränkungen in der Selbstwahrnehmung aufweisen.
Bei diesen Personen kann ein strukturiertes Interview, zum Beispiel das OCAIRS und
das WRI, mit Einschätzung der Ergotherapeut*innen hilfreicher sein.
Nachhaltig umstrukturiert
Nachhaltig umstrukturiert
Damit die Neuerungen nachhaltig umgesetzt werden können, wurde einige Monate nach
Beginn der Umstrukturierung gemeinsam mit Kolleg*innen ein Vortrag für das multiprofessionelle
Team gehalten. Wir stellten die Diagnostik anhand von theoretischen Grundlagen und
Fallbeispielen vor. Diese entspannte Atmosphäre gab Raum für einen offenen Austausch.
Ein übergreifendes Konzept zur Gestaltung des ergotherapeutischen Prozesses ist nicht
vorhanden. Das HiPro-Assessment wurde als Rahmenwerk für ein solches Konzept angeschafft
[14]. Es bietet eine Unterstützung für Ergotherapeut*innen, um (arbeits-)therapeutische
Prozesse reflektiert begleiten und gemeinsam mit den Klient*innen ausrichten zu können.
Als ergotherapeutische Intervention wird zukünftig unter anderem das Programm „Action
over Inertia“ (Handeln ermöglichen – Trägheit überwinden) durchgeführt (ERGOPRAXIS
3/18, S. 16) [15]. Die Inhalte werden im Team ausführlich erarbeitet und eine Fortbildung ist für
die Zukunft geplant.
Zur Gewährleistung der Strukturqualität passen wir in den internen Dokumenten nach
und nach die Terminologie an: Der Begriff Ergotherapie wird die Beschäftigungstherapie
ablösen. Eine einheitliche Außendarstellung soll das Verständnis und das Ansehen der
Berufsgruppe voranbringen. Mit dem langfristigen Ziel, eine einheitlich-verständliche
Fachsprache zu implementieren, bestellten wir die International Classification of
Functioning, Disability and Health (ICF) [16]. Die Dokumentation soll zukünftig in ICF-Terminologie stattfinden. Aufgrund fehlender
Ressourcen und Prioritäten ist das aber noch ein Fernziel.
Warum sich der „steinige“ Weg lohnt
Warum sich der „steinige“ Weg lohnt
Eine große Herausforderung während Veränderungsprozessen ist das Zeitmanagement. Die
Versorgung der Patienten soll gewährleistet sein, und parallel zur regulären Therapie
führe ich auch die Zusatzaufgaben im Rahmen des Erneuerungsprozesses aus.
Ich fühle mich verantwortlich, meinen Beruf nach bestem Gewissen auszuüben. Der Ethikkodex
des Weltergotherapieverbandes (WFOT) belegt, dass Ergotherapeut*innen verpflichtet
sind, die Profession weiterzuentwickeln und Klient*innen unabhängig von ihrem Hintergrund
gleich zu behandeln [17]. Für mich fällt darunter, dass ich Patient*innen unabhängig von ihrer Straftat und
Verurteilung auf Augenhöhe begegne. Das Bewusstsein für vorhandene Wertekonflikte
ermöglicht es mir, diese kritisch zu hinterfragen und meine Arbeitsweise zu reflektieren.
Mittels Professional Reasoning findet ein andauernder Qualitätszyklus statt [18]. Ich reflektiere ständig die vorhandenen Prozesse und durchlaufe mit dem Reasoning
den PDCA-Zyklus (Plan-Do-Check-Act). Eine Zusammenarbeit mit dem klinikinternen Qualitätsmanagement
und den verschiedenen Vertreter*innen anderer Berufsgruppen unterstützt die Veränderung
und sorgt für einen fließenden Übergang in die „moderne“ Ergotherapie.
Für nachhaltige Veränderungen ist Qualitätssicherung wichtig.
Veränderungen akzeptieren
Veränderungen akzeptieren
Leider schätzen Teile des Teams den anstrengenden und gleichzeitig erfüllenden Prozess
der Erneuerung nicht immer vollständig wert. Meinen Fokus lenke ich im Arbeitsalltag
auf die Personen, die den Fortschritt positiv wahrnehmen. Der stellvertretende Leiter
der Arbeits- und Ergotherapie der forensischen Klinik und Handwerksmeister J. Meier
äußerte, dass er mit dem Ziel in der Klinik arbeitet, für die Patienten da zu sein.
Dazu gehört dann natürlich auch, dass sich die Therapie im Laufe der Zeit verändert.
Sein Leitspruch lautet: „Nichts ist so beständig wie die Veränderung der Lage.“
Zwei Jahre nach Beginn der Umstrukturierung stellte die Klinik zwei weitere Ergotherapeutinnen
ein. Sie erkennen bereits Veränderungen in der Abteilung und unterstützen den Prozess.
„Um Patienten in der Forensik mit eingeschränkter Umwelt sinnvoll zu unterstützen,
bedarf es einer Umstrukturierung. Eine wie bisher bekannte Beschäftigungstherapie
hat meines Erachtens das alleinige Ziel, Patienten vom tristen Alltag abzulenken.
Sinnvoll für mich wäre es, den Patienten im Rahmen der Ergotherapie auf das Leben
außerhalb der forensischen Einrichtung vorzubereiten“, sagt eine der beiden über ihre
Ziele für die Ergotherapie. Veränderungsprozesse sind sehr aufregend und zeitintensiv.
Ohne die Unterstützung meines direkten Vorgesetzten sowie des Teams wäre eine Umstrukturierung
nicht möglich.
Vision
Einen Marathon zu laufen schafft man nur, indem man einen Schritt nach dem anderen
macht. So sehe ich den Erneuerungsprozess der Ergotherapie. 42 Kilometer sind längst
nicht erreicht, der Anfang ist jedoch gemacht. Damit die Veränderungen nachhaltig
sind, ist Qualitätssicherung unabdingbar. Der WFOT hat ein Instrument zur Qualitätssicherung
ergotherapeutischer Dienstleistungen entwickelt. Das Quality Evaluation Strategy Tool
(QUEST) dient zur Überprüfung der vorhandenen Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität
[19]. Vorab festgelegte Zeitpunkte in unseren Konzepten gewährleisten, dass die ergotherapeutische
Praxis zeitgemäß bleibt und kritisch reflektiert wird. Hiermit erzielen wir, dass
wir festgefahrene Strukturen durchbrechen. In zukünftig von uns entwickelten Konzepten
werden diese Qualitätsdimensionen direkt implementiert und die Qualität wird anhand
dieser bewertet.
Die Arbeit in einer forensischen Psychiatrie mit verurteilten Straftätern löst häufig
Unverständnis aus. Man könnte der Ansicht sein, dass diese Personen keine Therapie
verdienen. Diese Meinung vertrete ich allerdings nicht. Mit der Zusammenarbeit auf
Augenhöhe und dem Erreichen klientenzentrierter und betätigungsorientierter Ziele
ist ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstständigkeit, Zufriedenheit und Rückkehr
in die Gesellschaft geschafft. Prävention zukünftiger Straftaten und die Partizipation
der Patienten stehen bei mir im Vordergrund. Straftaten sind Betätigungen, die von
der Gesellschaft negativ wahrgenommen werden und zur dunklen Seite der Betätigung
gehören [20]. Somit ist die Zusammenarbeit mit den Patient*innen einer forensischen Psychiatrie
Teil der Ergotherapie, und das ständige Arbeiten an der Professionalisierung unerlässlich.
Dagmar Haase