Zusammenfassung: Im Folgenden wird begründet, warum der theoretische Unterricht an
Fahrschulen weiterhin in Präsenz durchgeführt werden sollte. Lernen ist seit mehr
als 100 Jahren Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung, was dazu geführt
hat, dass es mittlerweile gesichertes Wissen zu Lernprozessen gibt. Aus der Diskussion,
der für den Erwerb der Fahrerlaubnis wesentlichen Lernprozesse folgt, dass digitaler
Distanzunterricht den Präsenzunterricht auch was den theoretischen Teil des Unterrichts
anbelangt nicht zu ersetzen vermag. Ein weiteres Argument ergibt sich aus der Natur
der zu lernenden Inhalte. Da die Straßenverkehrsordnung in erster Linie den Umgang
mit anderen Verkehrsteilnehmern regelt, also letztlich menschliches Sozialverhalten
betrifft, und da Sozialverhalten prinzipiell im Umgang miteinander, also durch gelebte
soziale Praxis in der wirklichen – nicht der virtuellen – Realität gelernt wird, folgt
die Überlegenheit des Präsenzunterrichts zwangsläufig. Studien zu den Auswirkungen
digitaler Informationstechnik auf Lernprozesse zeigen darüber hinaus deutliche negative
Auswirkungen auf das Lernen. Dies gilt insbesondere für das Lernen junger Menschen
mit bildungsfernerem und/oder ökonomisch benachteiligtem psychosozialem Hintergrund.
Daher ist mit Blick auf die Forderung nach Chancengleichheit für die Teilhabe am sozialen
Gemeinschaftsleben der Ersatz des Präsenzunterrichts durch digitalen Distanzunterricht
problematisch: Man schadet den sozial bzw. ökonomisch Schwachen am meisten. Der Erwerb
des Führerscheins erfolgt meist im jungen Erwachsenenalter, also in einer Phase des
Aufbruchs in neue erweiterte soziale Räume. Es muss daher das Ziel sein, allen diese Chance zu ermöglichen, und genau dieses Ziel würde durch eine Änderung der
bisherigen Praxis des Präsenzunterrichts für alle Fahrschüler und insbesondere für
solche aus sozial benachteiligten Randgruppen der Gesellschaft mit geringerer Wahrscheinlichkeit
erreicht. Schließlich würden die Kosten des Führerscheinerwerbs steigen, weil die
für den Erwerb des Führerscheins nötigen sozialen Lernprozesse nur noch in den Fahrstunden
erfolgen können, deren Zahl ansteigen würde, und die den Hauptteil der Kosten ausmachen.
Auch in dieser Hinsicht würde die Maßnahme vor allem sozial schwache Menschen benachteiligen
bzw. treffen.
Einleitung
In Deutschland wurde die erste Fahrerlaubnis 1888 für Carl Benz, dem Erfinder des
Automobils, ausgestellt. 21 Jahre später, am 3. Mai 1909, wurde mit der ersten Reichs-Straßenverkehrsordnung
in Deutschland der Führerschein eingeführt und blieb im Wesentlichen gültig bis zur
Einführung der EU-Fahrerlaubnisverordnung am 1. Januar 1999.
Die erste private Fahrschule Deutschlands wurde 1904 in Aschaffenburg eröffnet; in
Hannover wurde im gleichen Jahr die erste Fahrprüfung durchgeführt. In Frankreich
war man schneller, denn bereits am 14. August 1883 wurde in Paris die weltweit erste
Fahrprüfung durchgeführt. Bis Ende 1966 brauchte man in Belgien keine Fahrerlaubnis.
Dort wurde – als letztes Land in Europa – am 1. Januar 1967 die Fahrerlaubnisprüfung
eingeführt. Offizielle „Fahrlehrer“ und „Fahrschulen“ gab es in Deutschland seit einer
Verwaltungsbestimmung vom März 1921. Gesetzlich geregelt wurde die Ausbildung zum
Fahrlehrer allerdings erst mit dem Fahrlehrergesetz vom 25. August 1969. Seitdem erhalten
Fahrlehrer in Fahrlehrerausbildungsstätten eine geregelte Ausbildung, die sich – wie
die Fahrschule auch – in einen theoretischen und einen praktischen Teil gliedert.
Mit zunehmender Digitalisierung vieler Bereiche des Lebens – Unternehmen (Produktion
und Dienstleistung), Verwaltung, Finanzwesen, Medizin etc. – einschließlich unserer
Privatsphäre (Freizeit, Unterhaltung, Sozialkontakte) erscheint es nur folgerichtig,
über eine Digitalisierung des theoretischen Unterrichts an Fahrschulen nachzudenken.
Die Vorteile könnten in Einsparungen von Kosten und individualisiertem Lernen (z.
B. jeder nach seinen Möglichkeiten und Bedürfnissen sowie zeitlichen Ressourcen) bestehen.
Die Nachteile könnten auf geringeres Lernen und damit letztlich weniger Sicherheit
im Straßenverkehr hinauslaufen. Was trifft nun tatsächlich zu?
Unterricht an Fahrschulen
Unterricht an Fahrschulen
Das Ziel des Unterrichts in Fahrschulen ist das Heranbilden von Wissen (nicht nur
einzelne Fakten, sondern auch Einsichten in allgemeine Zusammenhänge), Fähigkeiten
sowie verkehrsgerechtem und umweltschonendem Verhalten. Letztlich geht es im Straßenverkehr
um das Kennen und Einhalten von Regeln, um Selbstkontrolle und um Sozialverhalten,
das reibungslos und möglichst unfallfrei erfolgen muss, um Schaden vom Einzelnen und
von der Gesellschaft abzuwenden. Damit geht es beim Erwerb der Fahrerlaubnis auch
um (die richtigen) Gewohnheiten, Einstellungen sowie Haltungen und damit grundsätzlich
um Wertevermittlung. Wie schneiden digitale Formate beim Lernen in den genannten Bereichen
ab?
-
Das Erlernen einzelner Fakten kommt im schulischen Bereich am ehesten beim Erlernen von Vokabeln einer Fremdsprache,
von naturwissenschaftlichen Tatsachen („Kohlenstoff hat die Ordnungszahl 12“; „die
Kuh hat 4 Mägen“; „die Saurier starben vor 60 Millionen Jahren aus“) oder von sozialwissenschaftlichen
und historischen Tatsachen („Menschen streben nach Freiheit und Selbstbestimmung“;
„Gewaltenteilung ist eine gute Voraussetzung hierfür“; „Deutschland war 44 Jahre lang
geteilt“) vor. Diese Art des Lernens spielt beim Erwerb des Führerscheins durchaus
eine Rolle: Grenzwerte für das zulässige Gesamtgewicht des zu führenden Fahrzeugs,
für die noch erlaubte maximale Blutalkoholkonzentration beim Fahren oder die Höchstgeschwindigkeit
in geschlossenen Ortschaften fallen ebenso in diese Kategorie wie seltene Verkehrsschilder
und technische Einzelheiten.
Für das Erlernen einzelner, beziehungsloser Fakten wurden früher Zettelkästen verwendet.
Sie wirken vor allem durch ihre Herstellung schon zu einem nicht geringen Anteil,
und dann sorgen sie bei richtiger Anwendung für das Behalten des Materials (iterativ;
getrennt nach schon gemerktem und noch nicht gemerktem Material; Wiederholungen mit
zunehmendem zeitlichem Abstand). Ihre Funktion kann heute der Computer übernehmen,
wobei die Herstellung vergleichsweise weniger gut auf die Gedächtnisleistung wirkt,
weil sie einfacher ist (copy/paste). Weil jedoch die richtige Anwendung durch den
Computer automatisch erfolgen kann, können hieraus Vorteile entstehen. Daher gibt
es mittlerweile eine Reihe von Programmen für Tablett-Computer und Smartphones („Führerschein-Apps“).
Sie wirken ähnlich wie Vokabel-Apps beim Fremdspracherwerb und haben, wie diese, eine
eng umschriebene Funktion. Ersetzen können sie den Unterricht in Präsenz (in dem es um weitaus mehr geht als um einzelne
Wörter bzw. Fakten) nicht.
-
Im Gegensatz zu einzelnen Fakten ist Wissen grundsätzlich immer erstens vernetzt und wird zweitens angewendet. Beim Wissenserwerb schneidet der Distanzunterricht deutlich schlechter ab als der
Präsenzunterricht. Hier geht es um Einsichten in allgemeine Zusammenhänge, die in
unterschiedlichen Kontexten zur Anwendung kommen können und sollen. Am besten wird
gelernt, wenn die Schüler diese Anwendungen aktiv selbst generieren und dieser Prozess
vom Lehrer moderiert wird. Zudem kommt hier der Interaktion zwischen den Schülern
eine besondere Bedeutung zu: Der eine hat eine Idee, der nächste entwickelt sie etwas
weiter, ein anderer kritisiert sie, und so entsteht in der Zusammenarbeit nicht nur
eine neue Einsicht, sondern auch verschiedene Sichtweisen auf deren Anwendung und
das Erlebnis des kreativen sozialen Miteinanders beim Problemlösen.
Wissen wird durch aktive Auseinandersetzung mit den Inhalten, ihre Anwendung auf Probleme
in unterschiedlichen Kontexten gelernt. So werden diese Inhalte tief verarbeitet,
und es ist genau diese Verarbeitungstiefe, die für das Behalten von essenzieller Bedeutung
ist. Wird Wissen in der Diskussion bei einer Vielfalt von Meinungen aufgrund einer
entsprechenden Vielfalt persönlicher Hintergründe und Lebenserfahrungen[
1
] geteilt und dabei gedreht, gewendet und immer wieder neu interpretiert, wird es
besonders tief in die eigenen Erfahrungen und damit das bereits vorhandene Wissen
integriert.
-
Fähigkeiten und Fertigkeiten
(Verhaltensweisen) sind vor allem Teil des praktischen Unterrichts. Sie seien hier dennoch erwähnt,
weil Einsichten in Zusammenhänge das Erlernen von Verhaltensweisen erleichtern: Wenn
die Regeln, auf denen Verhaltensweisen beruhen, geklärt sind, werden sie auch rascher
verinnerlicht. Wenn der Unterricht im Hinblick auf Person bzw. Setting konsistent
erfolgt, gelingt das Übertragen in die Praxis besser. Mit anderen Worten: Auch der
praktische Unterricht (immer in Präsenz) wird durch den theoretischen Unterricht in
Präsenz verbessert.
-
Das Verhalten im Straßenverkehr ist letztlich Teil unseres Sozialverhaltens. Aufgrund
der Bedeutung des sozialen Lernens wird dieser Aspekt in einem eigenen Abschnitt behandelt.
Insgesamt ergibt sich das deutliche Bild eines komplexen Unterrichtsgeschehens, das
sich nicht auf das Auswendiglernen einiger Einzelheiten reduzieren lässt. Daher sprechen
sich sowohl die Anbieter (Fahrlehrer) als auch die Nutzer (Fahrschüler) in entsprechenden
Umfragen deutlich mehrheitlich für den Präsenzunterricht aus [48].
Rolle von Emotionen und Verarbeitungstiefe beim Lernen
Rolle von Emotionen und Verarbeitungstiefe beim Lernen
Seit mehr als 50 Jahren ist aus der Lern- und Gedächtnispsychologie bekannt, dass
die Tiefe der Verarbeitung aufgenommener Informationen deren Speicherung beeinflusst:
Je tiefer Informationen verarbeitet werden, desto besser wird diese Information gespeichert.
Dies beruht letztlich auf der Tatsache, dass im Gehirn die Verarbeitung und das Speichern
von Informationen ein und derselbe Vorgang sind: Werden Informationen verarbeitet,
dann werden im Gehirn Impulse über Nervenfasern und Synapsen von Neuron zu Neuron
gesendet. Genau hierdurch wird die Nervenleitgeschwindigkeit schneller und die Synapsen
stärker (was das neurobiologische Korrelat von Lernprozessen darstellt). Wie viele
Neuronen und Synapsen bei der Verarbeitung von Informationen beteiligt sind, hängt
allerdings davon ab, was man mit den Informationen macht.
Betrachten wir ein Beispiel: Lesen Sie bitte die folgenden Wörter einzeln und entscheiden
Sie bei jedem, ob das Wort mit kleinen oder großen Buchstaben geschrieben ist:
werfen – HAMMER – leuchten – Auge – RIESELN – laufen –BLUT – STEIN – denken – AUTO
– zecke – LIEBEN – wolke – TRINKEN – sehen – buch – FEUER – KNOCHEN – essen – GRAS
– meer – rollen – Eisen – ATMEN.
Eine sehr leichte Aufgabe! Wären Sie aufgefordert worden, nach dem Lesen der Wörter
jeweils zu entscheiden, ob es sich bei dem Wort um ein Substantiv oder Verb handelt,
hätten Sie etwas mehr nachdenken müssen. Schließlich könnten Sie auch gefragt werden,
ob das Wort etwas Belebtes oder etwas Unbelebtes bezeichnet. Dazu müssen Sie über
die Bedeutung des Wortes und damit noch mehr nachdenken!
Seit den 1970er-Jahren wurden vielerlei solcher Experimente zur Verarbeitungstiefe
durchgeführt, mittlerweile meist am Computer, wobei jedes Wort einzeln beispielsweise
genau 2 Sekunden lang gezeigt wird, egal, welche Frage zu beantworten ist. Nach einer
kurzen Pause folgt immer das nächste Wort. Die Versuchspersonen werden zuvor nach
dem Zufallsprinzip in 3 Gruppen aufgeteilt, und in jeder Gruppe wird nur eine der
3 Fragen (groß/klein; Verb/Substantiv; belebt/unbelebt) gestellt und jeweils beantwortet.
Die Gruppen unterscheiden sich also nicht darin, was die Probanden sehen, wie lange sie es sehen und was sie dann tun (einen
von 2 Knöpfen drücken). Zum Abschluss des Experiments fragt man die Probanden danach,
an welche Wörter sie sich erinnern können (man spricht von „surprise-memory-recall
task“). In diesen Experimenten zeigte sich, dass die Gedächtnisleistung davon abhing,
was man zuvor mit den Wörtern geistig angefangen hatte: Je intensiver man über sie
nachdenken musste, desto mehr blieb hängen ([
Abb. 1
]).
Abb. 1 Schematische Darstellung des Einflusses der Verarbeitungstiefe auf die Leistung in
einem Gedächtnistest. Je tiefer Informationen verarbeitet werden, desto eher werden
sie im Gedächtnis gespeichert. In den damals gemachten Tests lagen die Werte für behaltene
Wörter etwa in der Größenordnung von 20, 40 und 60 % (nach Daten aus [8]).
Beim Unterricht in Präsenz kommt neben der Verarbeitungstiefe zusätzlich den Emotionen
beim Behalten des gelernten Materials eine große Rolle zu. Neugierde, Enttäuschung,
Frustration, Freude etc. sorgen für affektive Beteiligung, durch die Informationen
eine Bewertung erfahren. Das Ansprechen von Beispielen und Schildern von persönlichen
Erlebnissen, Unfällen oder Beinahe-Unfällen nach schwierigen Situationen verleiht
den zu lernenden Inhalten eine Unmittelbarkeit und Realität, die fesselt und zu nachhaltigen
Eindrücken führt. Auch diese gehen mit mehr und tieferer Verarbeitung einher, und
es gilt die für die Verarbeitungstiefe angesprochene Funktionalität von emotionaler
Beteiligung für das Behalten: Gelebtes soziales Miteinander ist immer von Emotionen
begleitet. Und diese wirken bekanntermaßen positiv auf das Behalten des Gelernten.
Umgekehrt sind beim Lernen auf Distanz weniger Emotionen im Spiel und stattdessen
findet mehr Ablenkung statt. Dadurch wird insgesamt weniger gelernt und das Gelernte
zudem auch weniger tief verankert. Eine geringere Aufmerksamkeit wurde mittels Methoden
der kognitiven Neurowissenschaft (elektrodermale Aktivität, Elektrookulografie, EKG
mit Herzfrequenz und Herzratenvariabilität) sowie mittels Fragebögen im direkten Vergleich
des Präsenzunterrichts mit digitalem Distanzunterricht an 35 Fahrschülern während
des theoretischen Unterrichts direkt gemessen [14]. Die Autoren fassen ihre Erkenntnisse wie folgt zusammen: „Die Analyse der neurophysiologischen
Indikatoren zeigt eine höhere kognitive Aktivität im Sinne von Aufmerksamkeit und
geistiger Anstrengung während des Präsenzunterrichts. Die Analyse der Hautleitfähigkeit
deutet auf mehr Stress bei den Schülern mit Distanzunterricht hin, insbesondere während
des ersten Teils der Unterrichtsstunde. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass
die Interaktion mit dem Lehrer weniger reibungslos verläuft. Andererseits scheint
der Präsenzunterricht bei den Schülern mehr Besonnenheit hervorzurufen. Schließlich
zeigte die Analyse der Fragebögen, dass die Schüler bei den Fragen zu den Themen,
die im Fernunterricht behandelt wurden, am schlechtesten abschnitten“ [14].
Die nachgewiesenen Funktionseinbußen können sich im Straßenverkehr, z. B. an einer
Kreuzung, wenn rasch entschieden werden muss, wer zuerst fahren darf, unmittelbar
auswirken. Der entstehende Stress behindert den reibungslosen Abruf des Gelernten,
wenn es weniger tief verarbeitet wurde. Beim Lernen am Rechner ist daher nicht nur
mit geringeren Leistungen beim Behalten zu rechnen, sondern auch mit geringerer Transferleistung
auf reale Situationen. Und bei gleichzeitig vorliegendem Stress kann es zu Problemen
beim Abruf kommen, weil der Zugriff auf weniger tief gelerntes Material weniger effizient
funktioniert.
Lernen von Sozialverhalten und Lernen durch Lehren
Lernen von Sozialverhalten und Lernen durch Lehren
Wenn es um „soziales Lernen“ geht, muss zunächst zwischen Form und Inhalt unterschieden
werden. Wenn der Lehrer dem Schüler erklärt, wie der Dreisatz funktioniert, der Schüler
Fragen stellt, die der Lehrer beantwortet (und umgekehrt), so erfolgt das Lernen von
Mathematik (Inhalt) im Dialog zwischen Schüler und Lehrer, d. h. in Form von sozialem
Austausch. Liest der Schüler dagegen das Hauptwerk von Adolph Freiherr Knigge aus
dem Jahr 1788, „Über den Umgang mit Menschen“, so lernt er Normen für Sozialverhalten
(Benimm-Regeln). Nicht die Form des Lernens ist hier sozial, sondern der Inhalt.
Die wenigsten Menschen lesen jedoch den sprichwörtlichen „Knigge“, sondern lernen
Sozialverhalten im sozialen Miteinander. Weil hier Form und Inhalt wechselwirken und
sich gegenseitig verstärken, bedarf es kaum eigens der Erwähnung oder gar der Rechtfertigung,
dass Sozialverhalten am besten im sozialen Kontext gelernt wird. Hier spielt nicht
nur das Lernen im Dialog, sondern vor allem das Lernen am Modell eine große Rolle, für das die persönliche Beziehung und Bindung zum Lehrer eine hohe
Bedeutung hat. „So wie der Fahrlehrer sich verhält, möchte ich mich auch verhalten
können, so cool bleiben in brenzligen Situationen, so zuvorkommend und verantwortungsvoll
gegenüber anderen Verkehrsteilnehmern“, muss jeder Fahrschüler denken können. Diese
Art der Identifizierung mit der Lehrkraft ist für das Erreichen des Ziels der Ausbildung
– die Sicherheit im Straßenverkehr für alle Teilnehmer – von größter Bedeutung.
Wie jeder Haustierbesitzer weiß, gibt es Lernen auch im Tierreich, also bei Hunden,
Vögeln oder Pferden. Nur beim Menschen jedoch gibt es Lernen durch Lehren als die effizienteste Form des Lernens. Wenn Lernen in Form von sozialem Miteinander
im Austausch von Lehrendem und Lernendem geschieht, funktioniert es mit weitem Abstand
am besten [9], [37].
Das Unterrichtsgespräch als wechselseitiges Fragen und Antworten im Dialog sowie das
Suchen und Finden einer Lösung in der Gruppe der Lernenden geht mit einer deutlich
höheren Verarbeitungstiefe einher als dies beim Lernen am Computer je möglich wäre.
Zudem fördern Diskussionen zwischen den Schülern selbst dann das Verständnis von Sachverhalten,
wenn kein einziger Schüler die richtige Antwort weiß, wie im Fachblatt Science publizierte Untersuchungen zeigen konnten: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Gruppendiskussionen
zum Verständnis schwieriger Konzepte beitragen können, selbst wenn niemand in der
Gruppe anfangs die richtige Antwort weiß. […] Diese Studie untermauert den erheblichen
Wert der Gruppendiskussion als wirksames Mittel des aktiven Lernens im Unterricht.
Unsere Ergebnisse stehen im Einklang mit früheren Erkenntnissen zum sozialen Lernen,
einschließlich des Wertes der Diskussion mit Gleichaltrigen“ [52].
Nur der Präsenzunterricht kann direkten Dialog, emotionale Eingebundenheit und mit
anderen Menschen geteilte Fokussierung der Aufmerksamkeit beim interaktiven Lernen
bieten. Positives Feedback im direkten persönlichen Gespräch zwischen Fahrschülern
und Fahrlehrer ist durch keinen Computer auf Distanz zu ersetzen. Nicht zuletzt aus
diesem Grund stören digitale Medien sogar nachweislich, wenn sie für den Erwerb von Wissen im Unterricht
eingesetzt werden.
Auswirkungen digitaler Medien auf Lernprozesse
Auswirkungen digitaler Medien auf Lernprozesse
Im Folgenden werden die Auswirkungen digitaler Medien auf Lernprozesse kurz anhand
einiger weniger besonders eindrücklicher Studien empirisch belegt ([
Tab. 1
]). Bereits vor 5 Jahren bringt eine im Wissenschaftsjournal Scientific American erschienene Arbeit den Sachverhalt schon im Titel auf den Punkt: „Schüler sind ohne Computer im Klassenzimmer besser dran“
[30]. Die Datenlage hierzu war bereits vor 10 Jahren deutlich [62] und hat sich zwischenzeitlich noch wesentlich verbessert. Schließlich wird im darauffolgenden
Abschnitt auf die – nochmals überdeutlichen – negativen Erfahrungen eingegangen, die
während der Schulschließungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie und dem stattdessen
erfolgten Distanzunterricht gemacht wurden.
Tab. 1
Ergebnisse großer empirischer Studien zu den Auswirkungen digitaler Informationstechnik
auf das Lernen von Schülern und Studenten
Quelle
|
Land
|
Wer
|
Ergebnis der Nutzung
|
Warschauer, Ames 2010 Studie One Laptop per Child
|
Peru
Uruguay
Argentinien
Ruanda
|
Grundschüler
500 000
500 000
60 000
100 000
|
kein Unterschied im Lernen; negativere Einstellung gegenüber Schule und Hausaufgaben;
viele Laptops kaputt; nur noch 20 % Nutzung nach 2 Jahren
|
Warschauer et al. 2012
|
USA, Birmingham, Alabama
|
15 000 Schüler der Klassen 4–5
|
Studie wurde abgebrochen, da Schüler mit Laptop schlechtere Leistungen hatten; nur
20 % der Schüler nutzten den Computer; nach 19 Monaten waren mehr als 50 % der Computer
kaputt
|
Vigdor et al. 2014
|
USA, North Carolina
|
> halbe Million Schüler der Klassen 5–8
|
Computer zuhause und Anschluss ans Internet vermindert die Schulleistungen; Vergrößerung
der Kluft zwischen Arm und Reich
|
Malamud, Pop-Eleches 2010
|
Rumänien
|
35 000 Gutscheine zum Kauf eines Laptops an sozial schwache Familien mit Schulkindern
|
Leistungen in Mathematik schlechter
|
Fairlie, London 2012
|
USA, Kalifornien
|
25-jährige Studenten
|
randomisierte kontrollierte Studie: geringgradig bessere Leistungen durch Computer
in mancher Hinsicht; Effekte sehr klein
|
Fairlie, Robinson 2013
|
USA, Kalifornien
|
1123 Schüler der Klassen 6–10, randomisierte experimentelle Studie
|
kein Effekt
|
Belo et al. 2010
|
Portugal
|
900 Schulen
|
Verschlechterung der Schulleistungen in Klasse 9; Vergrößerung der Kluft zwischen
Arm und Reich
|
Fuchs, Wössmann 2004
|
Deutschland
|
250 000 15-Jährige
|
Computer zuhause verschlechtert die Schulleistungen
|
Shapley et al. 2009
|
USA, Texas
|
10 828 Schüler (Laptop) und 2748 Schüler (kein Laptop) der Klassen 6–8
|
keine Unterschiede, Laptop-Klassen tendenziell schlechter bei Rechtschreibung, gute
Schüler in Laptop-Klassen tendenziell besser in Mathematik
|
Scharnagl et al. 2014
|
Deutschland
|
469 (Mathe-Software) 395 (Kontrolle) Schüler der 6. Klasse
|
bessere Leistungen in Mathematik bei den Nutzern der Software; Effekt vor allem bei
den für Mathematik begabten Schülern; kein Effekt bei den schwachen Schülern
|
Spiel, Popper 2003
|
Österreich
|
490 Schüler der Klassen 4–7; 20 Notebook- und 5 Vergleichsklassen
|
keine Unterschiede
|
OECD 2015
|
34 OECD- und 30 assoziierte Länder
|
15-Jährige (einige Hunderttausend Schüler)
|
negativer Zusammenhang zwischen den Investitionen in Digitalisierung der Schulen und
den Leistungen der Schüler
|
Schaumburg et al. 2007
|
Deutschland „1000 × 1000 Notebooks“
|
901 (mit Notebook) bzw. 438 (ohne) Schüler der Klassen 7–9
|
keine besseren Leistungen durch Notebooks. Schüler tendenziell unaufmerksamer; keine
Unterschiede im Informationskompetenz-Test
|
Gottwald, Vallendor 2010
|
Deutschland Hamburger
|
510 Schüler der Jahrgangsstufen 6–12
|
kein Beleg für bessere Leistungen durch Notebooks; keine Verbesserung im Umgang mit
Computer und Internet
|
Carter et al. 2017
|
Militärakademie Westpoint, USA
|
726 College-Anfänger (Alter 20 Jahre)
|
randomisierte Studie; Tablets und Laptops vermindern das Lernen um 20 % einer Standardabweichung
|
Lavizza et al. 2017
|
USA, Michigan
|
84 Schüler
|
Computer schaden dem Lernen
|
Beland, Murphy 2016
|
London
|
90 Schulen, > 130 000 Schüler
|
Mobiltelefon-Verbot verbessert die Noten
|
Patterson, Patterson 2017
|
USA
|
5571 Studenten (Alter 24 Jahre)
|
deutlich schlechtere Leistungen beim Lernen am Computer
|
Beim Unterricht mit Laptop und Internet – so eine US-amerikanische Untersuchung –
wird im Durchschnitt ein volles Drittel der Unterrichtszeit mit Social Media (Facebook),
Einkaufen, Chatten, Sportnachrichten, Videos und Computerspielen verbracht. Je mehr
die Schüler dies tun, desto schlechter fallen am Ende des Schuljahrs ihre Noten aus
[42]. Zwischen der am Computer mit den Unterrichtsinhalten verbrachten Zeit und dem Lernerfolg
gab es dagegen keinen Zusammenhang. Die Ergebnisse sagen also klar aus, dass Computer
den Unterricht stören, weil sie ablenken und dass Computer selbst dann, wenn sie tatsächlich
beim Lernen verwendet werden, dieses nicht verbessern. Bereits zuvor zeigte eine weitere
Studie an 774 Jugendlichen und jungen Erwachsenen, dass bei der Nutzung von Computern
während des Unterrichts sehr oft zusätzliche Tätigkeiten ausgeführt werden, die das
Lernen beeinträchtigen, weil sie ablenken ([
Tab. 2
]).
Tab. 2
Tätigkeiten, die oft oder sehr oft während des Unterrichts ausgeführt werden (774
untersuchte Jugendliche und junge Erwachsene) (nach Daten aus [63]).
Zusätzliche Tätigkeiten während des Unterrichts
|
n
|
%
|
Facebook
|
191
|
24,7
|
SMS
|
392
|
50,6
|
Chatten
|
102
|
13,2
|
E-Mail
|
116
|
15,0
|
Musik hören
|
51
|
6,5
|
Aufgaben für andere Lehrveranstaltungen bearbeiten
|
136
|
17,6
|
Telefonieren
|
25
|
3,2
|
Essen
|
202
|
26,1
|
Trinken
|
440
|
56,8
|
Die Analyse von Daten der PISA-Studie, bei der 15-jährige Schüler aus mehr als 50
Ländern über 10 Jahrgänge hinweg untersucht werden, zeigte einen sehr deutlichen negativen
Zusammenhang zwischen Investitionen in die Digitalisierung von Schulen und den Veränderungen
der Schulleistungen der Schüler: Je mehr ein Land (pro Kopf Schüler) in die Digitalisierung
der Schulen investiert hatte, desto schlechter wurden die Leistungen der Schüler im
Beobachtungszeitraum ([
Abb. 2
]).
Abb. 2 Veränderung der Leistungen von 15-Jährigen im Fach Mathematik zwischen 2003 und 2012
in Abhängigkeit von Investitionen in Computer und digitalisierten Unterricht in unterschiedlichen
Ländern der OECD (schwarze Punkte) und weiteren Ländern, die nicht der OECD angehören
(graue Punkte) (nach Daten aus [30]). Die Korrelation ist mit –0,52 negativ, d. h. je mehr ein Land in die Digitalisierung
der Schulen (berechnet pro Schüler) im Beobachtungszeitraum investiert hatte, desto
deutlicher nahmen die Leistungen der Schüler in Mathematik ab.
War Finnland zu Beginn der PISA-Erhebungen als (von vielen Ländern beneideter) Sieger
hervorgegangen, so liegt das Land, das relativ früh viel Geld in die Digitalisierung
von Schulen steckte, mittlerweile im Mittelfeld. Australien investierte erst im Jahr
2008 2,4 Milliarden australische Dollar in Computer und WLAN an Schulen, wonach die
Leistungen der Schüler deutlich abnahmen. Im Jahr 2016 wurden dann nach einem Besuch
des Leiters der PISA-Studien, der die Daten für Australien vorstellte, die Computer
in den Klassenräumen wieder abgeschafft.
Studien an Oberstufenschülern zeigten: Verschenkt man iPhones [55] oder lässt man Schüler ihr Smartphone in den Unterricht mitbringen [25], nimmt das Lernen an Schulen ab, verbietet man sie, nimmt das Lernen zu, wie eine
große Studie an über 130 000 Schülern an 90 Schulen im Großraum London nachweisen
konnte [1].
An der bekannten US-Militär-Akademie in West Point (im Staat New York) wurden die
Auswirkungen der Digitalisierung des Unterrichts an den dortigen hochmotivierten Elite-Studenten
methodisch aufwändig erforscht, d. h. im Rahmen einer kontrollierten randomisierten
Studie an 726 Studenten (Durchschnittsalter 20 Jahre, 17 % weiblich). Das Ergebnis
war eindeutig: In den Klassen ohne Computer wurde signifikant mehr gelernt als in
den Klassen mit digitaler Technik [7]. Diese Studie zeigt deutlich, dass der ungünstige Effekt digitaler Medien auf das
Lernen auch bei hoher Motivation der Lernenden zu beobachten ist. Da man davon ausgehen
kann, dass die Motivation von Fahrschülern – wie bei den Studenten in West Point –
erstens intrinsisch und zweitens hoch ist, gelten die beschriebenen negativen Effekte
keineswegs nur für gelangweilte frustrierte Schüler, sondern auch für etwas ältere
hoch motivierte Studenten. Und das wiederum bedeutet, dass diese Studie auch für die
Fahrschüler an Fahrschulen bedeutsam ist.
Eine Studie an 5571 Studenten (55 % weiblich; im Mittel 24 Jahre alt, also noch etwas
älter als die Studenten in West Point) zeigte ebenfalls einen deutlichen negativen
Effekt von Laptops auf die Leistungen [38]. Diese Studie wird deswegen hier eigens erwähnt, weil sie zeigt, dass die negativen
Auswirkungen digitaler Informationstechnik auf das Lernen keineswegs auf Schüler beschränkt
sind.
Die gemeinnützige Initiative One Laptop per Child (OLPC) wurde zunächst weltweit sehr enthusiastisch aufgenommen und als Meilenstein auf dem
Weg zu globaler Bildung vor allem in den armen Ländern betrachtet. Mehr als 2 Millionen
kleiner kostengünstiger Laptops (man bezeichnete sie als „100-Dollar-Laptops“, obgleich
sie zunächst fast das Doppelte kosteten) wurden an Schulen vor allem in Südamerika
verbreitet, allein in Peru und Uruguay jeweils etwa eine halbe Million. Geringere
Stückzahlen gingen an das afrikanische Ruanda (100 000) Argentinien (60 000) sowie
Mexiko, die Mongolei, Nepal, Nicaragua, Paraguay und Venezuela. Die Ergebnisse waren
niederschmetternd: Schulkinder mit Laptop schnitten in vergleichenden Prüfungen nicht
besser ab als Schüler ohne Laptop. Sie erledigten zudem ihre Hausaufgaben weniger
gern und vertrieben sich lieber mit Computerspielen oder Pornografie am Rechner die
Zeit. Viele der Laptops waren nach kurzer Zeit kaputt, und nur wenige Schüler benutzten
den Rechner nach 2 Jahren noch [60].
Werden digitale Medien zur Informationsaufnahme eingesetzt, haben sie einen dämpfenden
Effekt auf die Behaltensleistung, denn sie verführen zur Oberflächlichkeit. Daher
behalten Kinder bei einem Museumsbesuch auch weniger von dem was sie gesehen haben,
wenn sie mit einer Kamera (bzw. einem Smartphone) durch das Museum laufen, als wenn
sie einfach nur die Dinge anschauen.
Elektronische Lehrbücher vermindern den Lernerfolg im Vergleich zu gedruckten Büchern
[64]. Sogar Studenten in Silicon Valley lesen zu 85 % lieber gedruckte Bücher, und sie
begründen dies damit, dass sie sich dann die Inhalte besser merken können“. Eine Metaanalyse
zum Textverständnis beim Lesen von Büchern im Vergleich zum Lesen von Bildschirmen
ergab einen klaren Vorteil für Bücher [65].
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass digitale Medien das Lernen nicht verbessern,
sondern entweder keinen Einfluss oder einen negativen Einfluss auf das Lernen haben.
Die Mechanismen reichen dabei von zeitlicher Verdrängung (des funktionierenden Präsenzunterrichts)
über Ablenkung (vom Unterricht) bis hin zu negativen Einflüssen auf wesentliche Faktoren
von Lernen wie Aufmerksamkeit, Emotionalität und Verarbeitungstiefe.
Erfahrungen mit digitalem Distanzunterricht während der Corona-Pandemie
Erfahrungen mit digitalem Distanzunterricht während der Corona-Pandemie
Die genannten Studien stammen aus der Zeit vor der Corona-Pandemie, wo vor allem der
zusätzliche Einsatz digitaler Medien neben dem Präsenzunterricht untersucht wurde. Bereits hierbei zeigte
sich die oft behauptete Verbesserung von Lernprozessen nicht. So wundert es nicht,
dass der Ersatz von Präsenzunterricht durch digitalen Distanzunterricht, wie er im Rahmen der Schulschließungen
während der Corona-Pandemie erfolgte, mit einer noch weitaus größeren Beeinträchtigung
des Lernens einherging, wie mittlerweile eine Reihe von Studien zeigen.
Im April 2020 waren von den Schulschließungen während der anhaltenden Corona-Pandemie
1,6 Milliarden Schüler in 190 Ländern betroffen [56]. Die Zeit der Schließung variierte von 4 Wochen in Turkmenistan und 6 Wochen in
der Schweiz über 12 Wochen in Frankreich, 27 Wochen in China und Großbritannien, 51
Wochen in Kanada und 71 Wochen in den USA bis zu 82 Wochen in Bolivien und Indien
sowie 83 Wochen in Uganda [57]. Man kann dies als eines der größten unfreiwilligen Experimente zu den Auswirkungen
des Ausfalls von Schule verstehen und entsprechend auswerten. Obwohl noch Jahre der
sozialwissenschaftlichen Erforschung nötig sein werden, um das ganze Ausmaß der Auswirkungen
festzustellen, gibt es hierzu bereits Zahlen, die man durchaus als ernüchternd bzw.
alarmierend bezeichnen kann.
Der Bildungsökonom Ludger Wößmann, Leiter des ifo-Zentrums für Bildungsökonomik an
der Ludwig-Maximilians-Universität in München, beziffert die ökonomischen Auswirkungen
der Schulschließungen in Deutschland bis zum Jahr 2100 (so lange leben Erstklässler
heute etwa) hochgerechnet auf 3300 Milliarden Euro. Ein Ende 2021 publizierter Bericht
von Weltbank, UNESCO und UNICEF schätzt die Kosten weltweit auf 17 000 Milliarden
US$. Dass dies nicht an fehlenden Computern oder mangelnder Erfahrung mit deren Anwendung liegt, zeigt
eine holländische Studie an 350 000 Schülern [11]. Man hat bewusst Daten aus Holland ausgewertet, weil in diesem Land seit Jahren
Erfahrungen mit Computern im Unterricht gemacht wurden, es nicht an der nötigen Hardware
und Software fehlt und damit die Voraussetzungen für digitalen Distanzunterricht nicht
besser sein könnten. Das Argument, man habe keine Erfahrungen mit Computern und zu
wenig Geräte, trifft auf Holland also nicht zu. Dennoch wurde dort im Distanzunterricht
während der Schulschließungen fast gar nichts gelernt.
Dies deckt sich mit einer Reihe von Studien zu den negativen Auswirkungen der Corona-bedingten
Schulschließungen auf das Lernen aus den verschiedensten Ländern wie Australien [6], Deutschland [59], Indien [39] oder Norwegen [10]. Halten wir daher fest: Dass die Behaltensleistung beim Erwerb von Wissen durch
Präsenzunterricht wesentlich höher ist als durch digitalen Distanzunterricht, wurde
im Rahmen der Corona-Pandemie besonders deutlich.
Die Gründe hierfür wurden in den vorangegangenen Abschnitten ausführlich diskutiert.
An dieser Stelle sei zusätzlich erwähnt, dass die Praxis des Distanzunterrichts während
der Schulschließungen auch manche Mängel stärker haben hervortreten lassen. So ist
es zwar im Prinzip möglich, dass Schüler im Distanzunterricht auch untereinander kommunizieren,
in der Praxis kommt dies jedoch kaum vor. Dies haben die vielen mittlerweile zum Distanzunterricht
während der Corona-Krise publizierten Erfahrungen gezeigt. Nach meinen eigenen Erfahrungen
(und denen meiner Kollegen) haben selbst hoch motivierte Medizinstudenten in der Mehrzahl
sowohl ihre Kamera als auch ihr Mikrofon ausgeschaltet. Sie kommunizieren damit weder
mit dem Lehrenden noch untereinander. Digitaler Distanzunterricht erlaubt bzw. ermöglicht
nicht nur eine solche vermehrte „innere“ und „äußere“ Distanzierung vom Lehr- und
Lerngeschehen, sondern legt sie gewissermaßen nahe. Passivität gehört zum Aufforderungscharakter
virtueller Klassenräume – das ist ein Faktum, das leider zu den Erfahrungen mit digitaler
Informationstechnik beim Lernen gehört.
Soziale Teilhabe
Neben den bisher diskutierten Gesichtspunkten zu Formen des Lernens, Fragen des gelingenden
Lernens und den Auswirkungen digitaler Informationstechnik auf das Lernen, wird in
diesem Abschnitt ein gänzlich anderer Gesichtspunkt behandelt, nämlich die Auswirkungen
des Ersatzes von Präsenzunterricht durch digitalen Distanzunterricht auf die Chancen
sozioökonomisch schwächerer bzw. weniger gebildeter Personen zur Teilhabe am gesellschaftlichen
Miteinander. Schon lange zeigte sich in entsprechenden Studien an Schülern, dass digitale
Informationstechnik vor allem das Lernen schwächerer Schüler, die oft aus sozial oder
wirtschaftlich benachteiligten Familien kommen, beeinträchtigt.
Auch dieser Befund wurde im Rahmen der Schulschließungen aufgrund der Corona-Pandemie
nochmals besonders deutlich: Die Kluft zwischen den stärkeren und den schwächeren
Schülern wurde größer, wie nahezu alle Studien hierzu explizit feststellen und kritisch
anmahnen. Je stärker ein Schüler ist, desto besser sind seine Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit
– auch und gerade beim Lernen am Computer. Zudem werden starke Schüler weniger von
digitalen Medien abgelenkt, was ebenfalls zur Folge hat, dass umgekehrt Schüler aus
bildungsfernen Schichten bzw. Familien mit geringem sozioökonomischem Status durch
den Gebrauch digitaler Informationstechnik beim Lernen beeinträchtigt sind.
Es ist also nicht so, wie oft behauptet wird, dass der Einsatz digitaler Informationstechnik
dazu führe, mehr Bildungsgerechtigkeit (Ziel der „Bildung für alle“) zu erreichen.
Insbesondere für Deutschland wurde in der Vergangenheit immer wieder festgestellt,
dass Arbeiterkinder nicht aufs Gymnasium gehen und Akademikerkinder die Universitäten
bevölkern. Alle sind sich einig, dass diese Abhängigkeit der Bildung eines Menschen
vom sozialen Status seiner Herkunftsfamilie gleichbedeutend damit ist, dass hierzulande
Bildungschancen nicht gleich verteilt sind. Dass durch den Einsatz digitaler Informationstechnik
dieses Problem behoben werden könne, ist jedoch ideologisches Wunschdenken und entbehrt
jeglicher empirischer Grundlage. Das genaue Gegenteil ist vielmehr der Fall.
Ein besonders eindrückliches Beispiel hierfür findet sich in der erwähnte Londoner
Studie von Beland und Murphy [1] aus dem Jahr 2016 zu den Auswirkungen des Verbots von Mobiltelefonen an 90 Schulen.
Die Daten wurden unter anderem auch danach ausgewertet, wie groß der Effekt (die Schüler
wurden besser) in Abhängigkeit von den Noten der Schüler ausfiel. Man teilte hierzu
alle Schüler nach ihrem Jahresabschlusszeugnis vor dem Mobiltelefonverbot in 5 Gruppen
ein: Das schwächste Fünftel, das zweitschwächste etc. bis hin zu den besten 20 % der
Schüler. Wie in Abb. 3 zu sehen, profitierten die schwächsten 20 % der Schüler vom Verbot des Mobiltelefons
am meisten, die besten 20 % hingegen gar nicht.
Abb. 3 Verbesserung der Schülerleistungen nach dem Verbot von Mobiltelefonen an der Schule
in Abhängigkeit von der Leistungsfähigkeit der Schüler (nach Daten aus [1]). Alle Schüler wurden (nach der Durchschnittsnote in ihrem Jahresabschlusszeugnis)
in 5 Untergruppen aufgeteilt: Die 20 % schwächsten Schüler (Gruppe 1), die nächsten
20 % schwachen Schüler (Gruppe 2), die mittleren 20 % der Schüler (Gruppe 3), die
guten 20 % (Gruppe 4) und besten 20 % (Gruppe 5). Wie die Abbildung zeigt, profitierten
die schwächsten Schüler am meisten vom Verbot, die besten gar nicht. Das zeigt umgekehrt,
dass man den schwächsten Schülern mit dem Erlauben von Smartphones an Schulen oder
gar im Unterricht am meisten schadet.
Zwar nimmt die Anzahl junger Menschen, die in Deutschland einen Führerschein besitzen,
seit Jahren kontinuierlich ab, aber diese Entwicklung ist vor allem der Demografie
geschuldet: Es gibt ganz einfach weniger junge Menschen. Hatten im Jahr 2010 noch
knapp 5 Millionen Menschen zwischen 17 und 24 Jahren einen Führerschein, so waren
es im Jahr 2019 nur noch rund 4,4 Millionen. Der prozentuale Anteil der jungen Menschen, die einen Führerschein haben, sank dagegen nur geringfügig
von 85,8 % der 18- bis 24-Jährigen im Jahr 2010 auf 79,2 % im Jahr 2018. Trotz dieser
leicht abnehmenden Tendenz ist damit der Führerschein nach wie vor die Eintrittskarte in die Welt der Erwachsenen. Vor allem in ländlichen Räumen ist oft
die individuelle Mobilität für die Teilnahme am sozialen Leben unverzichtbar. Junge
Menschen, die sich noch ihren Freundeskreis aufbauen, Beziehungen knüpfen und damit
ihren Platz in der Gesellschaft finden müssen, brauchen den Führerschein.
Es ist daher ein gesamtgesellschaftlich bedeutsames soziales Ziel, allen diese Chance zur sozialen Teilhabe zu ermöglichen. Dieses Ziel wäre durch den Ersatz
der bisherigen Praxis des Präsenzunterrichts durch digitalen Distanzunterricht in
Gefahr. Fahrschüler aus sozial benachteiligten Randgruppen der Gesellschaft hätten
eine geringere Chance, die Fahrerlaubnis zu erwerben.
Zur Ökonomie des digitalen Distanzunterrichts für den Erwerb der Fahrerlaubnis
Zur Ökonomie des digitalen Distanzunterrichts für den Erwerb der Fahrerlaubnis
Die negativen Auswirkungen des Ersatzes des Präsenzunterrichts durch digitalen Distanzunterricht
könnten dadurch vermindert werden, dass die für den Erwerb des Führerscheins nötigen
Lernprozesse in die praktischen Fahrstunden integriert werden. Dadurch würde deren
Anzahl deutlich ansteigen, was wiederum die Kosten für den Erwerb der Fahrerlaubnis
signifikant in die Höhe treiben würde. Auch in ökonomischer Hinsicht träfe die Maßnahme
Menschen aus soziökonomisch benachteiligten Gruppen besonders hart.
Der Gedanke, man könne durch Digitalisierung Kosten einsparen, indem man den Präsenzunterricht
durch vermeintlich kostengünstigeren digitalen Distanzunterricht ersetzt, wird in
der Realität nicht abgebildet. Vielmehr würden dadurch zusätzliche Kosten entstehen,
die wiederum sozial benachteiligte Menschen besonders hart träfen.
Nicht nur die Anzahl junger Menschen in Deutschland, sondern auch deren Bereitschaft,
möglichst frühzeitig einen Pkw-Führerschein zu erwerben, nehmen ab. Dies wirkt sich
insofern negativ auf die Branche aus, als die Anzahl der Fahrschulen seit Jahren zurückgeht:
gab es im Jahr 2009 noch 13 262 Unternehmen, so waren es im Jahr 2015 nur noch 11
407 und im Jahr 2020 noch 10 273 [33], [34]. Die Anzahl kleiner Fahrschulen nimmt ab, oft schließen sie sich zu größeren Einheiten
zusammen. Der Branchenumsatz verringerte sich zuletzt jedoch vor allem wegen der Coronavirus-Pandemie.
Er belief sich für 2021 auf etwa 2,3 Milliarden Euro [24]. Insgesamt findet damit in einem schwierigen Markt eine Konzentration statt, die
Monopole verursachen und damit ungünstige Auswirkungen auf die Marktmacht der Kunden
haben dürften. Dieser Trend würde durch eine Teildigitalisierung des Angebots verstärkt.
Verkehrssicherheit
Die Qualität des Theorieunterrichts als Teil der gesamten Ausbildung für den Erwerb
der Fahrerlaubnis würde beim Ersatz des Präsenzunterrichts durch digitalen Distanzunterricht
leiden. Erst der Nachweis, dass digitaler Distanzunterricht dem Präsenzunterricht
im Hinblick auf das Resultat (wieviel wurde tatsächlich gelernt?) überlegen ist, würde
dieses Argument entkräften. Solange dieser Nachweis nicht erfolgt ist, ist davon auszugehen,
dass eine Änderung der Lehrmethode gleichbedeutend damit ist, dass weniger gelernt
würde. Diese Standards gelten in der Medizin seit Jahrzehnten mit gutem Grund, denn
schließlich geht es hier um Leben und Tod.
Dies gilt auch für den Straßenverkehr. Eine deutliche Verminderung erstens der Nachhaltigkeit
des Erlernten und zweitens der Vermittlung vor allem sozialer Kompetenzen für das
Verhalten im Straßenverkehr würde mittelfristig die Sicherheit im Straßenverkehr gefährden.
Angesichts der Tatsache, dass die Anzahl der jährlich im Straßenverkehr zu Tode kommenden
Menschen seit Beginn der diesbezüglichen Aufzeichnungen abnimmt ([
Abb. 4
]) und im letzten Jahr einen erneuten Tiefststand erreicht hat, sollte das Risiko
einer Trendumkehr keineswegs eingegangen werden.
Abb. 4 Anzahl der Getöteten bei Straßenverkehrsunfällen in Deutschland von 1950 bis 2021
(nach Daten aus [53]).
Auch dieses Argument gilt in besonderem Maße für alle Menschen, die beim Lernen vergleichsweise
mehr Probleme haben, also für die ökonomisch und sozial bzw. kognitiv herausgeforderte
Gruppe der Bevölkerung. Eine Reform, die die Sicherheit aller gefährdet und die Sicherheit
einer benachteiligten Randgruppe besonders gefährdet, kann unserer Gesellschaft nur
schaden.
Zusammenfassung und Diskussion: Gefährdung der Verkehrssicherheit
Zusammenfassung und Diskussion: Gefährdung der Verkehrssicherheit
Die Qualität und damit die Effektivität des Theorieunterrichts als Teil der gesamten
Ausbildung für den Erwerb der Fahrerlaubnis würde beim Ersatz des Präsenzunterrichts
durch digitalen Distanzunterricht deutlich abnehmen. Die für Lernen und insbesondere
soziales Lernen so wichtigen Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern würden deutlich
reduziert und die ebenso wichtigen Interaktionen der Schüler untereinander würden
gänzlich entfallen. Damit würde eine deutliche Verminderung erstens der Nachhaltigkeit
des Erlernten und zweitens der Vermittlung vor allem sozialer Kompetenzen für das
Verhalten im Straßenverkehr einhergehen. Beides würde mittelfristig die Sicherheit
im Straßenverkehr gefährden. Angesichts der Tatsache, dass die Anzahl der jährlich
im Straßenverkehr zu Tode kommenden Menschen seit Beginn der diesbezüglichen Aufzeichnungen
abnimmt und im letzten Jahr einen erneuten Tiefststand erreicht hat, sollte das Risiko
einer Trendumkehr keineswegs eingegangen werden.
In jeden Fall wäre dieser Schritt gleichbedeutend mit einer Verminderung der Möglichkeiten
sozial, ökonomisch oder im Hinblick auf ihre Bildung benachteiligter Menschen, am
gesellschaftlichen Leben. Eine reduzierte Teilhabe darf nicht als Resultat von Reformen
in Kauf genommen werden, ebenso wenig wie höhere Kosten, die wiederum vor allem sozioökonomisch
benachteiligte Menschen am stärksten treffen würden. Aus den genannten Gründen
-
geringere Unterrichtsqualität und -nachhaltigkeit,
-
weniger sozialer Kompetenzerwerb und in der Folge,
-
geringere soziale Teilhabe sozial benachteiligter Personen sowie
-
höhere Kosten (die wiederum genau diese soziale Gruppe am stärksten treffen würden)
und
-
langfristig ein größeres Risiko für Gefahren im Straßenverkehr
sollte der Präsenzunterricht aus der Perspektive von Neurowissenschaft, Psychologie
und empirischer Sozialforschung an Fahrschulen beibehalten werden. Positive Effekte
sind nicht zu erwarten. Die bekannten Nebenwirkungen von digitalem Distanzunterricht
und die zu erwartenden Risiken für den einzelnen Fahrschüler und die Gemeinschaft
der Verkehrsteilnehmer sind dagegen erheblich. Die negativen Auswirkungen auf die
Teilhabe soziökonomisch benachteiligter Menschen am sozialen Miteinander wären aus
der Sicht des Autors die mit Abstand schwerwiegendste Auswirkung des Ersatzes von
Präsenzunterricht durch digitalen Distanzunterricht bei der theoretischen Ausbildung
zur Erlangung der Fahrerlaubnis.