Gesundheitswesen 2022; 84(06): 488
DOI: 10.1055/a-1818-1666
Buchrezension

Gelungene Einführung in das Konzept der strukturellen Kompetenz

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In der nun erstmals auf Deutsch erschienenen Ethnographie „Frische Früchte, kaputte Körper“ setzt sich der Arzt und Anthropologe Seth Holmes mit der Gesundheit und medizinischen Versorgung von Wanderarbeiter*innen in den USA auseinander. Das Buch beruht auf einer 18-monatigen Feldforschung, in welcher der Autor eine Gruppe von Wanderarbeiter*innen begleitet: Er überquert mit ihnen die Grenze von Mexiko in die USA, wird vom Grenzschutz inhaftiert, und lebt und arbeitet später mit ihnen auf Obstplantagen und (zwischen den Erntesaisons) auf der Straße. In der Darstellung der ethnographischen Arbeit gelingt es Holmes in beeindruckender Weise, Beschreibungen seiner eigenen Erlebnisse während der Feldforschung mit sozialwissenschaftlichen Analysen der Situation von Wanderarbeiter*innen zu verknüpfen. Vor dem Hintergrund der dabei gewonnenen Erkenntnisse formuliert Holmes eine weitreichende Kritik an biomedizinischer Theorie und Praxis und zeigt Wege auf, die dabei identifizierten Defizite zu beheben.

Das Buch umfasst sieben Kapitel. Das erste, einleitende Kapitel zeichnet in seiner plastischen Schilderung der Grenzüberquerung in die USA den von Vulnerabilität und Ausgrenzung geprägten Alltag der Wanderarbeiter*innen. Das zweite Kapitel tritt kurz aus der Chronologie der Feldforschung aus und thematisiert den epistemologischen Zugang des Autors und seinen Anspruch an eine Anthropologie, die die Verkörperung gesellschaftlicher Strukturen zu fassen versucht.

Das dritte Kapitel greift dann den Erzählstrang des ersten Kapitels wieder auf und schildert die Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter*innen. Er zeigt, dass die Arbeit auf Obstplantagen entlang einer nach ethnischer Zugehörigkeit, Muttersprache und Aufenthaltsstatus gegliederten Hierarchie strukturiert ist, in der indigene Arbeiter*innen ohne Aufenthaltserlaubnis die gefährlichsten und gesundheitsschädigendsten Arbeiten ausführen, die geringsten Aufstiegschancen haben, dabei aber den unsichersten und niedrigsten Lohn bekommen.

Die schwere körperliche Arbeit, verbunden mit der Exposition gegenüber Pestiziden, führt vorhersehbar zu gesundheitlichen Problemen, denen das vierte Kapitel gewidmet ist. In drei Patientengeschichten schildert Holmes die Erkrankungen seiner Gefährt*innen und die ihnen zugängliche medizinische Versorgung und zeigt eindrücklich, wie diese versagt, eine der Lebenswelt der Patient*innen angemessene Behandlung zu gewährleisten. Hierbei wird deutlich, dass das sichtbar werdende Versagen nur zum Teil an den einzelnen Ärzt*innen und ihren persönlichen Unzulänglichkeiten liegt, maßgeblich aber strukturelle Ursachen hat.

Diesen widmet sich das fünfte Kapitel. Hierbei nutzt Holmes die Geschichten aus dem vorherigen Kapitel, um zu analysieren, wie sich der auf biologische Vorgänge und individuelles Verhalten konzentrierte Fokus der Biomedizin praktisch auf die Versorgung der Wanderarbeiter*innen auswirkt. In seinen Analysen der Krankheitsverläufe greift er dabei auf sozialwissenschaftliche Konzepte zurück, die er anhand des empirischen Materials illustriert und damit auch für sozialwissenschaftliche Laien nachvollziehbar entwickelt. Im Zuge dessen erarbeitet er das zentrale Argument des Buches, dass die Biomedizin durch ihren zu engen Fokus auf biologische (und in geringerem Maße psychologische) Prozesse den Blick für die gesellschaftliche Bedingtheit von Gesundheit und Krankheit verliert, mit der Folge, dass diese „kontextlose Medizin“ Patient*innen schlecht versorgt.

Die Ausführungen im sechsten und siebten Kapitel zielen dann darauf ab, sozialwissenschaftliche Konzepte vorzustellen, deren Rezeption der Ärzteschaft helfen kann, den engen Fokus der Biomedizin zu weiten, die Versorgung durch die Stärkung der strukturellen Kompetenz der Ärzteschaft zu verbessern und die gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit nicht nur ernst zu nehmen, sondern auch analytisch zu durchdringen.

Fazit

In diesem Buch gelingt es Holmes in beeindruckender Weise, die Probleme der Biomedizin nicht nur ethnographisch zu analysieren, sondern er bietet auch gleich Instrumente zum Umgang mit den identifizierten Problemen. Damit stellt er uns ein Buch zur Verfügung, dass allen Akteur*innen des Gesundheitssystems zu empfehlen ist, die ihre strukturelle Kompetenz verbessern und sozialmedizinisches Wissen erwerben möchten. Darüber hinaus halte ich dieses Buch für ausgesprochen geeignet zum Einsatz in der Lehre, da es leicht verständlich und lebendig nachfühlbar Sozialmedizin erlernbar macht.

Amand Führer, Halle



Publication History

Article published online:
08 June 2022

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