Nervenheilkunde 2022; 41(07/08): 517-518
DOI: 10.1055/a-1772-0178
Leserbrief
Diskussion

Die Austreibung von Dämonen im Neuen Testament – ein Modell für religiös-psychotherapeutische Techniken bei der Behandlung psychotischer Störungen?

Otmar Seidl
,
G. Juckel
,
F. G. Pajonk
,
P. Mavrogiorgou

Jukel G, Pajonk FG, Mavrogiorgou P. Die Behandlung von psychotischen Störungen im Neuen Testament. Nervenheilkunde 2022; 41: 143–150

Die Autoren des Artikels weisen auf die Bedeutung der im Neuen Testament beschriebenen „Wunderheilungen“ für die Psychiatrie hin. Aus der Beschreibung von Fällen mit Besessenheit, die dem schizophrenen Formenkreis zugerechnet werden, arbeiten sie einige heute noch gültige therapeutische Elemente heraus. Davon ausgehend fragen sie, ob „religiös-geistliche Praktiken“ bei der Behandlung von Psychosen mehr Beachtung finden sollten.

Obwohl der historische Jesus weitgehend unbekannt ist [1], werden die biblischen Texte wie realistische Berichte gelesen, in denen psychotische Zustände als Inbesitznahme durch Dämonen (geistige Wesen, die aber nur in diesem Zusammenhang in der Bibel vorkommen) geschildert werden. Woher und warum die Dämonen kommen und was mit ihnen geschieht (Ertrinken?) erfährt man nicht. Sollten diese Berichte nur als Metapher für die Befreiung von den römischen Besatzern und die Macht des Gottessohnes [2] gelesen werden?

Wie auch immer man diese Exorzismusberichte verstehen mag, sie alle lassen die Personen der Besessenen völlig außer Acht und betrachten sie nur als ein Territorium für fremde Dämonen. Ein solches Krankheitsverständnis eignet sich allerdings nicht als Modell für einen spirituellen, religiösen oder psychotherapeutischen Ansatz in der Psychiatrie, der heute auch die prämorbide Persönlichkeit, die Lebensgeschichte und das individuelle Zusammenspiel von biologischen Dispositionen und psychodynamischen Kofaktoren berücksichtigt [3].

Als mächtiger Wirkfaktor bei der Dämonenaustreibung, der Heilung körperlicher Gebrechen und Erweckung von Toten erweist sich in der Bibel das imperativ-suggestive Wort mit Verweis auf den heilsamen Glauben an den Gottessohn. Nimmt man diesen Wortbezug als spirituellen Faktor ernst, dann ist es im Sinne der Autoren durchaus sinnvoll, Spiritualität und Religiosität bei der Behandlung von Psychosen mehr zu berücksichtigen.

Versteht man Spiritualität als persönliches Sinn- und Hoffnungskonstrukt, welches das Alltagsleben transzendiert und einen Bezug zu übernatürlichen Kräften herstellt, erscheint allerdings die Nähe zu psychotischen und apophänen Vorstellungen problematisch. Nicht wenigen Psychiatern könnten klinisch-spirituelles Denken und religiösgläubige Vorstellungen im dissoziativen Kontinuum des Alltags [4] allzu psychosenah erscheinen. Außerdem zeigen Studien, dass sich Patienten, die nicht schon vorher gläubig oder spirituell orientiert waren, im Falle einer Erkrankung wenig davon angesprochen fühlen [5].

Die Berücksichtigung von Spiritualität ist in der Psychiatrie bei schon von vorher spirituell und gläubig orientierten Patienten durchaus sinnvoll, wenn nicht gar notwendig. So hatte beispielsweise eine in einem kachektischen Zustand stationär-psychiatrisch aufgenommene Ordensschwester die Vorstellung, durch Nahrung innerlich zu versalzen. Ein Zugang zur Patientin eröffnete sich erst durch die Bereitschaft, mit der spirituell-religiösen Innenwelt der Patientin im Sinne der „dialogischen Positionierung“ nach Benedetti [6] zu kommunizieren. Die Patientin hatte sich in ihrem als „sündig“ empfundenen Wunsch, sich ihrem früheren Leben wieder zuzuwenden und das Kloster zu verlassen mit Lots Frau identifiziert, die sich ebenfalls in verbotener Weise (nach der sündigen Stadt Gomorra) umgewendet hatte und dann zur Salzsäule erstarrt war (Gen 19,26). Mit Erarbeitung dieses Zusammenhanges eröffnete sich der Weg zu einem ergänzenden dynamischen Ansatz der psychiatrischen Behandlung.

Otmar Seidl, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Sektion für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, LMU Klinikum München



Publication History

Article published online:
28 July 2022

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  • Literatur

  • 1 Lüdemann G.. Jesus nach 2000 Jahren. Was er wirklich sagte und tat. Lüneburg: Zu Klampen; 2000
  • 2 Türke C.. Jesu Traum. Psychoanalyse des Neuen Testaments. Springe: Zu Klampen; 2009
  • 3 Schwarz F. Psychodynamische Psychotherapie der Psychosen. Psychotherapeut 2012; 57: 477-478
  • 4 Ross CA.. History, phenomenology, and epidemiology of dissociation. In: Michelson LK, Ray WJ (eds). Handbook of dissociation. Theoretical, empirical, and clinical perspectives. New York: Plenum; 1996
  • 5 Seidl O, Frick E. Religiöses Coping einer lebensbedrohlichen Krankheit im Vergleich zu anderen Bewältigungsformen. Spiritual Care 2022; 11: 147-160
  • 6 Benedetti G.. Psychotherapeutische Behandlungsmethoden. In: Kisker KP, et al. (Hrsg.). Schizophrenien. Psychiatrie der Gegenwart Bd IV. Berlin: Springer; 1987
  • 7 Juckel G, Hoffmann K, Walach H. Hrsg Spiritualität: in Psychiatrie & Psychotherapie. Lengerich: Pabst; 2018
  • 8 Pfaff M, Quednow BB, Brüne M. et al Schizophrenie und Religiosität – Eine Vergleichsstudie zur Zeit der innerdeutschen Teilung. Psychiatr Prax 2008; 35: 240-6
  • 9 Von Bendemann R.. Christus als Arzt – Frühchristliche Soteriologie und Anthropologie im Licht antik-medizinischer Konzepte. Stuttgart: Kohlhammer; 2022
  • 10 Vinnai G.. Jesus und Ödipus, Frankfurt am Main: Fischer. 1999