Nervenheilkunde 2022; 41(07/08): 513-516
DOI: 10.1055/a-1772-0090
Gesellschaftsnachrichten

Kopfschmerz News der DMKG

Aus dem Journal Club der Jungen DMKG: Nicht invasive Hirnstimulation (t-DCS) in der Migräneprophylaxe potenziell wirksam

**** Ornello R, Caponnetto V, Ratti S, et al. Which is the best transcranial direct current stimulation protocol for migraine prevention? A systematic review and critical appraisal of randomized controlled trials. J Headache Pain 2021; 22(1): 144

Transkranielle Gleichstromstimulation kann die Kopfschmerzfrequenz und -intensität positiv beeinflussen, jedoch verhindern heterogene Studiendesigns die Selektion eines favorisierten Stimulationsprotokolls.

Hintergrund

Die Pathophysiologie der Migräne ist neben homöstatischen und metabolischen Veränderungen durch eine dysfunktionale Reizverarbeitung und Konnektivität in sensorischen/limbischen Netzwerken gekennzeichnet, wobei letztere neurophysiologische Charakteristika als nicht pharmakologische Therapieziele im Sinne einer Precision Medicine dienen könnten [1]. Vor diesem Hintergrund ist bemerkenswert, dass selbst pharmakoresistente neuropsychiatrische Störungen durch nicht invasive Hirnstimulationsverfahren (NIBS) behandelbar sind [2], was vor dem Hintergrund pathophysiologischer Überlappungen möglicherweise für die Prophylaxe der pharmakoresistenten Migräne zutreffen könnte. Die vorgestellte Übersichtsarbeit beschäftigte sich mit der Methode der transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS) als eine Variante der NIBS in der Anwendung als Migräneprophylaxe. Randomisierte kontrollierte Studien mit vergleichbaren Stimulationsprotokollen und Endpunkten wurden in einem systematischen Review zusammengestellt und sollten hinsichtlich der Effektstärke und -richtung überprüft werden.


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Zusammenfassung

Die Autoren führten eine Literaturrecherche der Datenbanken Pubmed, Scopus und Web of Science von Beginn der Indizierung der jeweiligen Datenbank bis Juni 2021 durch. Als Stichworte wurden „Migräne“, „Kopfschmerz“, „transkranielle Gleichstromstimulation“ und „tDCS“ genutzt. Eingeschlossen wurden ausschließlich randomisierte kontrollierte Studien mit Migränefrequenz, -intensität und/oder der Gebrauch an Akutmedikation als primäre Endpunkte und einer Scheinstimulation (sham-tDCS, s-tDCS) als Placebo-Kontrolle.

Die primäre Suche erbrachte nach Entfernung von Duplikaten 446 potenzielle Studien, wovon auf Grundlage der Einschlusskriterien 13 Studien in die Übersichtsarbeit eingeschlossen werden konnten. Von diesen Studien wurden folgende Migränesubtypen untersucht: episodische Migräne (EM, n = 3), chronische Migräne (CM, n = 5), EM + CM (n = 3), menstruelle Migräne (n = 1), Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch (MOH, n = 1). Als Stimulationsziele wurden sowohl inhibitorische (cathodale tDCS, c-tDCS) (n = 3) als auch fazilitierende (anodale tDCS, a-tDCS) (n = 5) Stimulationen des sensomotorischen Systems durchgeführt. Teilweise erfolgte die Auswahl der stimulierten Seite contralateral (a-tDCS) bzw. ipsilateral (c-tDCS) zur schmerzdominanten Seite. Als weitere Therapieziele dienten der okzipitale Kortex (4x c-tDCS, 1x a-tDCS) und der dorsolaterale präfrontale Kortex (DLPFC, n = 1). Die Häufigkeit der Stimulationen bewegte sich zwischen 6–28 Visiten. Die Stimulationsfrequenz lag zwischen1x/Tag und 1x/Monat über maximal 3 Monate, wobei die Intervalle zwischen den Stimulationen stark variierten. Die Stimulationsintensität betrug 1–2 mA für eine Dauer von 15–20 Minuten. Die Baseline betrug überwiegend 1 Monat (6 Studien), das Follow-Up war sehr heterogen zwischen 1 Tag und 12 Monaten.

Die meisten Studien untersuchten die Kopfschmerzintensität als Endpunkt und konnten in der Mehrzahl einen positiven Effekt berichten (8x positiv, 1x neutral, 1x negativ). Bezüglich der Kopfschmerztage ergaben 3 Studien eine Reduktion und 2 Studien keinen Effekt. Die 50 % Responderrate wurde in nur 3 Studien untersucht, wovon lediglich eine einen positiven Effekt gegenüber s-tDCS erbrachte. Positive Effekte auf Depression oder Angststörung als Begleiterkrankungen konnte keine Studie nachweisen. Der Gebrauch von Akutmedikation nahm in 2 Studien ab und zeigte in 2 Studien einen positiven Trend gegenüber s-tDCS, blieb jedoch in 4 Studien unverändert. Hinsichtlich der Sicherheit ergaben sich keine anhaltenden Nebenwirkungen. Lediglich 4 Studien hatten keinen risk of bias, während die übrigen Studien hinsichtlich der Randomisierung und Auswahl der berichteten Endpunkte einen moderaten Bias aufwiesen. Eine Metaanalyse der Effektstärke und -richtung war aufgrund der heterogenen Studiendesigns nicht möglich.

Die Autoren schlussfolgern, dass positive Effekte der NIBS wahrscheinlich sind, jedoch kein Stimulationsprotokoll favorisiert werden kann. Sie empfehlen entsprechend, dass in Zukunft in multizentrischen, adäquat gepowerten Studien Effekte untersucht und Stimulationsparameter systematisch variiert werden sollten.


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Kommentar

Bei der Übersichtsarbeit handelt es sich um ein wertvolles Review mit hohem Anspruch an die berücksichtigte Studienqualität. Für die Bewertung der Studien wurde erstmals die IHS-Leitlinie von 2021 für die Durchführung von klinischen Studien zu Neurostimulationsverfahren bei Migräne [3] zugrunde gelegt. Die identifizierten Studien zeichnen sich leider durch sehr heterogene Stimulationsprotokolle und kleine bis moderate Fallzahlen (n = 6–45) aus. Zudem schienen die untersuchten Messparameter (Kopfschmerzfrequenz, -intensität) teilweise unzureichend durchdacht, da die Baseline sehr kurz gewählt und keine standardisierten Fragebögen zur Evaluation des Krankheitsverlaufs verwendet wurden. Die Autoren schlagen vor, dass multizentrische Studien mit einer Variation der Stimulationsparameter durchgeführt werden sollten, um die Evidenz zu verbessern. Hierbei sind jedoch einerseits die Freiheitsgrade der Stimulationsprotokolle zu beachten (Stimulationsstärke, -frequenz, -dauer, -intervalle; Stimulationsort, Wahl der Referenzelektrode, anodale oder kathodale Stimulation). Darüber hinaus muss betont werden, dass es sich stets um eine pseudo-unipolare Stimulationen handelt, da auch unter der Referenzelektroden naturgemäß elektrische Felder vorliegen. Insbesondere in frontaler Position (z. B. Fp1 oder Fp2) sollten diese daher nicht als inaktiv pauschalisiert werden (zutreffend in 8 Studien), da frontale Regionen (z. B. DLPFC) durchaus einen modulierenden Einfluss haben können.

Zusammenfassend könnte NIBS eine wertvolle zusätzliche Therapieoption in pharmakoresistenten Fällen darstellen, wobei diese Subpopulation aufgrund der gut wirksamen neueren Therapieoptionen sicherlich kleiner geworden ist. Ebenso könnte ein therapiebegleitender Einsatz bei chronischen Verlaufsformen oder solchen mit Medikamentenübergebrauch von Nutzen sein. Der Aufwand der Anwendung ist andererseits jedoch erheblich (bis 28 Stimulationen über 3 Monate), sodass eine praktikable Lösung sicherlich nur mittels Home-based-Interventionen möglich wäre. Die geringen Kosten des Verfahrens in der Eigenanwendung (ca. 400 €, [4]), Erfolge bei neuropsychiatrischen Erkrankungen sowie geringe Nebenwirkungsrate lassen es dennoch sinnvoll erscheinen, die Effektivität und Langzeiteffekte genauer zu überprüfen.

Robert Fleischmann, Greifswald, Victoria Ruschil, Tübingen


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Publication History

Article published online:
28 July 2022

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