Z Sex Forsch 2022; 35(01): 61-62
DOI: 10.1055/a-1747-2528
Buchbesprechungen

Faszinosum Sexualität. Theoretische, empirische und sexualpolitische Beiträge

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Martin Dannecker. Faszinosum Sexualität. Theoretische, empirische und sexualpolitische Beiträge. Gießen: Psychosozial 2017 (Reihe: Beiträge zur Sexualforschung, Bd. 106). 200 Seiten, EUR 24,90

Das Buch ist der erste von zwei Sammelbänden, in denen Veröffentlichungen des bedeutenden Sexualwissenschaftlers Martin Dannecker zusammengetragen sind (siehe auch: Martin Dannecker. Fortwährende Eingriffe. Aufsätze, Vorträge und Reden zu HIV und AIDS aus vier Jahrzehnten. Berlin: Männerschwarm 2019). Dannecker widmet diesen Band Agnes Katzenbach, einer langjährigen Mitarbeiterin am Institut für Sexualwissenschaft in Frankfurt und Freundin. Es handelt sich ausschließlich um Werke, die in diesem Jahrtausend verfasst wurden. Sie machen deutlich, wie sehr Sexualität und Geschlecht einem Wandel unterzogen waren und immer noch sind. Auch wenn sicherlich ein Schwerpunkt auf Gedanken zur v. a. männlichen Homosexualität liegt, werden wichtige Themen und Diskurse im Rahmen gesellschaftlicher Veränderungen besonders hinsichtlich der Geschlechterfrage differenziert dargestellt. So ist der Band auch unter historischen Gesichtspunkten interessant und lesenswert. Er vereint Arbeiten, die zum Teil an verschiedenen Stellen erschienen sind, ergänzt um bisher unveröffentlichte und neue Texte, die chronologisch und nicht nach Themen angeordnet sind.

Es wurde ein Beitrag aus dem von Volkmar Sigusch und Günter Grau herausgegebenen „Personenlexikon der Sexualforschung“ (2009) über das Leben und Wirken von Hans Giese (1920–1970) übernommen, dem Begründer des Hamburger Instituts für Sexualforschung und Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung. Ein Text, den man vor allem Jüngeren empfehlen kann. Erwähnenswert an diesem Beitrag ist die Beobachtung, dass, wie auch bei anderen Veröffentlichungen zu Gieses Leben, wenig über dessen therapeutische Tätigkeit ausgesagt wird. Diese kann man nur bruchstückhaft aus Gieses Veröffentlichungen anhand von Fallbeispielen erahnen.

Das erste Kapitel aus dem Jahr 2003 beschäftigt sich mit dem Wandel der Sexualität in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, Bezug nehmend v. a. auf die empirischen Studien zur Studentensexualität aus den Jahren 1966, 1981 und 1996, die zusammenfassend in dem Buch „Kinder der sexuellen Revolution“ von Gunter Schmidt (2000) mit Beiträgen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus dem Projekt veröffentlicht wurden. Unter den Überschriften „Eine sexuelle Revolution“, „Lust als Imperativ der Sexualität“, „Verlust der Sonderstellung der Sexualität“, „Treue Liebe“, „Die neue Bedeutung der Masturbation“ und „Sexualisierung der Öffentlichkeit“ setzt sich Dannecker kritisch mit den Ergebnissen aus Schmidts Projekt auseinander.

Der zweite Beitrag zum Thema „Von der Geschlechtsidentität zum sexuellen Selbst“ beruht auf einem Vortrag aus dem Jahr 2003 auf der 21. Wissenschaftlichen Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung und ist aus dem 2004 von Hertha Richter-Appelt und Andreas Hill herausgegebenen Band „Geschlecht zwischen Spiel und Zwang“ übernommen. Hier werden die Fragen nach Zusammenhängen zwischen Geschlecht und sexueller Identität, Begehren und Geschlecht, Geschlechtsidentität und Wiederholungszwang sowie der staatlich verordnete Zwang zu eindeutigen Geschlechtskörpern thematisiert. Angesichts der aktuellen Entwicklung zu Gesetzen zum Geschlechtseintrag erscheint hier v. a. Danneckers Schlussfolgerung erwähnenswert: „Ich persönlich glaube nicht, dass es Aufgabe einer sich kritisch verstehenden Sexualwissenschaft sein kann, sich an der staatlich geforderten Herstellung sexueller und geschlechtlicher Eindeutigkeiten zu beteiligen“ (S. 38).

Wie schnell die gesellschaftliche Debatte sich weiterentwickelt hat, kann man einer weiteren Arbeit von Dannecker aus dem Jahr 2010 mit dem Thema Geschlechtsidentität und Geschlechtsidentitätsstörungen entnehmen, in dem er schwerpunktmäßig auf Jungen mit geschlechtsuntypischem Verhalten eingeht und sich mit der Frage beschäftigt, welche Bedeutung das Konzept der Entidentifizierung von Jungen von der Mutter heute noch hat, einer Zeit, in der Mütter auch zunehmend sogenannte männliche Verhaltensweisen zeigen und der Unterschied zwischen den Geschlechtern geringer geworden ist. Abschließend betont er, dass entgegen der lange in der Psychoanalyse vertretenen Meinung, die Geschlechtsidentität werde in der frühen Kindheit festgeschrieben, sich diese durchaus im weiteren Lebensverlauf ändern könne – und zwar sowohl bei Männern als auch bei Frauen.

Zum 100-jährigen Gedenken an das Erscheinen von Freuds wichtiger Arbeit zu den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ aus dem Jahr 1905 wurden Autorinnen und Autoren von Martin Dannecker und Agnes Katzenbach dazu aufgefordert, ihre Gedanken zu veröffentlichen, inwiefern ein für die Entwicklung der Psychoanalyse, aber auch Sexualwissenschaft so wichtiges Werk immer noch Bedeutung habe (siehe: Martin Dannecker, Agnes Katzenbach, Hrsg. 100 Jahre Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“. Aktualität und Anspruch. Gießen: Psychosozial 2005). Dannecker selbst betont, wie sehr sich Freud in den Abhandlungen an Sexualwissenschaftler seiner Zeit, wie Richard von Krafft-Ebbing, Albert Moll und viele mehr, angelehnt habe. Allerdings sei er in seinen Überlegungen weit darüber hinausgegangen. Auch fragt er sich, warum Freud mit den „sexuellen Abirrungen“ begonnen habe und nicht mit der Sexualität der Kindheit. Die Auseinandersetzung Danneckers mit dem Text macht deutlich, dass es auch heute noch der Mühe wert ist, sich mit diesem für die Psychoanalyse so grundlegenden Werk Freuds zu beschäftigen. Danneckers Ausführungen mögen dazu wichtige Anregungen geben.

Weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Haltung der Psychoanalyse zur Homosexualität und der Einstellung unserer Gesellschaft zur „Ehe für Alle“ und dem Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare. Die neuesten Arbeiten schließlich setzen sich mit den Auswirkungen des Internets einerseits auf die Sexualpädagogik, aber auch auf das Chat- und Datingverhalten schwuler Männer auseinander. Schließlich findet man einen Beitrag zur Sexualität im Alter.

Dieser Band macht die umfangreiche Themenvielfalt sichtbar, mit der Dannecker sich immer wieder von neuem auseinandergesetzt hat. Es ist sehr hilfreich, all diese Beiträge hier in einem Band versammelt zu sehen. So kann man die gesellschaftliche Entwicklung, aber auch die persönliche Entwicklung Danneckers über die Jahre verfolgen.

Hertha Richter-Appelt (Hamburg)



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Article published online:
08 March 2022

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