Z Sex Forsch 2022; 35(01): 53-54
DOI: 10.1055/a-1747-1559
Buchbesprechungen

Kritische Sexualwissenschaft. Ein Fazit

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Volkmar Sigusch. Kritische Sexualwissenschaft. Ein Fazit. Frankfurt/M., New York, NY: Campus 2019. 312 Seiten, EUR 34,00

„Im schlechten Allgemeinen können die Verhältnisse von Mensch zu Mensch nicht einfach gut sein. […] Das Verhältnis zum Menschen scheint als eines der Unmittelbarkeit dem Diktat des Tausches entzogen zu sein. Aber dieser Schein ist es gerade, der der Liebe den allgemeinen Stempel aufdrückt, sie zu einer gesellschaftlichen Form macht“ (S. 16 ff.). Wer solche Sätze nicht gleich versteht, sollte nicht verzweifeln. Zum einen lohnt es sich, nach einer kleinen Pause, zwei- oder dreimal darüber nachzudenken. Zum anderen hilft in jedem Falle der literarische Kontext. Zum Dritten schließlich finden sich in diesem Gesamtkunstwerk auch kurze Sätze, die sich leicht ins Gehirn flechten und für die langen dichten Sätze entschädigen: „Nichts ist reiner und harmloser als die Erotik des Leibes und des Herzens“ (S. 227). – „Neosexuell Aktive leben ganz selbstverständlich in Digitalia“ (S. 202). – „Auf den Friedhöfen des Geistes liegen das Gute, das Schöne, die Liebe, die Solidarität und das Wahre begraben“ (S. 279).

Das Buch bietet eine Auswahl an Essays und Fachartikeln aus Siguschs umfangreichem Schaffen. Darunter sind auch frühe Texte des Sexualmediziners, die weit über Siguschs Fachgebiet hinaus Beachtung gefunden haben. Sie geben sichere Auskunft darüber, was Sigusch unter kritischer Sexualwissenschaft versteht, nicht nur in seinem berühmten Artikel „Was heißt kritische Sexualwissenschaft?“, mit dem er 1988 unsere „Zeitschrift für Sexualforschung“ eröffnete und der sich nun auch in diesem Buch wiederfindet (S. 69 ff.).

Seinen großen Büchern „Neosexualitäten“ (2005), „Geschichte der Sexualwissenschaft“ (2008), „Personenlexikon der Sexualwissenschaft“ (2009, herausgegeben zusammen mit Günter Grau), „Sexualitäten“ (2015) hat Volkmar Sigusch ein Fazit hinzufügt, und das ist für die Ewigkeit. Es ist völlig unmöglich, in einer kleinen Rezension dem Buch als Ganzem und allen 17 Beiträgen gerecht zu werden. Das bleibt künftigen Dissertationen, Habilitationen, Fachbüchern vorbehalten. Wenige Bemerkungen müssen genügen:

  1. Volkmar Sigusch stellt Sexualität konsequent in gesellschaftliche Zusammenhänge. Das kann er wie kein anderer. Für ihn ist Sexuelles nicht nur das Eigentliche, nicht die reine sexuelle Aktion. Die gibt es für ihn gar nicht: „[…] ,reine‘ Sexualität ist reine Gedankenschöpfung“ (S. 32). „Sexualität ist eine gesellschaftliche Kategorie“ (S. 32). Er stellt nicht nur die Frage „Was ist natürlich an der Sexualität?“, sondern auch „Was ist gesellschaftlich an der Sexualität?“ und stößt dabei auf „das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“ (S. 29). „Kritische“ Sexualwissenschaft bedeutet für Sigusch gesellschaftskritische Sexualwissenschaft, weil alle Dispositionen des Sexualverhaltens, alle sexuellen Normen, Gewohnheiten, Einstellungen, Varianten ohne den kritischen Blick auf die Gesellschaft nicht zu erklären sind. Der Mensch ist eben ein Zoon politikon, und Volkmar Sigusch ist es auch (und nicht zu knapp). Der scharfe Text über „Hylomatie“ ist ein lebendiger Beweis dafür (S. 255 ff.).

  2. Weil aber Individuum und Gesellschaft Gegenstand verschiedener Wissenschaften sind, ist es biografisch so gekommen, dass aus dem ausgezeichneten Medizinstudenten nicht nur ein hervorragender Sexualmediziner, sondern auch ein spezieller Soziologe und ein Sexual- und Paartherapeut wurde, jedenfalls einer, der über die Grenzen seines Fachgebietes hinausgeht, der trans-, inter- und multidisziplinär – was zugleich bedeutet: komplex – denken kann. Genau das ist für die verschiedensten Fachleute reizvoll und reizend, sei es eine Anregung für das spezielle Fachgebiet oder ein Dienst an der Allgemeinbildung und eine Qualifizierung des politischen Denkens – oder eben eine Nötigung zum fruchtbaren Streit.

  3. Item ist das Buch ein Musterbeispiel für vertikale Analysen. „Vertikal“ meint dabei die für Sexualität und Menschsein besonders wichtigen Betrachtungsetagen, von der Biologie über Psychologie und Soziologie bis zur Philosophie. Sigusch verfällt dabei weder einem verführerischen Reduktionismus – also z. B. Sozialverhalten rein entwicklungsbiologisch zu erklären oder einen gesellschaftlichen Konflikt nur freudianisch zu betrachten – noch vereinnahmt oder denunziert er alles primär Biologische als rein Gesellschaftliches, auch das Körpergeschlecht nicht. Er reduziert das Gesellschaftliche nicht auf das Individuelle, hebt aber das Individuum im Gesellschaftlichen auf. In solchen komplexen Zusammenhängen kommen interessante Aspekte weiterer Wissenschaftsgebiete wie Kulturwissenschaft, Ethik, Wirtschaftswissenschaft, Medienwissenschaft zur Geltung, so in dem Essay „Kultursodomie als Neoallianz“ (S. 211 ff.).

  4. Der vertikale Blick wird mit einer inhaltlichen Breite, also gewissermaßen einer weiten Horizontalität verbunden. Stichwörter dafür sind im Buch Aids, Asexualität, Begierde, Erotik, Fetischismus, Feminismus, Liquid Gender, Natur, Pädosexualität, Pornografie, sexueller Missbrauch, Transsexualität.

  5. Sigusch stellt Sexualität nicht nur in aktuell-gesellschaftliche, sondern auch in historische Zusammenhänge. In der Geschichte findet er Entwicklungslinien, Brüche, Irrwege und letztlich Erklärungen für das Jetzt. Nimmt man allein seinen Bezug auf Geistesgrößen wie Kant, Hegel, Feuerbach, Marx, Engels, Simmel, Freud, Adorno, Habermas, Luhmann, Sève, …, dann spürt man, wie fest (und gekonnt) Siguschs Theorien geistesgeschichtlich verankert sind. Dabei hat man – angesichts eines Literaturverzeichnisses von fast 300 Quellen – nie den Eindruck, dass Sigusch zu viel zitiert; die Manie, jede Aussage mit einer Quelle zu belegen, ist nicht der Gestus des Essayisten.

  6. Bei allen Schrecknissen, Verkümmerungen, Verstümmelungen, bei aller „Dissoziation“ und „Dispersion“ (S. 373), die Sigusch im Zusammenhang mit Sexualität beschreibt, und in Kenntnis eines höchst ambivalenten und teils desaströsen Umgangs mit sexuellen Phänomenen im öffentlichen Raum: Sigusch hat grundsätzlich einen positiven Begriff von Sexualität, Sexuelles ist lebenswichtig und lustgewichtig. Das ist in Zeiten, in denen Sexuelles überhäufig als Gefahr erscheint, ermutigend. Er schilt und schildert das Böse nicht leichtfertig als etwas Invariantes, als Wesensmerkmal alles Sexuellen, sondern richtet den Blick auf die Akteure, die in bestimmten Situationen böse handeln, auf das Abscheuliche in sexueller oder scheinsexueller Gestalt – und wieder und wieder auf gesellschaftliche Vorurteile in Bezug auf Sexualität, den Missbrauch der Sexualität und die immer wieder aufbrechende Sexualfeindlichkeit.

  7. Keineswegs immer, aber doch häufig hebt Sigusch die Bedeutung der Paarbeziehung für das reale Sexualverhalten hervor. Gesondert ist dies im Beitrag „Grundzüge einer Paartherapie“ (S. 245 ff.) der Fall. Hier geht er auf sexuelle Störungen und ihre Behandlung ein, wozu er ja 1975, 1979, 1980, 1996, 2001 und 2007 Bücher herausgegeben hat und denen er auch einen speziellen Text widmet (S. 235 ff.).

  8. Volkmar Sigusch scheut sich nicht, die Größe „Liebe“ und die große Liebe in seine Betrachtungen einzubeziehen: „Die Liebe als kostbare Einzigartigkeit“ (S. 17). Aber Sigusch wäre nicht Sigusch, wenn er es bei einem bloß romantischen Ideal beließe. Nein, er deckt die „gesellschaftliche Mystifikation der Liebe“ (S. 17) auf, singt nicht nur das „Hohe“, sondern auch das „Niedere Lied der Liebe“, als „Himmel und Hölle“ (S. 13), und weiß doch: „Die Liebe kann nicht hergestellt und nicht gekauft werden. Das aber ist in einer Welt des Machens und Verkaufens phantastisch“ (S. 18).

  9. Genauso wenig hütet sich der Autor, den „Trieb“, den verruchten, männlichen, aus dem Diskurs zu nehmen, im Gegenteil. In der noch immer lesenswerten Auseinandersetzung mit seinem Hamburger Freund und Kollegen Gunter Schmidt hält er am Begriff des Triebes fest, wenngleich er weise hervorhebt: „Liebe und Trieb sind das Schibboleth der kritischen Sexualwissenschaft und ihre Crux, weil sie sich nicht erfassen und begründen lassen“ (S. 51). Daran freilich, an der Unerforschlichkeit, darf man ruhig zweifeln. Man muss das scheinbar Unmessbare nur messbar machen. Als einer, der in seiner Hamburger Zeit (mit ebendiesem Gunter Schmidt) empirische Sexualforschung betrieben hat und in seine Texte ab und an empirische Daten einfließen lässt, weiß Sigusch das natürlich – wobei: Was man schwarz auf weiß besitzt, ist nicht alles, was es gibt oder zu geben scheint.

  10. Sigusch hat eine Fähigkeit, die unbequem und nicht bequem gewordene Gelehrte auszeichnet, nämlich neue Entwicklungen wahrzunehmen und zu ihrer Erklärung neue Theorien zu bilden, statt sie in den Käfig alter Theorien zu pressen. Das heißt dann auch: Begriffe für noch Unbenanntes finden. Das herausragende Beispiel dafür sind Theorie und Begriff der „neosexuellen Revolution“ (S. 153 ff.). Damit beschreibt Sigusch die Gesamtheit des gegenwärtigen Sexuallebens in seiner Gewordenheit, „die gesellschaftliche Sexualform, das heißt unsere Sexualität“ als „eine Frucht des Kapitalismus“ (S. 153). Für die neosexuelle Revolution seien folgende Transformationsprozesse charakteristisch: die Zerlegung oder Dissoziation der sexuellen Sphäre, die Zerstreuung oder Dispersion der sexuellen Fragmente, die Vervielfältigung oder Diversifikation der sexuellen Beziehungen, dies alles verbunden mit einer Tendenz zu soziomoralischem Egoismus und Self-sex in einem Alltag, der „von sexuellen Reizen ebenso überflutet wie entleert“ (S. 195) ist und in dem sich doch „der feste Kern der Sexualität“ (S. 189) mit seinen mannigfaltigen Funktionen zu halten vermag.

    Was wird es dereinst nach der neosexuellen Revolution geben, dann, wenn das „Neo“ nicht mehr neu, sondern verschlissen ist? Ein weiteres Sich-Schleppen der Menschheit „von sexueller Revolution zu sexueller Revolution“ (S. 154)?

Kurt Starke (Zeuckritz)



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Article published online:
08 March 2022

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