Zeitschrift für Palliativmedizin 2022; 23(03): 115-116
DOI: 10.1055/a-1742-1666
Editorial

Palliativmedizin/Palliativversorgung – Blick zurück und nach vorne

Liebe Leserin, lieber Leser,

über die vielen Jahre des Bestehens der Zeitschrift für Palliativmedizin war es uns Herausgeber*innen immer ein Anliegen, aktuelle Themen und Entwicklungen der Palliativmedizin aufzugreifen. In diesem Editorial möchten wir nun unseren „Blick zurück und nach vorne“ aufzeigen. In der Ausgabe 1/2022 hat uns Gerd Nettekoven als Vorsitzender des Vorstands der Deutschen Krebshilfe noch einmal verdeutlicht, dass sich in den vergangenen Jahren viel getan hat und „die Hospizarbeit und Palliativversorgung kaum noch aus unserem Gesundheitsversorgung wegzudenken ist“.

Der Blick zurück

Bildeten Hospizkultur und Palliativversorgung zunächst eine Antwort auf die Defizite in unserem Gesundheitswesen, insbesondere bezogen auf die mangelnde klinische Versorgung schwerkranker und sterbender Menschen, so zeigte sich auch international sehr rasch, dass es um mehr ging als um Krisenintervention und Symptomlinderung unter dem Aspekt von „totel pain“ sowie der multiprofessionellen Versorgung am Lebensende. C. Saunders verdeutlichte dies bereits früh: „Die Hospizbewegung zog aus dem Gesundheitswesen aus und entwickelte eigene Modelle. Es gilt nun, die Haltungen, die Kompetenzen und die Erfahrungen in die Regelversorgung zu re-integrieren, damit die Haltung und das Wissen zurückfließen können …“ (Cicely Saunders, 1983). In Deutschland entwickelten sich Hospizarbeit und Palliativmedizin zunächst eher getrennt voneinander. Erst im Laufe der Jahre festigte sich das Bewusstsein dafür, dass gute Palliativmedizin nicht ohne umfassende ambulante und stationäre hospizliche Versorgung gelingen und gute Hospizarbeit nicht ohne Palliativmedizin für die uns anvertrauten Patient*innen und deren Angehörige erfolgreich umgesetzt werden kann. Im Rahmen zahlreicher gesundheitspolitischer Aktivitäten, wie z. B. dem Bericht der Enquete-Kommission zur Verbesserung der Versorgung Schwerstkranker und Sterbender in Deutschland durch Palliativmedizin und Hospizarbeit 2005, der Gesetzgebung zur integrierten Versorgung (§ 140a SGB V), der SAPV (§ 37b und 132 d SGB V) 2007 sowie der erfolgreichen Etablierung der Palliativmedizin zum Pflicht-, Lehr- und Prüfungsfach im Medizinstudium 2009, gelang mit der Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen 2010 und dem Hospiz und Palliativgesetz (HPG) sowie der Erstellung der S3-Leitlinie Palliativmedizin 2015 ein entscheidender Durchbruch und Fortschritt. Die gemeinsame Trägerschaft der Charta durch die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), den Deutschen Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) und der Bundesärztekammer trugen maßgeblich dazu bei, zu verdeutlichen, dass Hospizarbeit und Palliativmedizin eine nationale gesundheitspolitische Aufgabe ist, die für die weitere Etablierung dringend des Blickes nach vorne bedarf.

„Eine Schublade voller Dankesbriefe reicht nicht … Wenn wir uns nicht stellen, stellen uns andere.“ So Claudia Bausewein, amtierende Präsidentin der DGP, in der Ärzte Zeitung am 28.03.2017. Ja, wir stellen uns thematisch den vielfältigen Herausforderungen in allen Bereichen und erkennen die daraus resultierenden Erfolge nicht zuletzt auch an der Entwicklung der Palliativversorgung in Deutschland, die sich damit gezielt für die Zukunft aufgestellt zeigt.

Der Blick nach vorne

Auch wenn die Umsetzung des Hospiz- und Palliativgesetzes (HPG) nach wie vor an wesentlichen Stellen unkonkret bleibt, so sehen wir in ihr eine kontinuierliche Entwicklung von Angebot und Nachfrage. Damit verbunden ist eine Hospizarbeit und Palliativmedizin, die sich in den Bereichen Medizin, Pflege, Sozialarbeit, Spiritual Care und weiterer therapeutischer Berufsgruppen mehr und mehr zu gelebter Multiprofessionalität weiterentwickelt. Haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter*innen agieren in einem großen Selbstverständnis miteinander. Qualität und Standards der Versorgung rücken in den Fokus und Palliativmedizin wird zunehmend in Krankenhauspläne integriert. Nicht nur aktuell, sondern auch in Zukunft werden uns die Sterbehilfediskussion und ethische sowie rechtliche Themen am Lebensende beschäftigen. Die Entwicklung von Konzepten im Sinne von „Caring Communities“ sind ein wichtiger Schritt, um die gesellschaftliche Unterstützung schwerstkranker und sterbender Menschen noch zu verstärken und in der Quartiersentwicklung in Stadt und Land den Beginn des Lebens, ein gesundes und auch ein (chronisch)krankes Erwachsenenalter sowie das Lebensende zusammenzubringen. Neben diesen politischen Aktivitäten bedarf es eines Blicks auch auf ausbaubedürftige Themenfelder der Palliativversorgung, z. B. der Behandlung von Patient*innen mit schwerer Herzinsuffizienz, mit neurologischen Erkrankungen, sowie in der Intensiv- wie auch der Akutmedizin. Zudem werden Themen wie Advance Care Planning (ACP) und Umsetzungen im Rahmen der gesundheitlichen Versorgungsplanung am Lebensende in vielen Bereichen an Bedeutung gewinnen.

Bei allen Entwicklungen bedarf es immer auch einer Orientierung an der internationalen Entwicklung. Im aktuellen „Report of the Lancet Commission on the Value of Death: bringing death back into life“, veröffentlicht Ende Januar 2022 in The Lancet von Libby Sallnow et al., beklagen die Expert*innen die Übermedikalisierung des Todes und Palliativmediziner*innen fordern ein radikales Umdenken, um ein Gleichgewicht von Tod, Sterben und Trauer wiederherzustellen. Die Lancet-Kommission „on the value of death” schlägt dafür fünf Prinzipien für eine „realistische Utopie” vor:

  • Die „sozialen Determinanten von Tod, Sterben und Trauer“ müssen angegangen werden, damit die Menschen ein gesünderes Leben führen und einen angemessenen Tod sterben können.

  • Sterben ist ein „relationaler und spiritueller Prozess“ und nicht nur als ein physiologisches Ereignis zu verstehen. Dies bedeutet, dass Menschen im Sterben und in der Trauer stärker unterstützt werden müssen.

  • Sorgenetzwerke („networks of care“) für die Unterstützung von Sterbenden, Pflegenden und Trauernden müssen geschaffen werden, die neben Fachleuten auch Familien und Gemeindemitglieder umfassen.

  • Der Tod, das Sterben und die Trauer müssen wieder zu einem Bestandteil des alltäglichen Lebens gemacht werden.

  • Die Menschen müssen anerkennen, dass der Tod ein wertvoller Teil des Lebens ist, denn „ohne den Tod wäre jede Geburt eine Tragödie“.

Die COVID-19-Pandemie hat uns allen dramatisch das Ausmaß der Medikalisierung des Todes vor Augen geführt. Zahllose Patient*innen wurden ohne Aussicht auf ein Überleben auf Intensivstationen behandelt, wo sie isoliert von ihren Familien sterben mussten: Für die Sterbenden ein einsamer Tod, für die Hinterbliebenen ein traumatisches Erlebnis. Hier bedarf es in unserem Gesundheitssystem dringend eines gemeinsamen Blicks nach vorne, den wir als Herausgeber*innen der Zeitschrift gerne gemeinsam, engagiert und weiterhin mit viel Freude an der Arbeit gehen möchten.

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Manfred Gaspar
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Martina Kern
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Friedemann Nauck
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Roman Rolke
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Traugott Roser


Publication History

Article published online:
03 May 2022

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