Rofo 2022; 194(03): 331-334
DOI: 10.1055/a-1720-6436
DRG-Mitteilungen

Der Radiologe als „hoheitlich Bediensteter“

 

I. Die Beteiligten: Unfallversicherungsträger, verletzter Versicherter, Durchgangsarzt, Radiologe

Die Überschrift mutet antiquiert an; dass ein Facharzt für Radiologie z. B. bei der Erstellung eines Röntgenbildes hoheitlich handeln soll, überrascht. Und dennoch gibt es Fälle, bei denen dieses Phänomen auftaucht, häufiger als man vermutet.


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Wird ein gesetzlich krankenversicherter Patient an einen Radiologen überwiesen, so kommt ein Behandlungsvertrag nach § 630a BGB zwischen dem Patienten und dem Radiologen zu Stande. Nicht anders ist die Rechtslage, wenn der Radiologe einen Privatpatienten behandelt; auch hier wird ein Behandlungsvertrag nach § 630a BGB abgeschlossen; der Radiologe erfüllt seine Verpflichtungen aus dem Behandlungsvertrag mit dem Patienten, ein öffentliches Amt nimmt er nicht wahr.

Anders kann dies aber sein, wenn ein bei einem Arbeitsunfall Verletzter den Radiologen aufgrund einer Anordnung des Durchgangsarztes aufsucht. In diesem Fall hat der Verletzte Anspruch auf die Versorgung durch den Unfallversicherungsträger mit allen geeigneten Mitteln; die Unfallversicherungsträger sind Körperschaften des öffentlichen Rechts und erfüllen diesen Anspruch mithilfe des Durchgangsarztes und durch weitere Ärzte auf Anordnung des Durchgangsarztes.

Wie weit reicht aber der öffentlich-rechtliche Auftrag der Unfallversicherungsträger gegenüber dem Durchgangsarzt bzw. dem weiteren Arzt, z. B. dem Radiologen? Ist die gesamte Behandlung eines Verletzten eine hoheitliche Maßnahme oder nur Teile der Behandlung? Und warum kommt es für die Beurteilung der Haftung des Radiologen auf diese Abgrenzung überhaupt an?

II. Wer haftet bei einem Fehler: Durchgangsarzt oder Radiologe?

Nach Art. 34 S. 1 GG haften anstelle eines Bediensteten, soweit dieser in Ausübung des ihm anvertrauten öffentlichen Amtes gehandelt hat, der Staat oder die Körperschaft, in dessen Dienst der Bedienstete steht. Die unmittelbare Haftung des Bediensteten gegenüber dem Geschädigten ist ausgeschlossen. Ordnet also ein Durchgangsarzt eine Röntgendiagnostik bei einem Verletzten an und würde es sich hierbei um eine hoheitliche Tätigkeit handeln, so würde der Radiologe gegenüber dem Patienten nicht haften, sondern der Unfallversicherungsträger. Würde hingegen in diesem Fall die Röntgendiagnostik aufgrund eines Behandlungsvertrages zwischen dem Radiologen und dem Verletzten durchgeführt, so würde nicht der Unfallversicherungsträger, sondern der Radiologe für einen etwaigen Behandlungsfehler haften. Je nachdem, ob der Radiologe bei der Röntgendiagnostik hoheitlich handelt (im Auftrag des Unfallversicherungsträgers) oder in Erfüllung seiner Verpflichtungen aus dem Behandlungsvertrag mit dem Verletzten, ist die Rechtslage also eine andere. Das hat erhebliche Auswirkungen für den Verletzten ebenso wie für den Radiologen. Verklagt der Verletzte den Radiologen z. B. wegen eines Diagnosefehlers, obwohl dieser die Röntgendiagnostik in Erfüllung des öffentlich-rechtlichen Auftrages des Unfallversicherungsträgers als hoheitliche Handlung durchgeführt hat, ist die Klage abzuweisen, da der Radiologe der falsche Beklagte ist (er ist nicht passivlegitimiert, wie der Jurist sagt). Der Verletzte hätte den Unfallversicherungsträger verklagen müssen.

Wonach richtet sich aber, ob die Tätigkeit des Radiologen eine hoheitliche Tätigkeit ist – mit der Folge, dass der Unfallversicherungsträger haftet – oder die Erfüllung des Behandlungsvertrages gegenüber dem Patienten? Dass die Abgrenzung im Einzelfall Schwierigkeiten machen kann, zeigt die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 10.03.2020, Aktenzeichen: VI ZR 281/19.


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III. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs: nur die Entscheidung des Durchgangsarztes über die Art der Heilbehandlung ist hoheitliches Handeln – Auswirkungen für den Radiologen

Im Fall des Bundesgerichtshofs ging es um einen Verletzten, der einen Arbeitsunfall in Gestalt eines Traumas im Bereich der rechten Schulter erlitten hatte. Da die Schmerzen in der rechten Schulter persistierten, stellte er sich bei einem Durchgangsarzt vor. Es handelte sich um die erste Behandlung nach dem Unfall. Der Durchgangsarzt führte eine Röntgendiagnostik durch und vermerkte als Befund

„Re. Schulter in 2 E.: Keine Fraktur“

und als Erstdiagnose

„Zerrung rechte Schulter, DD Rotatorenmanschettenruptur. S 43.4R“.

Der Durchgangsarzt ordnete die besondere Heilbehandlung durch sich selbst an, war sich aber hinsichtlich der Diagnose „Zerrung rechte Schulter“ nicht ganz sicher und veranlasste zum Ausschluss des differentialdiagnostisch von ihm erwogenen Verdachts auf Vorliegen einer Rotatorenmanschettenruptur ein Kernspintomogramm durch eine Berufsausübungsgemeinschaft mehrerer Radiologen (die selbst keine Durchgangsärzte waren). Der in der Berufsausübungsgemeinschaft mit dem MRT befasste Radiologe schloss in seinem Befundbericht an den Durchgangsarzt das Vorliegen einer Sehnenruptur aus. Die Behandlung durch den Durchgangsarzt erfolgte damit auf der Grundlage der Diagnose einer Zerrung der rechten Schulter. Eine wegen anhaltender Beschwerden durchgeführte weitere MRT-Untersuchung durch einen anderen Radiologen der Berufsausübungsgemeinschaft zeigte einen subtotalen Abriss der Supraspinatussehne am Tuberculum majus, was die operative Versorgung des Verletzten zur Folge hatte. Der Verletzte machte daraufhin geltend, die Ruptur sei bereits auf dem ersten Kernspintomogramm eindeutig erkennbar gewesen und verklagte die Berufsausübungsgemeinschaft. Infolge der grob behandlungsfehlerhaft erfolgten Verkennung des Befundes durch den Radiologen der Berufsausübungsgemeinschaft sei es zu einer Verzögerung der operativen Versorgung der Ruptur von mindestens sieben Monaten gekommen, dadurch habe er unter anderem erhebliche Schmerzen erlitten, was die Zahlung eines Schmerzensgeldes rechtfertige. Das erstinstanzliche Gericht, das Landgericht Trier, wies die Klage ab (Urteil vom 14.11.2018, Az. 4 O 121/16), auch beim nächsthöheren Gericht, dem Oberlandesgericht Koblenz (Urteil vom 19.06.2019, Az. 5 U 1543/18), hatte der Verletzte keinen Erfolg: Die radiologische Berufsausübungsgemeinschaft sei die falsche Beklagte.

Wie kamen das Landgericht und das Oberlandesgericht zu dieser Rechtsauffassung?

Die Befunderhebung und die Diagnose seien die Grundlage für die dem Unfallversicherungsträger obliegende, auf den Durchgangsarzt übertragene Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung ausreicht oder wegen der Schwere der Verletzung eine besondere Heilbehandlung erforderlich ist. Die vom Durchgangsarzt zur Diagnosesicherung veranlassten Maßnahmen (hier also die Anordnung eines Kernspintomogramms zum Zweck des Ausschlusses einer Ruptur) seien diesem öffentlich-rechtlichen Amt zuzuordnen. Der Durchgangsarzt habe nach röntgenologischem Ausschluss einer Fraktur zwar die Diagnose einer Zerrung der Schulter gestellt, differenzialdiagnostisch jedoch auch eine Rotatorenmanschettenruptur erwogen und deshalb das bildgebende Verfahren der Kernspintomografie angeordnet. Die Befundung der radiologischen Berufsausübungsgemeinschaft habe dazu geführt, dass der Durchgangsarzt bei der ursprünglich gestellten Diagnose verblieben sei und die besondere Heilbehandlung in Form einer Operation verneint habe. Die radiologische Berufsausübungsgemeinschaft habe daher hoheitlich gehandelt.

Der Verletzte mochte sich mit diesem Ergebnis nicht zufriedengeben und erhob Revision zum Bundesgerichtshof. Hier wendete sich das Blatt.

Ob sich das Handeln einer Person als Ausübung eines öffentlichen Amtes darstellt, bestimmt sich – so der Bundesgerichtshof unter Bezugnahme auf eine frühere Entscheidung zu dieser Thematik, dem Urteil vom 29.11.2016, Aktenzeichen VI ZR 208/15 – danach, ob das Ziel, auf das die jeweilige Tätigkeit ausgerichtet ist, einer hoheitlichen Aufgabe zuzurechnen ist und ob zwischen diesem Ziel und der schädigenden Handlung ein so enger äußerer und innerer Zusammenhang besteht, dass die schädigende Handlung ebenfalls als noch dem Bereich hoheitlicher Betätigung angehörend angesehen werden muss. Dabei ist nicht auf die Person des Handelnden, sondern auf seine Funktion, das heißt auf die Aufgabe abzustellen, deren Wahrnehmung die im konkreten Fall ausgeübte Tätigkeit dient.

Zunächst muss also ermittelt werden, ob das angestrebte Ziel einer hoheitlichen Aufgabe zuzurechnen ist. Die hoheitliche Aufgabe leitet der Bundesgerichtshof aus § 34 Abs. 1 SGB VII in Verbindung mit § 27 Abs. 1 des nach § 34 Abs. 3 SGB VII geschlossenen Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger ab. Mit der Entscheidung, ob bei einem Patienten, der einen Arbeitsunfall erlitten hat, die allgemeine oder die besondere Heilbehandlung erforderlich ist, erfüllt der Durchgangsarzt eine dem Unfallversicherungsträger obliegende Aufgabe. Deshalb ist diese Entscheidung als Ausübung eines öffentlichen Amtes zu betrachten. Das Ziel, dem Verletzten eine Heilbehandlung mit allen geeigneten Mitteln zukommen zu lassen, wird aber verfehlt, wenn die Entscheidung des Durchgangsarztes über die Art der Heilbehandlung fehlerhaft ist und der Verletzte dadurch geschädigt wird. In diesem Fall besteht also ein äußerer und innerer Zusammenhang zwischen dem angestrebten Ziel und der schädigenden Handlung; auch die schädigende Handlung ist damit öffentlich-rechtlicher Natur. In diesem Fall haftet für Schäden nicht der Durchgangsarzt persönlich, sondern die der Unfallversicherungsträger.

Die entscheidende Frage ist nun, welche Befunde der Durchgangsarzt für seine Entscheidung über die Art der Heilbehandlung benötigt.

Die vom Durchgangsarzt im Rahmen seiner Eingangsuntersuchung durchgeführten Untersuchungen und die anschließende Diagnose sind auch nach Auffassung des Bundesgerichtshofs als hoheitlich zu qualifizieren. Diese Maßnahmen sind regelmäßig unabdingbare Voraussetzung für die Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung oder eine besondere Heilbehandlung erfolgen soll. Sie bilden die Grundlage für die dem Unfallversicherungsträger obliegende, in Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgende Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung ausreicht oder wegen der Art oder Schwere der Verletzung eine besondere Heilbehandlung erforderlich ist, und stehen mit ihr in einem inneren Zusammenhang. Durchgangsärztliche Untersuchungen und die anschließende Diagnose sind regelmäßig unabdingbare Voraussetzungen für die Entscheidung, ob eine allgemeine Heilbehandlung oder eine besondere Heilbehandlung erfolgen soll. Ein Fehler in diesem Stadium wird regelmäßig dem Ziel entgegenstehen, eine möglichst frühzeitig nach dem Versicherungsfall einsetzende und sachgemäße Heilbehandlung zu gewährleisten. Dies gilt auch für vom Durchgangsarzt veranlasste Befunderhebung, die dem Ziel dient, eine Entscheidung über die Art der Heilbehandlung herbeizuführen.

Eigentlich hätte man angesichts dieses Gedankengangs des Bundesgerichtshofs eine Zurückweisung der Revision erwartet. Denn welchem anderen Ziel hätte denn die Befunderhebung mittels MRT durch die radiologische Berufsausübungsgemeinschaft dienen sollen, als die Diagnose des Durchgangsarztes abzusichern, es handele sich um keine Ruptur, eine operative Versorgung sei nicht erforderlich?


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Anders der Bundesgerichtshof

Die hoheitliche Tätigkeit des Durchgangsarztes sei mit der Entscheidung der Anordnung der besonderen Heilbehandlung nach Durchführung der Erstuntersuchung und Erstdiagnose durch den Durchgangsarzt beendet gewesen. Mit der im Durchgangsarztbericht dokumentierten Entscheidung für die besondere Heilbehandlung habe der Durchgangsarzt die Zäsur zwischen seinen hoheitlichen Pflichten und dem anschließenden privatrechtlichen Behandlungsverhältnis geschaffen. Die deshalb grundsätzlich als Zäsur im Sinne eines zeitlichen – nicht inhaltlichen – Abgrenzungskriteriums anzusehende Grenze bestehe auch dann, wenn zum Zeitpunkt der Entscheidung für die besondere Heilbehandlung noch nicht klar ist, wie sich diese gestalten wird. Die wesentliche Entscheidung zur Erfüllung der Steuerungsfunktion des Durchgangsarztes sei gemäß § 27 Abs. 1 des Vertrages Ärzte/Unfallversicherungsträger an dieser Schnittstelle angesiedelt, an der über die Durchführung einer allgemeinen Heilbehandlung, die Einleitung der besonderen Heilbehandlung oder die Ablehnung einer Heilbehandlung zu Lasten des Unfallversicherungsträgers zu entscheiden sei. Der Veranlassung nachfolgender Maßnahmen zur Absicherung der Diagnose und darauf gestützte Entscheidungen über den weiteren Verlauf der besonderen Heilbehandlung seien dann bereits Teil der Heilbehandlung und damit privatrechtlicher Natur. Daher sei die radiologische Berufsausübungsgemeinschaft nicht hoheitlich tätig geworden, die Haftung der radiologischen Berufsausübungsgemeinschaft gegenüber dem Verletzten sei daher nicht ausgeschlossen. Der Bundesgerichtshof hat den Fall zur weiteren Verhandlung zurückverwiesen.

Wie schmal im Fall des Bundesgerichtshofs die Trennlinie zwischen hoheitlichem und privatrechtlichem Handeln der radiologischen Berufsausübungsgemeinschaft war, zeigt folgende Überlegung: Hätte der Durchgangsarzt auf Grund seiner differentialdiagnostischen Erwägung, es könne sich auch um eine Ruptur handeln, über die Art der Heilbehandlung noch nicht entschieden, sondern zur Klärung dieser Frage ein Kernspintomogramm veranlasst, so wäre die Tätigkeit der radiologischen Berufsausübungsgemeinschaft auch nach der Auffassung des Bundesgerichtshofs in Ausübung eines öffentlichen Amtes erfolgt.

Wie ist aber die Rechtslage, wenn der Verletzte mit seinem Anspruch gegenüber dem Radiologen keinen Erfolg hat, weil dieser hoheitlich gehandelt hat?

In diesem Fall haftet der Unfallversicherungsträger dem Verletzten. Dies wirft die weitere Frage auf, ob der Unfallversicherungsträger Rückgriff nehmen kann.


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IV. Die Entscheidung des Landgerichts Bonn: Der Rückgriff des Unfallversicherungsträgers gegenüber dem Durchgangsarzt – Auswirkungen für den Radiologen

Unter welchen Voraussetzungen das möglich ist, beantwortet das Urteil des Landgerichts Bonn vom 26.3.2021, Aktenzeichen 9 O 216/20. In diesem Fall ging es um den Diagnoseirrtum eines Durchgangsarztes bei der Befundung eines Röntgenbildes, das ein Radiologe im Auftrag des Durchgangsarztes erstellt hatte. Der Durchgangsarzt hatte eine knöcherne Verletzung nicht erkannt, die sich der Versicherte bei einem Arbeitsunfall mit dem rechten Zeigefinger am Kreissägeblatt zugezogen hatte. Infolgedessen war auch eine damit einhergehende Strecksehnen- und Gelenkverletzung unerkannt geblieben und es kam deshalb zu einer nur unzureichenden Behandlung des Verletzten, was im weiteren Verlauf zu einer Infektion am Finger und der Notwendigkeit eines weiteren operativen Eingriffs und verbleibenden Bewegungseinschränkungen des rechten Zeigefingers führte.

Das Landgericht Bonn hat die Haftung des Unfallversicherungsträgers gegenüber dem Versicherten damit begründet, es sei – anders als im Fall des Bundesgerichtshofs – um Maßnahmen gegangen, hinsichtlich derer der Durchgangsarzt in Ausübung eines ihm öffentlich übertragenen Amtes tätig geworden sei. Da im Rahmen dieser Behandlung dem Durchgangsarzt ein unvertretbarer Diagnoseirrtum unterlaufen sei, müsse der Unfallversicherungsträger für diesen haften und zwar unabhängig davon, ob der Durchgangsarzt selbst oder ein Dritter (der Durchgangsarzt hatte einen Radiologen mit der Röntgenuntersuchung betraut) die durchgangsärztliche Behandlung vorgenommen habe, da der Unfallversicherungsträger auch für die vom Durchgangsarzt auf einen Dritten übertragene fehlerhafte Behandlung einzustehen habe.

Der Unfallversicherungsträger nahm nun seinerseits Rückgriff bei dem Durchgangsarzt. Dieser berief sich auf Art. 34 S. 2 GG. Danach sei der Rückgriff bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit zulässig, nicht aber bei normaler Fahrlässigkeit. Sein Diagnosefehler sei aber nicht grob fahrlässig und schon gar nicht vorsätzlich erfolgt. Zudem sei der Diagnosefehler auch dem Radiologen unterlaufen; der Unfallversicherungsträger möge daher Rückgriff bei dem Radiologen nehmen.

Das Landgericht Bonn folgte der Argumentation des Durchgangsarztes nicht.

Der Regressanspruch des Unfallversicherungsträgers gegenüber dem Durchgangsarzt ergebe sich nicht aus Art. 34 S. 2 GG (dann wäre der Rückgriff nur möglich bei vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Verhalten), sondern aus § 280 Abs. 1 BGB (analog). Die Unterwerfung des Durchgangsarztes (und des von ihm beauftragten Radiologen) unter die Regelungen des Vertrags Ärzte/Unfallversicherungsträger führe dazu, dass das zwischen den Unfallversicherungsträgern und dem Durchgangsarzt bestehende Leistungsbeschaffungsverhältnis öffentlich-rechtlicher Natur sei. Dieses öffentlich-rechtliche Leistungsbeschaffungsverhältnis stelle ein Schuldverhältnis im Sinne von § 280 Abs. 1 BGB (analog) dar.

Diese Rechtsauffassung des Landgerichts Bonn hat nun weitreichende Konsequenzen für die Haftung des Durchgangsarztes und weiterer Ärzte, die auf Veranlassung des Durchgangsarztes in die Behandlung des Verletzten eingebunden werden.

Der Diagnosefehler stellt sich gegenüber dem Unfallversicherungsträger als Verletzung der sich aus dem öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnis ergebenden Pflicht des Durchgangsarztes dar, eine ordnungsgemäße Tätigkeit zu erbringen. Denn hierzu gehört insbesondere, dass die erbrachte Leistung gegenüber dem Unfallversicherungsträger dem Maßstab des § 630a BGB entspricht, nach welchem die Behandlung nach den allgemein anerkannten Standards zu erfolgen hat. Diesem Maßstab war der Durchgangsarzt nicht nachgekommen, da das Röntgenbild, welches der Durchgangsarzt zu überprüfen hatte, erkennbar einen Knochendefekt aufwies, der vom Durchgangsarzt nicht erkannt worden war.

Des Weiteren kommt es nicht darauf an, ob der Durchgangsarzt selbst tätig geworden ist, weil er sich das schuldhafte Fehlverhalten des von ihm hinzugezogenen Radiologen zurechnen lassen muss. Denn durch das Veranlassen der Röntgenuntersuchung hat der Durchgangsarzt seine ihm gegenüber dem Unfallversicherungsträger bestehende Verantwortung nicht vollumfänglich delegiert in dem Sinne, dass er keinerlei Verantwortung mehr im Verhältnis zum Unfallversicherungsträger hat. Nach § 24 Abs. 3 des Vertrags Ärzte/Unfallversicherungsträger ist der Durchgangsarzt vielmehr verpflichtet, die Tätigkeit persönlich auszuüben. Dies gilt auch für die Auswertung der Befunde beim Einsatz der Röntgendiagnostik und anderer bildgebender Verfahren im unmittelbaren Zusammenhang mit der Beurteilung von Art und Schwere der Verletzung. Demnach schließt der Vertrag Ärzte/Unfallversicherungsträger gerade eine vollumfängliche Delegation der hoheitlichen Tätigkeit an andere Ärzte aus. Besonders deutlich wird dies auch in § 24 Abs. 4 des Vertrags Ärzte/Unfallversicherungsträger, wonach sich der Durchgangsarzt durch einen anderen Arzt vertreten lassen kann. Aus dem Wortlaut wird deutlich, dass § 24 Abs. 4 des Vertrags Ärzte/Unfallversicherungsträger nicht die Übertragung der hoheitlichen Tätigkeit des Durchgangsarztes auf einen anderen Arzt unter Ausschluss der eigenen Haftung erlaubt, sondern lediglich dessen Vertretung. „Vertretung“ bedeutet schon nach dem allgemeinen Sprachgebrauch das Handeln für einen anderen. Dementsprechend sind die Handlungen des Vertreters nach wie vor dem Vertretenen zuzurechnen und damit mittelbar auch dem Unfallversicherungsträger. Dies ist sachgerecht, weil der Unfallversicherungsträger den Durchgangsarzt gerade im Vertrauen auf seine besondere Kompetenz ausgewählt hat, so dass dieser auch für ein Verschulden von ihm eingesetzter Dritter einzustehen hat.

Anders als bei hoheitlich Bediensteten ist schließlich die Haftung bei einer Pflichtverletzung im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnisses nicht auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt.

Art. 34 S. 2 GG hat einen doppelten Zweck: Einerseits soll er die Entscheidungsfreudigkeit des Bediensteten und damit die Effektivität staatlichen Handelns fördern; andererseits ist er Ausdruck der dem Dienstherrn gegenüber dem Bediensteten obliegenden Fürsorgepflicht. Insbesondere die Fürsorgepflicht trifft den Dienstherrn aber grundsätzlich nur gegenüber Beamten, Angestellten und Arbeitern des öffentlichen Dienstes; im Ergebnis also gegenüber unselbstständigen Personen. Gegenüber dem Durchgangsarzt und dem von ihm beauftragten weiteren Ärzten besteht aber keine Fürsorgepflicht, da diese selbstständig sind, sich freiwillig für ihre Tätigkeit entschieden haben und daher das Risiko selbst abschätzen und versichern können. Auch wenn der Durchgangsarzt über das „Ob“ und das „Wie“ der Heilbehandlung entscheidet, stellt dies eine rein klassische medizinische Tätigkeit dar, die sich unter keinem Gesichtspunkt von der Tätigkeit eines rein privatrechtlich handelnden Arztes unterscheidet.

Der Durchgangsarzt haftet also gegenüber dem Unfallversicherungsträger für eigene Fehler, aber auch für Fehler weiterer, von ihm beauftragter Ärzte, wie z. B. eines Radiologen, den er mit der Röntgendiagnostik betraut.

Damit drängt sich eine weitere Frage auf: Kann der Durchgangsarzt seinerseits gegenüber dem Radiologen, dem ebenfalls ein Diagnosefehler unterlaufen war, Rückgriff nehmen? Nach der Rechtsauffassung des Landgerichts Bonn müsste man das bejahen. Der Durchgangsarzt hat den Radiologen in die öffentlich-rechtlich geprägte Leistungserbringung einbezogen und damit auch ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis zwischen sich und dem Radiologen begründet. Aber stimmt die Rechtsauffassung des Landgerichts Bonn überhaupt? Handelt der Durchgangsarzt nicht wie ein Arzt, der einen Patienten an einen weiteren Arzt, z. B. einen Radiologen, überweist mit der Folge, dass zwischen dem weiteren Arzt, z. B. dem Radiologen, und dem Unfallversicherungsträger ein unmittelbares Rechtsverhältnis entsteht, der weitere Arzt zusammen mit dem Durchgangsarzt dem Unfallversicherungsträger haftet und zwischen Durchgangsarzt und weiterem Arzt die Haftung nach dem Grad des jeweiligen Verschuldens aufgeteilt werden muss?


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V. Fazit

Was für den Durchgangsarzt und den von diesem hinzugezogenen Radiologen ein ganz praktisches Problem ist, nämlich wer gegenüber dem Unfallversicherungsträger bei einem Diagnose-/ Behandlungsfehler haftet, ist für den Juristen eine Fundgrube für rechtsdogmatische Überlegungen. Diese ergeben sich aus der Rechtsfigur des „hoheitlich Bediensteten“ und führen zu einer Kaskade von Haftung und Rückgriff. Das zeigt: Zum Gesundheitswesen des 21. Jahrhunderts passt die Rechtsfigur des „hoheitlich Bediensteten“ (von Ausnahmen wie dem Rettungsdienst abgesehen) nicht mehr.

Dr. Horst Bonvie
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Medizinrecht

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Publication History

Article published online:
11 February 2022

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