MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie 2022; 26(01): 7-9
DOI: 10.1055/a-1719-5233
Forum

Leserbrief zu: Horre T. Ziel: Motorradfahren trotz axialer Spondyloarthritis – ein Fallbeispiel. MSK 2021; 25: 175–181

Jochen Schomacher

In dem Fallbeispiel beschreibt Thomas Horre seine Behandlung eines 48-jährigen Patienten mit ankylosierender Spondylitis (AS), die er bezüglich Schmerzreduktion und Motivation erfolgreich durchführt [1]. Explizit erwähnt der Autor die „stark eingeschränkte Beweglichkeit“ des Patienten, die er mit passiven Mobilisationen angeht, welche „nur in Verbindung mit einer kontinuierlich durchgeführten Automobilisation“ effektiv sein könnten. Nach dem 5. Termin ist er „optimistisch, dass wenigstens eine Progression aufgehalten bzw. verlangsamt werden kann.“ Die im Fallbericht gezeigten Mobilisationen sind p.-a.-Schübe auf die Brustwirbelsäule (BWS) im Sitz (daheim auch von der Partnerin durchzuführen) und ein a.-p.-Schub auf das Sternum in Rückenlage für die obere BWS sowie dynamisch rotatorische Bewegungen im Liegen und Sitzen. Letztere soll der Patient auch zu Hause durchführen. Diese Maßnahmen mögen den Schmerz lindern, sind aber für die Bewegungseinschränkung nicht ausreichend.

Physiotherapie trägt bei Patient*innen mit AS primär zur Schmerzlinderung bei (neben den Medikamenten) und erhält bzw. fördert dadurch die Bewegungsfähigkeit. Ihr zweites wesentliches Ziel sollte es sein, die durch die Erkrankung bedingte Versteifung in möglichst aufrechter Haltung geschehen zu lassen.

Ein Erreichen des ersten Ziels zeigen verschiedene Studien nach 2–3 Monaten Behandlungsdauer [2], [3], [4], [5] wie auch das Fallbeispiel von T. Horre [1]. Ein solch relativ rascher Gewinn an Beweglichkeit lässt sich mit der Schmerzlinderung und mit der physikalischen Reaktion auf die dehnende Mobilisation (Creep und Entspannung) erklären. Um das zweite Ziel zu erreichen, ist nicht nur die Bewegungseinschränkung durch die schmerzhaften, entzündlichen Prozesse mit wiederholten Bewegungen anzugehen. Zusätzlich muss die durch die Immobilisation bzw. den Nichtgebrauch des vollen Bewegungsausmaßes entstandene Bewegungseinschränkung (Kontraktur) behandelt werden, auf die auch der Vertiefungsartikel der Ausgabe der MSK [6] hinweist. Dafür sind die beschriebenen Mobilisationen leider unwirksam. Seit langem ist bekannt, dass eine wenige Minuten dauernde p.-a. Mobilisation der Lendenwirbelsäule zwar den Schmerz reduziert, aber kaum bis nicht die Steifigkeit verändert [7], [8], [9]. Dies gilt auch für die Mobilisation der Brustwirbelsäule, sowohl mit Techniken nach Maitland [10] als auch mit Techniken nach Kaltenborn-Evjenth [11]. Ein Cochrane-Review zur Dehnung als Behandlung und Prävention von Kontrakturen zeigte anhand von 49 RCTs die klinisch nicht relevante Wirksamkeit der manuellen Dehnung [12], [13].

Statt kurzzeitiger Dehnung muss verkürztes periartikuläres Gewebe stimuliert werden, länger zu wachsen [14], [15]. Dabei ist der Gewinn an Bewegungsausmaß direkt proportional zu der Zeit, die das Gelenk am Bewegungsende gehalten wird [16]. In den Studien wurde die täglich stundenlange Behandlungsdauer mit Schienen erreicht (Review in [17], [18], [19]). In der physiotherapeutischen Literatur zu Gelenkmobilisation wie auch zur AS hat dieses wirksame Prinzip bisher kaum Verbreitung gefunden, obwohl es schon vor vielen Jahren publiziert wurde. Auch auf der Internetseite des Selbsthilfevereins Morbus Bechterew fehlen entsprechende Hinweise [20]. Daher gibt es zwar noch keine Studien, die eine Anwendung dieses Behandlungsprinzips bei der AS überprüft haben, jedoch genügend Studien für seine Wirksamkeit bei Gelenkkontrakturen (Review in [17], [18], [19])!

Therapeut*innen sollten in ihrem Clinical Reasoning die beiden Hauptursachen der abnehmenden Beweglichkeit bei AS separat betrachten: den Entzündungsschmerz und die Immobilisation bzw. den Nichtgebrauch, denn sie erfordern unterschiedliche Behandlungsstrategien. Die Kontraktur aufgrund der Immobilisation bzw. des Nichtgebrauchs benötigt ein tägliches, intensives und langdauerndes Halten am Bewegungsende, um ein Längenwachstum des verkürzten Gewebes zu stimulieren. Dafür spricht die wissenschaftliche Evidenz wie auch die Erfahrung der nordischen Manuellen Therapie. In letzterer haben beispielsweise Patient*innen mit AS den allgemein bekannten großen Mobilisationskeil entwickelt, um ihre BWS selbst mobilisieren zu können – eine wesentlich intensivere Technik als die von T. Horre beschriebenen. Für den langfristigen Erhalt der Lebensqualität des Patienten mit AS aus dem Fallbeispiel ist neben der Behandlung des Entzündungsschmerzes eine solche wirksame Therapie der Kontraktur wesentlich.

Dies gilt auch für die Thoraxbeweglichkeit, deren Bedeutung T. Horre für seinen Patienten bewusst ist, da er in seiner Schlussbemerkung schreibt: „Durch die oft deutliche thorakale Kyphose können auch pulmonale Dysfunktionen auftreten.“ Der Patient beklagt zudem eingangs, dass „kleinere, körperliche Tätigkeiten … sehr schnell zu Kurzatmigkeit“ führen. Doch die im Einführungsartikel der Ausgabe beschriebene Umfangmessung der Thoraxexkursion [21], die auch in den o. g. Studien benutzt wurde [2], [3], [4], [5], hat der Autor ebenso wenig angewandt wie gezielte Maßnahmen zu deren Erhalt bzw. Verbesserung. Leider haben wir Leser und Leserinnen nur von den ersten 5 Behandlungen erfahren. Vielleicht käme ja noch eine Ergänzung im oben genannten Sinne während der Folgetermine. Doch diese hätte T. Horre dem Patienten dann gleich zu Beginn oder doch zumindest den Leserinnen und Lesern am Ende des Artikels mitteilen sollen. Hilfreich für den Patienten wäre außerdem noch der Hinweis auf die Selbsthilfegruppen gewesen.

Zusammenfassend können die Bewegungseinschränkungen aufgrund von Schmerz und entzündlichen Prozessen bei Patient*innen mit AS auf vielfältige Weise angegangen werden, wie beispielsweise auch in der von T. Horre beschriebenen. Für die Bewegungseinschränkung als Immobilisations- bzw. Nichtgebrauchsfolge (Kontraktur) muss zusätzlich ein tägliches, intensives Halten der Gelenke am Bewegungsende ohne Schmerz erfolgen, sowohl für die Wirbelsäule als auch für den Thorax. Das klingt mühsam, ist jedoch recht einfach umzusetzen.

Jochen Schomacher, PhD



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Article published online:
14 February 2022

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