Neonatologie Scan 2022; 11(01): 1-2
DOI: 10.1055/a-1712-8684
Editorial

Wann wird der Notfall lebensgefährlich?

Axel Hübler
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Roland Hentschel
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Axel Hübler
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Roland Hentschel

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die Reanimation ist eine der herausforderndsten unter den akut notwendigen Aufgaben in der Medizin. Und weil das Ziel natürlich sein muss, erfolgreich zu reanimieren, ist diese Aufgabe stark angstbesetzt.

Viele Jahre intensiver Arbeit hat man darauf verwendet, evidenzbasierte Leitlinien für eine erfolgreiche Reanimation zu entwickeln. Dabei ist dies gar nicht so einfach, denn kontrollierte Studien sind – wie leicht zu vermuten ist – nur selten vorhanden und beziehen sich dann eher auf spezielle Fragestellungen zu einem Teilaspekt der Wiederbelebung. Stattdessen zieht man tierexperimentelle Studien heran, oder es wurden und werden retrospektiv Daten ausgewertet, die oftmals auch etliche nicht-standardisierte Behandlungsmaßnahmen in der Wiederbelebung als „Confounder“ enthalten. Kaum eine der wichtigen medizinischen „Aktionen“ ist so wenig standardisiert, wie die Reanimation, weil jede reanimationsbedürftige Situation sich unterschiedlich darstellt!

Noch undurchsichtiger sieht es für die Reanimationsempfehlungen bei Kindern aus, wo zumeist einfach vom „Erwachsenenmodell“ auf das Kind „heruntergerechnet“ wurde.

Für das Neugeborene ist die Situation jedoch vollkommen anders: die besondere respiratorische und kardiozirkulatorische Situation unmittelbar nach der Geburt erfordert gänzlich andere pathophysiologische Überlegungen und (teilweise) andere Maßnahmen und diese in anderer Reihenfolge („Lungenexpansion vor Herzdruckmassage“). Es ist deshalb notwendig, dass auch erfahrene Notärzte, Intensivmediziner und Anästhesisten, wenngleich sie von Berufs wegen ja häufig Wiederbelebungen in anderen Altersgruppen durchführen, regelmäßig in der Neugeborenen-Reanimation theoretisch und praktisch geschult werden.

Die Erfahrung lehrt, dass weniger die geringfügigen Veränderungen von Reanimationsleitlinien für die unterschiedlichen Altersgruppen, herausgegeben im Abstand von meist etwa 2 Jahren, wirklich relevant sind, sondern vielmehr das regelmäßige Training der praktischen Anwendung.

Die Angaben zur Häufigkeit von „Reanimationen“ unmittelbar nach Geburt schwanken zwischen 0,1 und 1 % aller Neugeborenen. Berücksichtigt werden muss dabei aber auch, dass in der englischsprachigen Literatur der Begriff „resuscitation“ sehr großzügig verwendet wird – zum Teil für jede invasive Intervention an einem Neugeborenen nach der Geburt. Die Gabe von Adrenalin, die eher unseren Sprachgebrauch für „Reanimation“ widerspiegelt, wird bei 6 von 10 000 Neugeborenen erforderlich. Wenngleich das zunächst als seltenes Ereignis erscheint, sollten auch Hebammen, Gynäkologen und Pädiater für diese wichtige Aufgabe regelmäßig ertüchtigt werden, denn der echte Notfall nach Geburt kommt zwar relativ selten, aber fast immer unerwartet und zu einem ungünstigen Zeitpunkt!

Aus allʼ den genannten Gründen war es uns wichtig, uns in unserer aktuellen Ausgabe einmal diesem Thema zu widmen.

Es ist das Verdienst des Teams um Irena Neustädter und Michael Schroth aus der Cnopfschen Kinderklinik in Nürnberg – allesamt erfahren in der Reanimationsschulung und aktiv in einem eigenen Fortbildungsprogramm –, die in Deutschland zur Verfügung stehenden Fortbildungskonzepte für den Neugeborenennotfall einmal genauer analysiert zu haben. Was bieten die unterschiedlichen Programme, was sind die jeweiligen Schwerpunkte, für welchen Anwenderkreis sind sie besonders geeignet, welche Formate setzen welchen Grad an Vorwissen voraus? Wir hoffen, Ihnen mit diesem Überblick nicht nur die Auswahl unter den Fortbildungsangeboten für sich selbst oder Ihr ganzes Team zu erleichtern, sondern vielleicht überhaupt erst einmal den Anstoß für die längst überfällige Schulung zu geben.

Wie wichtig ist regelmäßige Schulung? Eine Studie an 475 Krankenpflegeschülerinnen und -schülern in den USA, im Jahr 2020 veröffentlicht in PLoS One [1], gibt interessante Einblicke in die Lerneffekte der Reanimationsschulung: alle Studienteilnehmer waren zuvor in Basic Life Support ausgebildet, trotzdem beherrschte niemand (!) die Herzdruckmassage oder die Beatmung zum Zeitpunkt des ersten Testlaufs adäquat. Nach der Schulung besserten sich die Teilnehmenden signifikant für beide Kriterien, und tatsächlich war dieser Effekt auch über die insgesamt 4 Schulungen jeweils nachweisbar: die Testteilnehmer verbesserten sich von Mal zu Mal immer weiter. Ob das Intervall zwischen den Schulungen einen Tag, eine Woche, einen Monat oder 3 Monate betrug, war dabei vor dem Hintergrund der Streubreite der individuell erreichten Leistung eher zweitrangig.

In Zeiten wie diesen fällt einem unwillkürlich der Satz ein: „Jede Impfung zählt“ (2,4 Mio. Zitate im Netz!). Für das Reanimationstraining gilt das Gleiche: jede Schulung zählt, egal ob häufig oder (leider zu) selten!

Auch die andere, ebenfalls zutreffende, aber weniger zitierte Weisheit, soll Ihnen nicht vorenthalten bleiben: „Ein Notfall ist immer gefährlich, aber nur der nicht beherrschte Notfall wird wirklich lebensgefährlich!“

Lernen wir, den Notfall immer besser zu beherrschen! Durch konsequentes Training!

Ihre Herausgeber
PD Dr. med. Axel Hübler
Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Klinikum Chemnitz gGmbH

Prof. Dr. med. Roland Hentschel
Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg



Publication History

Article published online:
18 February 2022

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
  • Literatur

  • 1 Oermann MH, Krusmark MA, Kardong-Edgren S. et al. Training interval in cardiopulmonary resuscitation. PLoS ONE 2020; 15: e0226786