Einleitung
Zwischenmenschliche Berührungen (engl. social touch) stellen ein menschliches Grundbedürfnis
dar, da sie Empathie, Liebe, Fürsorge, Intimität und soziale Zugehörigkeit vermitteln
[1]
[2]. Die markinischen Berichte über den Modus der von Jesus bewirkten Heilungen, die
die vormals Kranken ins soziale Leben zurückführten, illustrieren dies in besonderer
Weise [3]. Ein Mangel an zärtlicher Berührung hinterlässt psychische und physische Schäden,
insbesondere bei Neugeborenen und Kindern [4]
[5]. Die experimentelle und klinische Forschung zur Bedeutung und zu den potenziellen
Mechanismen sowohl sozialer wie heilsamer Berührung hat in den letzten Jahrzehnten
eine Vielzahl von Erkenntnissen erbracht, die für viele Bereiche der klinischen Medizin
relevant, doch nach unserer Erfahrung vielen Ärztinnen und Ärzten nahezu unbekannt
sind. Zwar wird die moderne Medizin immer „biologischer“, körperzentrierter, übersieht
jedoch häufig die Unterscheidung zwischen belebtem Leib und objektivierbarem Körper,
wie sie auch modernen Embodiment-Konzepten [6] und der Rede vom „verkörperten Bewusstsein“ als Hintergrund einer Psychiatrie als
Beziehungsmedizin [7]
[8] zugrunde liegt. Daher wird nachstehend versucht, einen Bogen zwischen den Erkenntnissen
der modernen Berührungsforschung und der klinischen Medizin zu spannen. Unser besonderes
Augenmerk gilt in diesem Kontext den potenziellen Anwendungsgebieten von heilsamer
Berührung, z. B. in Form des „Affective Touch“ [9] bei psychischen und psychosomatischen Störungen, die sich nicht nur isoliert, sondern
typischerweise auch in Verbindung mit körperlichen Erkrankungen zeigen bzw. sich wechselseitig
bedingen – es sei exemplarisch nur an die breit gefächerte Schmerzsymptomatik oder
auch die erhöhte kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität depressiver Patienten erinnert
[10]. Die Integration moderner Studienergebnisse zu beispielsweise den therapeutischen
bzw. präventiven Effekten spezifischer Berührungstechniken in der Schwangerschaft
[11] oder der Depression in die praktische Medizin ist ein vielversprechendes Projekt,
welches spürbar internationalen Aufwind erfährt [12]
[13]
[14]. Freilich ist bislang offen, welche Fachdisziplin innerhalb der medizinischen Profession
sich dieser Aufgabe stellen will. Auch wenn wir uns im Folgenden vor allem der Depression
widmen, so ist dies nur ein Ausschnitt eines breiten Anwendungsfeldes ([Tab. 1]), das sich von der Neonatologie bis zur Geriatrie und Hospizarbeit erstreckt [15]. Wir schlagen daher eine neue Disziplin „Berührungsmedizin“ vor, die sich die Anwendung
manueller Berührungstechniken zur Prävention, Therapie oder Rehabilitation zu Nutze
macht. Es sei positiv vermerkt, dass heilsame Berührung in der Kranken- und Alterspflege
durchaus bereits angekommen ist. Die Berührungsmedizin schließt bereits etablierte
Techniken der Physiotherapie, Osteopathie oder manuellen Medizin und auch der Körperpsychotherapie
selbstverständlich nicht aus, sondern integriert sie in eine erweiterte Fachdisziplin,
die insbesondere auch die psychosozialen Aspekte von Gesundheit und Krankheit berücksichtigt.
Wir sehen die Berührungsmedizin nicht in einem Konkurrenzverhältnis zur sprechenden
Medizin oder Psychotherapie, doch vermittelt sie über die Haut und somit den Tastsinn
einen unmittelbaren Zugang zu Leibempfindungen (sog. Interozeption), die neben physiologischen
Regulationsmechanismen auch Verhalten, Emotion und Kognition beeinflussen [16].
Tab. 1
Wissenschaftlich belegte Wirksamkeit professioneller Berührung (Auswahl).
Fachgebiet
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Berührungsmedizinische Effekte
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Onkologie
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Schmerzen ↓, Fatigue ↓, Übelkeit ↓, Angst ↓, Depression ↓ (Cassileth & Vickers, 2004),
gesundheitsbezogene Lebensqualität ↑ (Crawford et al., 2016)
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Schmerztherapie
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Subakutes und chronisches Lumbalsyndrom ↓, Funktionsfähigkeit ↑ (Brosseau et al.,
2012), Nacken- und Schulterschmerzen ↓ (Kong et al., 2013), Spannungskopfschmerz ↓
(Espí-López et al., 2016), Migräne ↓ (Chaibi et al., 2011)
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Rheumatologie
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Fibromyalgie (Schmerzen ↓, Angst ↓, Depression ↓, gesundheitsbezogene Lebensqualität
↑) (Yuan et al., 2015)
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Kardiologie
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Essenzielle Hypertonie ↓ (Xiong et al., 2015), Herzratenvariabilität ↑ (Meier et al.,
2020)
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Gastroenterologie
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Obstipation ↓ (Ernst, 1999), Komplikationen bei enteraler Ernährung ↓ (Uysal et al.,
2012)
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Chirurgie
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Schmerzen ↓, Angst ↓, Entspannung ↑, Sedativa ↓ (Ramesh et al., 2015)
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Neurologie
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Multiple Sklerose (Fatigue ↓, Schmerzen ↓, Angst ↓, Depression ↓, Spastik ↓) (Heidari
et al., 2021), Parkinson (Entspannung ↓, Stress ↓, Lebensqualität ↑, Schlafstörungen
↓, Schmerzen ↓, Fatigue ↓, Angst ↓, Depression ↓) (Angelopoulou et al., 2020)
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Geburtshilfe
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Geburtsschmerzen ↓, Angst ↓ (Smith et al., 2012), postpartale Depression ↓ (Müller
& Grunwald, 2021)
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Neonatologie
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Gewicht ↑, Hospitalisierungszeit ↓ (Wang et al., 2013), Ikterus ↓ (Lei et al., 2018),
Stress durch medizinische Prozeduren ↓ (Roshanray et al., 2020), motorische Entwicklung
↑ (Field, 2019)
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Pädiatrie
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Asthma (Lungenfunktion ↑) (Wu et al., 2017), Angst ↓, Schlafstörungen ↓, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung
↓, Aggression ↓, posttraumatischer Stress ↓, atopische Dermatitis ↓, gastrointestinale
Beschwerden ↓ (Field, 2019)
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Psychiatrie
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Depression (auch als Komorbidität) ↓, Eigenschaftsangst ↓ (Moyer et al., 2004; Baumgart
et al., 2011), generalisierte Angststörung ↓ (Rapaport et al., 2016)
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Dermatologie
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Hypertrophe Narben nach Verbrennungen (Narbendicke ↓, Vaskularisation ↓, Pruritus
↓, Schmerzen ↓, Depression ↓) (Ault et al., 2018)
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Geriatrie
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Agitation, Aggression und Depression bei Demenz ↓ (Margenfeld et al., 2019)
|
Meilensteine der Berührungsforschung
Die Haut als Mittlerin der Berührung ist das größte Sinnesorgan des Menschen und bildet
sich im Rahmen der embryonalen Entwicklung aus dem Ektoderm – so wie auch das Nervensystem,
woraus eine ontogenetische Verbindung zwischen Haut und Psyche plausibel wird. Der
Tastsinn entwickelt sich als erster Sinn bereits sehr früh im Rahmen der embryonalen
Entwicklung, ungefähr um die achte Schwangerschaftswoche. Im Gegensatz zu den anderen
Sinnen wird ein kompletter Ausfall des Berührungssinns wohl nie beobachtet. Ein Mensch
kann taub oder blind geboren werden – ohne Tastsinn aber wäre er nicht lebensfähig
[17]. Wichtige Wegmarken der Berührungsforschung werden im Folgenden nachgezeichnet [1]
[18].
In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erschienen die ersten Publikationen zur
Bedeutung von Berührung, die sich in einer Schnittfläche zwischen Medizin und Entwicklungspsychologie
bewegten. René Spitz [19] erkannte die biologische Notwendigkeit der liebevollen Zuwendung an institutionalisierten
Säuglingen und Kleinkindern in Heimen, die nach Trennung von der Mutter zwar mit ausreichend
Nahrung und guten hygienischen Standards versorgt, aber nur wenig vom Personal berührt
und gehalten wurden. In der Folge kam es bei den Säuglingen zu einer hohen Sterblichkeit
und erheblichen Verhaltensstörungen. Ähnliche Folgen einer Berührungsdeprivation wurden
später auch bei rumänischen Waisenkindern beschrieben [2]. Wichtige Erkenntnisse der frühen Berührungsforschung wurden durch die Experimente
von Harlow gewonnen, der bei von ihren Müttern isolierten Rhesusäffchen mithilfe von
künstlichen Attrappen zeigte, dass die Stillung des Bedürfnisses nach Nähe und Körperkontakt
wichtiger als die Stillung des Hungergefühls ist und Auswirkungen auf die sozioemotionale
Entwicklung hat. Infolge dieser Experimente wurde die Bedeutung des Körperkontakts
von Bowlby und dessen Mitarbeiterin Ainsworth als wesentliche Grundlage für das Bindungsverhalten
des Menschen erkannt [12].
In der Folgezeit haben sich experimentelle Studien an Nagetieren mit den Auswirkungen
der unterschiedlichen Art und Weise, wie die Mütter ihre Jungen ausgiebig und zärtlich
berührten, beschäftigt – also mit einem Verhalten, das dem „Affective Touch“ beim
Menschen ähnelt und von dem wir annehmen, dass es unmyelinisierte C-Fasern (s. u.)
aktiviert [20]
[21]
[22]. Dieses spezifisch mütterliche Verhalten, das den Nachkommen epigenetisch zu verbesserten
kognitiven Leistungen [23] wie auch zu einer positiven hormonalen Stressantwort [24]
[25]
[26] verhilft, überträgt sich durch nicht-genomische Mechanismen an die weibliche Nachkommenschaft
und wird sichtbar, wenn diese selbst zu Muttertieren herangereift sind [27]
[28].
Bei frühgeborenen Menschenkindern, die nicht im Inkubator, sondern mit viel Haut-zu-Haut-Kontakt
(„Känguru“) heranwachsen, konnten sowohl eine verbesserte physiologische Stabilität
[29]
[30] wie auch eine beschleunigte bzw. verbesserte Hirnreifung beobachtet werden [31]
[32]
[33]
[34]. Längsschnittbeobachtungen bestätigen die durch die frühe Berührungserfahrung insgesamt
verbesserte Entwicklung [35]
[36].
Auch zum Termin Neugeborene profitieren von verstärktem mütterlichen Haut-zu-Haut-Kontakt,
wie neuere Studien gezeigt haben, welche die wegweisenden Forschungsergebnisse von
Ainsworth et al. [37] oder Main [38]
[39] voll bestätigt haben. Im Kontext dieses Artikels sei speziell auf Untersuchungen
zur Assoziation zwischen Art bzw. Intensität von frühem Körperkontakt, Bindung und
dem Risiko späterer psychischer Störungen wie z. B. Depression hingewiesen [35]
[40]
[41]
[42]
[43]
[44]
[45]. Früher Körperkontakt stellt folglich eine primärpräventive Intervention dar, die
sich positiv auf die physische und psychosoziale Gesundheit auswirkt [46].
Ein bedeutender Wendepunkt der Berührungsforschung war in den vergangenen 30 Jahren
die Entdeckung zuvor unbekannter nervaler Strukturen des taktilen Wahrnehmungssystems
[9]. Eine strukturell und funktionell unabhängige Gruppe niederschwelliger Mechanorezeptoren
stellt die von schwedischen Forschern in den 1980er-Jahren entdeckten C-taktilen (CT)
Afferenzen in der behaarten Haut von Menschen und Säugetieren dar, die wie die gesamte
C-Fasergruppe nicht myelinisiert sind und auf Berührungsqualitäten reagieren, die
einer zärtlichen Berührung entsprechen (z. B. Streicheln, Liebkosen, Kraulen, sanftes
Massieren). Unter experimentellen Bedingungen konnte nachgewiesen werden, dass CT-Afferenzen
optimal bei einer Streichelgeschwindigkeit von 1–10 cm/s unter Anwendung von sanftem
Druck und einem Temperaturoptimum, welches der Hauttemperatur entspricht, die stärkste
Feuerungsrate zeigen [47]. Die Aktivierung der CT-Afferenzen geht auf der psychologischen Ebene mit einem
Wohlgefühl einher, das sich aus wahrnehmungspsychologischer Sicht nicht einer Exterozeption,
sondern der Interozeption (d. h. einem inneren, wohligen Leibgefühl, s. u.) zurechnen
lässt [48]. fMRT-Befunde zeigten, dass die optimale Stimulation der CT-Afferenzen insbesondere
kortikale limbische Regionen aktiviert, z. B. die posteriore Insula [49]. Die Verarbeitung von CT-assoziierten Berührungen zeigt Überlappungen mit Zentren
auf, die auch an der Verarbeitung von Emotionen und sozialen Kognitionen beteiligt
sind [47]. Neuere Arbeiten sprechen dafür, dass neben den CT-Afferenzen auch andere neuronale
Strukturen als Basis für die wahrgenommenen Berührungseffekte eine wichtige Rolle
spielen könnten.
Abseits der neuronalen „Bottom-up“-Prozesse sind an der Verarbeitung von Berührungsreizen
auch „Top-Down“-Mechanismen beteiligt, die von hoher Relevanz sind. Insbesondere kontextuelle
„Top-down“-Faktoren entscheiden über die Qualität des Berührungserlebens; so hängt
z. B. die Rezeption einer Berührung maßgeblich von der berührenden Person ab („wer
berührt?“), andererseits aber auch von der zugrunde liegenden Intention („warum wird
berührt?“) [15]
[50].
Berührungsmedizin am Beispiel der Depressionsbehandlung
Konzeptueller Ansatz
Angesichts der hohen Zahl an depressiven Patienten werden zunehmend Stimmen laut,
dass die bislang verfügbaren Therapien – seien sie medikamentös oder psychotherapeutisch
– in der Summe eine keineswegs optimale Wirksamkeit besitzen [51]
[52]
[53]
[54]. Dies gilt auch für die derzeit stark propagierten Mindfulness-Techniken [55]. Etwa ein Drittel der Therapie-Responder klagt weiterhin über Restsymptome wie Schlafstörungen,
Antriebslosigkeit etc. [56]. Auch zeigte sich in einer neuen Studie aus der Universität Witten/Herdecke, dass
unter antidepressiver Medikation die körperliche Aktivierung durch emotionale Stimuli
herabgesetzt ist [57]. Dies deckt sich mit Befunden aus einer fMRT-Studie, die dämpfende Effekte des Antidepressivums
Escitalopram auf die Aktivität der Insula bei der Verarbeitung von Stimuli mit positiver
oder negativer Valenz nahelegt [58]. Die Suche nach weiteren komplementären bzw. integrativen Therapiemöglichkeiten
erscheint somit berechtigt.
Depression ist primär charakterisiert – unabhängig von ihrer jeweiligen Ausdrucksform
(Starre oder Erregung) – durch die Anhedonie, d. h. das Nicht-mehr-lustvoll-spüren-Können,
keine positiven Stimuli als solche mehr Perzipieren-Können; und dies betrifft nicht
nur die kognitive Ebene, sondern das gesamte Sensorium. Der im Leibraum richtungsgebende
Wechsel von Weitung und Engung im Sinne von Schmitz findet nicht mehr statt [59]. In der modernen, stark formalisierten psychiatrischen Diagnostik geht diese Grundsituation
in einer international konsentierten Symptomen-Aufzählung fast unter. Auch bleibt
bislang gänzlich unverstanden, in welcher Weise eine pharmakologische Behandlung die
anhedonische Primärstörung positiv beeinflussen kann. Es ist bezeichnend für die Wertvorstellungen
hochindustrialisierter Gesellschaften, dass der Besserung der Antriebslage („Patient
konnte am Tag X wieder … tun“) das primäre Interesse der Behandler und der Angehörigen
gilt.
Im Folgenden soll zunächst in den Vordergrund gestellt werden, dass die Depression
eine den ganzen Menschen affizierende Störung ist, die den Leib ebenso betrifft wie
die affektive und kognitive Ebene. Die Starre und Enge, die sich übermächtig und bedrohlich
um den depressiven Menschen legt, betrifft seine körperlichen Funktionen ebenso wie
seine psychischen, was sich auch z. B. im veränderten Zeiterleben ausdrückt, wie es
Fuchs unter Bezug auf u. a. von Gebsattel und Tellenbach dargestellt hat [60]. Der Soziologe Hartmut Rosa nimmt an, dass depressive Menschen „in eine gleichsam
‚stillstehende‘ Zeit fallen, die sich in eine zähe Masse verändert zu haben scheint.“
Jede „bedeutsame Verbindung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (S. 101)
geht dabei verloren [61]. Daraus lassen sich Konsequenzen für therapeutische Interventionen auf einer averbalen
Ebene ziehen, worauf später näher eingegangen wird.
Der depressive Zustand wird von vielen körperlichen Störungen nicht nur, wie es gerne
heißt, begleitet, sondern diese stellen ein Basissymptom der Depression dar, sodass
auch von „somatopsychischen“ (anstatt psychosomatischen) Syndromen gesprochen werden
könnte [62]. Der Leib des Depressiven – und „Leib“, gelebter/erlebter Leib, sei hier deutlich
unterschieden vom anatomisch zergliederbaren Körper – ist krank. Thomas Fuchs spricht
in diesem Kontext von der „Verkörperlichung“ des Leibes, d. h. die Kranken sind nicht
mehr in ihrem Leib zu Hause, er wird als widerständiger Körper erfahren [7]. Vielfältige Formen von körperlichem Schmerz, Brustenge, Schwindel, Herzklopfen,
Verlust von Appetit und Libido, Kälteschauer, Hitzewallungen, Magendruck, Unterkühlung
und Verkrampfung der Glieder usw. haben wir immer wieder an unseren depressiven Patienten/innen
beobachten können. Die Psychoanalytikerin Helga Pohl, die eine eigene „sensomotorische
Körpertherapie“ entwickelt hat, sieht in diesen Dauerkontraktionen einen wichtigen
pathogenetischen Aspekt und damit Ausgangspunkt therapeutischer Interventionen. Sie
weist darauf hin, dass zwar das für die Depression zentrale Gefühl, das der Bedrückung,
primär an der Vorderseite des Körpers, also im oberen Brustkorb lokalisiert wird,
dennoch aber Angst und Depression im ganzen Körper empfunden werden, sodass es zu
einer Anspannung der gesamten Beugemuskulatur kommt. Dementsprechend muss sich die
Streckermuskulatur am Rücken und Nacken kompensatorisch anspannen. Zusätzlich wird
durch die flache Atmung die Muskulatur unzureichend oxygeniert, sodass jede Bewegung
extrem mühsam wird, und die Glieder bleiern schwer, wie es so viele Patienten verbalisieren
[63]. So können wir diesen Zustand im Sinne Peter Sloterdijks auch als eine allgemeine
Kontraktion, als seelisch-körperliche „Ich-Schrumpfung“ beschreiben [64]. Eine unserer Patientinnen beschrieb ihr Erleben folgendermaßen: „Ich zog mich innerlich
immer mehr zusammen, bekam sogar körperliche Schmerzen von der Verkrümmung und Verkrampfung“.
Eine andere kommentierte: „Die Disharmonie zwischen Kopf und Körper … – als ginge
der Körper verloren, weil der Kopf so stark beansprucht ist…“.
Das subjektive Körpererleben in der Depression ist seltsamerweise viel seltener als
bei schizophrenen Patienten systematisch untersucht worden. Studien, auch aus unserem
eigenen Arbeitskreis, zeigen, dass Depressive ihre veränderte Leiblichkeit deutlich
empfinden und negativ bewerten [65]
[66]. Eine neue phänomenologisch-qualitative Studie deutet ebenfalls darauf hin, dass
Betroffene ihre leiblichen Empfindungen als Blockade, Schwere, Leere, Entfremdung
oder Lähmung im Kopf bzw. im ganzen Körper umschreiben [67]. Unsere Grundannahme war und ist, dass es möglich sein sollte, über den Weg der
heilsamen Berührung, die primär dem Zielorgan Haut gilt [68]
[69]
[70]
[71] einen averbalen Zugang zum depressiven Menschen zu gewinnen, sein Nicht-Fühlen-Nicht-Spüren-Können
quasi zu unterlaufen, seine Angst und Unruhe zu reduzieren, ihn wieder empfindungsfähiger
und ausdrucksfähiger zu machen. Der Patient könnte so eine neue Gegenwart erleben.
Als ein „Entmächtigen der Vergangenheit durch ein Ankommen im Hier und Jetzt“ beschrieb
es der Psychiater und Philosoph Hinderk Emrich einst unseren konzeptuellen Ansatz
[72]. Vorliegende klinische Studien unterstützen diese theoretische Erwartung, und in
der Tat haben uns Patienten immer wieder präzise berichtet, dass während der Massage
z. B. ihre depressiven Kognitionen zum Stillstand kamen.
Empirische Studien
In der Klinik des bekannten Schweizer Psychiaters Paul Kielholz erhielten alle depressiven
Patienten Nackenmassage, basierend auf der Dissertation und experimentellen Studie
von Maurer-Groeli. Außerdem wurde als Indikator für einen Therapieerfolg die Wiedererwärmungszeit
der Hände nach Kältebelastung gemessen [73]. Der klinische Psychologe Moyer und Mitarbeiter haben 2004 erstmals eine Metaanalyse
der seinerzeit verfügbaren Publikationen zur antidepressiven und anxiolytischen Wirksamkeit
von Massage vorgelegt und kamen zum Ergebnis, dass ihre Effektstärke derjenigen von
Psychotherapie bei den berücksichtigten Indikationen entspricht [74]. Baumgart et al. [75] untersuchten nach strengen Kriterien ausgewählte und bis 2009 publizierte 22 RCTs
an Patienten mit Depression oder Angststörungen. Es zeigte sich, dass die Validität
publizierter Ergebnisse in neuerer Zeit deutlich zugenommen hat. Überwiegend ergab
sich eine signifikante Überlegenheit von 30–60 Minuten dauernder Massage gegenüber
den verschiedenen Kontrollbedingungen, wobei die Verschiedenheit der letzteren aus
Sicht der Autoren der Durchführung einer Metaanalyse im Wege stand. In einigen Studien
konnten auch Langzeitwirkungen wahrscheinlich gemacht werden, und insgesamt ergaben
sich in Übereinstimmung mit Moyer et al. deutlichere Effekte bei depressiven Patienten
als bei solchen mit einer Angsterkrankung.
Die Ergebnisse des ersten deutschen RCT an stationär-depressiven Patienten sowie an
gesunden Probanden bewiesen eine eindeutige Überlegenheit der hierfür speziell entwickelten
Slow-Stroke-Massage gegenüber einer Kontrollbedingung ohne Berührung und führten zur
Zertifizierung dieser Technik durch den Verband für Physikalische Therapie [68]
[76]. In neuester Zeit konnten Baumgart et al. eine überlegene analgetische und antidepressive
Wirksamkeit der von ihnen entwickelten „psychoregulativen Massage“ bei Patienten mit
psychosomatischen Rückenschmerzen eindrucksvoll belegen. Besonders bemerkenswert war
die Nachhaltigkeit der Effekte über 3 Monate [77]. Auch Tiffany Field, Leiterin des Touch Research Institute in Miami (USA), hat schon
frühzeitig in mehreren Studien die antidepressive und analgetische Wirkung von Massage
unter Beweis stellen können [14]. Eine weitere kontrollierte Studie aus der Universität Würzburg an ambulanten depressiven
Patienten ergab ebenfalls eine klare Überlegenheit der hier eingesetzten affektregulierenden
Massage im Vergleich zu einem standardisierten Entspannungsverfahren [70].
Auch wenn aus methodischen Gründen derzeit noch manche Fragen offen bleiben [78] – beispielsweise nach der besten Kontrollbedingung in klinischen Studien – so ist
dennoch ein Stand der empirischen berührungsmedizinischen Forschung erreicht, der
eine Einführung dieser Behandlungsmöglichkeit an psychiatrischen oder psychosomatischen
Kliniken unseres Erachtens rechtfertigt.
Wirkungsmechanismen
„Massage ist eine kleine Psychotherapie“, schrieb Möller schon 1994 [79]. Gewiss gibt es nicht „den“ Wirkungsmechanismus der beschriebenen antidepressiven
sowie analgetischen Effekte von Massage, die übrigens auch z. B. bei Tumorpatienten
mehrfach nachgewiesen werden konnten [80]
[81], sondern sie müssen auf verschiedenen Erklärungsebenen, sowohl der neurophysiologischen
wie der psychologischen, aber auch auf der immunologischen Ebene diskutiert werden
[69]. Einige davon sind bereits oben angeklungen. Sicher spielt in diesem Zusammenhang
die Aktivierung der CT-Afferenzen und ihre Verbindung zum interozeptiven System eine
wichtige Rolle. Jedoch gibt es auch wichtige hormonale Wirkungsfaktoren, von denen
den oxytocinergen Effekten eine besondere Bedeutung zukommt. Verschiedene Wirkungen
einer psychoaktiven Massage (engl. „Affective Touch“) sind mit hoher Wahrscheinlichkeit
über das oxytocinerge System vermittelt; dies dürfte v. a. für die nachgewiesenen
antidepressiven und analgetischen Effekte (s. o.) gelten [82]
[83]. Deshalb soll im Nachstehenden auf das Oxytocin-System näher eingegangen werden.
Die zerebralen Oxytocin-Neurone haben ihren Ursprung im hypothalamischen Nucleus supraopticus
und N. paraventricularis (NPV). Sie projizieren in die posteriore Hypophyse, von wo
Oxytocin in die Blutzirkulation ausgeschüttet wird. Auf eine starke Stimulation hin
setzen Dendrite und Kerne dieser Neurone auch Oxytocin intrazerebral frei [84]. Weiterhin projizieren spezielle oxytocinerge Neurone vom NPV ausgehend in verschiedene
regulatorische Hirnareale, z. B. Locus caeruleus, periaquäduktales Höhlengrau, Raphe-Kerne
etc., die wichtige autonom-regulatorische Funktionen haben [85]. Axonkollaterale der zur Hypophyse ziehenden Neurone erreichen auch Amygdala, Insula
und Cortex [86]
[87]. Dieses komplexe System führt durch Oxytocin-Freisetzung zu vielfältigen physiologischen
Reaktionen: Im Vordergrund stehen dabei die Stimulierung prosozialen Verhaltens, die
Minderung von Angst und Stressniveau, die Förderung von Ruhe und Wohlbefinden, analgetische
und anti-inflammatorische Effekte, aber auch die Auslösung von regenerativen Prozessen
[83].
Das Oxytocin-System wird in Teilen oder zur Gänze in verschiedenen Situationen aktiviert,
z. B. ausgelöst durch unterschiedliche Arten sozialer Interaktion [82]
[83]
[88]. Dies kann auch unter somatosensorischer Stimulation wie etwa dem Geburtsvorgang
[89] oder dem Stillen [90] beobachtet werden. Aber auch die Aktivierung kutaner Afferenzen, insbesondere durch
sanftes Streicheln, stimuliert die Freisetzung von Oxytocin [91]. Der heutzutage gerne praktizierte enge Haut-zu-Haut-Kontakt zwischen Mutter und
Neugeborenem, bei dem statischer Druck ausgeübt wird, resultiert in einer bemerkenswert
starken Oxytocin-Freisetzung. Diese Beobachtung spricht für eine wichtige Rolle zusätzlicher
Rezeptoren in der Haut für die Hormonreaktion [92].
Da sanfte Hautberührung beim Menschen eine Oxytocin-Ausschüttung bewirkt, mit nachfolgender
Aktivierung serotonerger Raphe-Kerne sowie dopaminerger Neurone im Striatum und Nucleus
accumbens, legt auch die neurowissenschaftliche Erklärungsebene nahe, dass z. B. sanfte
Massagen die Stimmung positiv beeinflussen [93]
[94]. Die Aktivierung des oxytocinergen Systems dürfte hierbei eine bedeutsame Rolle
spielen [70]
[82]
[83]
[95]
[96].
Eine andere Erklärungsebene beruht auf dem Konstrukt der Interozeption. Interozeptionen
umfassen alle Leibempfindungen, die sich auf den physiologischen Zustand des gesamten
Körpers beziehen – also auch viszerale Sensationen und Reize von Thermo-, Chemo-,
Nozizeptoren sowie niederschwellige Mechanorezeptoren des Berührungssystems, die CT-Afferenzen
[97]. Hierbei nimmt die Insula eine zentrale Rolle bei der Integration aller Einzelempfindungen
zu einem leiblichen Selbst („material me“) ein [98]. Abseits homöostatischer Regulationsmechanismen legen neuere Befunde einen Einfluss
der Interozeption auf Affekt, Kognition und Verhalten nahe [16].
Die Interozeptions-Forschung liefert somit bedeutende Beiträge zur Pathogenese affektiver
Störungen, beispielsweise durch Bestätigung zentraler Annahmen älterer Emotionstheorien.
So postulierte William James gegen Ende des 19. Jahrhunderts, dass spezifische viszerale
Veränderungen in Reaktion auf einen Stimulus eintreten, die ihrerseits als Emotion
empfunden werden [99]. Entsprechend fanden wir im Rahmen einer systematischen Analyse Hinweise, dass insbesondere
Patienten mit mittelschwerer Depression schlechte Herzwahrnehmer sind – also die Zahl
ihrer Herzschläge innerhalb definierter Zeitintervalle gegenüber gesunden Kontrollen
signifikant unterschätzen, was auf eine gedämpfte kardiale Interozeption hinweist.
Diese Fähigkeit steht in einer komplexen Beziehung zu affektiven und kognitiven Symptomen
der Depression, z. B. zu affektiver Verflachung oder Entscheidungsschwierigkeiten
[100]. Maladaptive Aufmerksamkeitsstile gegenüber Interozeptionen, wie bspw. die Sorge
über unangenehme Leibempfindungen, vermindertes Körpervertrauen und gestörte interozeptive
Selbstregulationsmechanismen, stellen charakteristische Symptome der Depression dar,
deren Veränderungen prädiktiv für den Behandlungserfolg einer stationären Therapie
sind [101]
[102].
Wenn also die Massagetherapie die depressionstypische Anhedonie zu unterlaufen vermag
(s. o.), so kann vermutet werden, dass ihre klinischen Effekte über das interozeptive
System vermittelt werden [71]
[103]. Vorläufige Ergebnisse deuten darauf hin, dass interozeptive Zustände über die Haut
beeinflussbar sind, z. B. eine durch sanfte Berührung vermittelte Erhöhung der Genauigkeit
der Herzschlagwahrnehmung [104]
[105]. Diese Befunde sind für die Behandlung affektiver Störungen von Bedeutung, da Depressionen
mit einer verringerten Herzratenvariabilität einhergehen, die prädiktiv für kardiovaskuläre
Ereignisse ist [106].