Schmerz.Therapie 2022; 5(01): 7-8
DOI: 10.1055/a-1672-9232
Gelesen und kommentiert

Psychologische Aspekte in der Physiotherapie bei Rückenschmerz

Contributor(s):
Thomas Weiß

Zusammenfassung der Studie

Hintergrund

Chronischer Rückenschmerz gilt als eine der Hauptursachen für Frühberentungen und hohe Kosten im Gesundheitssystem [1]. In diesem Sinne stellen aktivitätsfördernde Interventionen ein Kernelement nahezu aller Guidelines dar. Allerdings wird immer deutlicher, dass einige Patient*innen komplexe negative Erfahrungen bei aktivitätsfördernden Interventionen erleben. Diese Negativerlebnisse werden in letzter Zeit häufig mit dem Begriff „Sensitivität auf physikalische Aktivität“ (SPA) beschrieben. Mit SPA ist das gesamte Spektrum aller negativen multidimensionalen und biopsychosozialen Antworten bei der Realisierung einer physischen Aktivität gemeint.

Die SPA wird hauptsächlich durch drei verschiedene Sub-Indizes beschrieben: ‚SPA_sensorisch‘ (SPA_s) bedeutet üblicherweise die Veränderung der mittels Algometer ermittelten Druckschmerzschwelle, ‚SPA_Schmerz‘ (SPA_p für pain) wird in der Regel mit der Numerischen Ratingskala (NRS 0 – 100) erfasst, ‚SPA_psychologisch‘ (SPA_ps) wird vorwiegend durch das Erfassen von Gefühlen und Gedanken der Patient*innen auf eine standardisierte motorische Aufgabe realisiert. Bis dato unbekannt waren der prognostische Wert dieser drei Parameter hinsichtlich des Erfolgs einer physiotherapeutischen Intervention sowie die Relation der Subparameter untereinander.


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Ziel

Die multinationale Arbeitsgruppe um Arthur Woznowski-Vu und Timothy H. Wideman von der ‚School of Physical and Occupational Therapy‘ der ‚McGill University‘ im kanadischen Montreal wollte die Wissenslücke hinsichtlich des prognostischen Werts der SPA für den physiotherapeutischen Behandlungserfolg bei Rückenschmerzen schließen und überdies die Beziehungen zwischen den drei Sub-Indizes eruieren.


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Methodik

Design observative Längsschnittstudie mit Eingangsuntersuchung und Drei-Monats-Nachuntersuchung entsprechend der PROGRESS-Empfehlungen für die Untersuchung prognostischer Faktoren [2]

Ein- und Ausschlusskriterien In die Studie eingeschlossen wurden Rückenschmerzpatient*innen mit einer entsprechenden Verordnung für Physiotherapie. Die Patient*innen waren älter als 17 Jahre und litten zu Studienbeginn seit höchstens sechs Monaten unter ihren Beschwerden. Die Rückenschmerzen mussten zwischen Gesäßfalte und Schulter lokalisiert sein.

Als Kriterien für den Ausschluss galten Rückenschmerzen aufgrund organischer Befunde wie Spinalkanalstenose, Spondylolyse, Spondylolisthese o. ä. Exkludiert wurden zudem medizinisch instabile Patient*innen mit anstehenden Operationen, vorliegenden Kontraindikationen für Physiotherapie oder unvollständigen Daten.

Final wurden 97 Personen in die Studie eingeschlossen. Diese wurden dann acht physiotherapeutischen Einrichtungen in Montreal zugewiesen.

Durchführung/Intervention Drei speziell geschulte Physiotherapeuten waren für die Eingangsuntersuchung und die Datenerfassung zuständig, führten ein standardisiertes Physiotherapieprogramm sowie die Nacherhebungen durch, waren aber nicht in die Auswertung der Daten involviert. Die Studie wurde zwischen Dezember 2015 und April 2019 realisiert.

In der Baseline unterschrieben die selektierten Probanden eine Einwilligungserklärung, füllten verschiedene Fragebogen aus – so u. a. den ‚Pain Disability Index‘ (PDI), das ‚Brief Pain Inventory‘ (BPI) und die ‚Pain Catastrophizing Scale‘ (PCS) – und absolvierten schließlich eine standardisierte Bewegungsaufgabe mit einem individuell angepassten wiederholten Heben zur Erfassung der SPA mit Subskalen. Zudem wurden demografische Daten wie Alter, Geschlecht, Body-Mass-Index etc. protokolliert.

Im drei Monate später durchgeführte Follow-up wurden im persönlichen Gespräch mit den Probanden, online oder via Telefon die aktuellen Scores aus PDI und BPI erfasst.

Da die meisten Daten nicht normalverteilt waren, wurden Spearman-Korrelationen – eine Methode, um Zusammenhänge zwischen Variablen zu berechnen – gerechnet. Zur Bewertung des prognostischen Werts der SPA-Subskalen wurden unterschiedliche hierarchische lineare Regressionsmodelle genutzt.


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Ergebnisse

Keine der demografischen Daten wie Alter, Geschlecht oder Body-Mass-Index etc. zeigte eine statistisch signifikante Assoziation mit einer der Outcome-Variablen. Die psychologische Sensitivität auf physikalische Aktivität, SPA_ps, war die einzige SPA-Subskala, welche eine lineare Korrelation mit dem PDI-Outcome und dem Schmerz-Outcome aufwies. Gleichzeitig war die SPA_ps auch die einzige Subskala, die einen hoch signifikanten prognostischen Wert für das PDI- und das Schmerz-Outcome zeigte. Der prognostische Wert der SPA_ps blieb für die PDI selbst dann erhalten, wenn hinsichtlich der Baseline-Werte von PDI und PCS korrigiert wurde. Darüber hinaus fanden die Autoren noch Korrelationen zwischen SPA_ps und SPA_p, nicht aber zwischen SPA_ps und SPA_s.


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Schlussfolgerung

Die jüngst im ‚Clinical Journal of Pain‘ publizierte Studie ist die erste ihrer Art, welche den prognostischen Wert der SPA-Subskalen auf den Therapieerfolg einer standardisierten Physiotherapie bei akutem oder subakutem Rückenschmerz untersucht. Dabei ergibt die bis dato in der Literatur wohl am wenigsten berücksichtigte psychologische Subskala den höchsten Prädiktionswert. Im Vergleich zu früheren Studien spielte möglicherweise die recht moderate Belastungsaufgabe eine Rolle und war vielleicht dafür verantwortlich, dass die eigentlich auch korrelierende Subskala für Schmerz (SPA_p) nicht ebenfalls signifikant prognostisch war. Woznowski-Vu et al. sehen deshalb als eine wichtige Konsequenz aus ihrer Untersuchung die Notwendigkeit, die motorische Aufgabe zur Erfassung der psychologischen Sensitivität auf physikalische Aktivität zu standardisieren.


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Publication History

Article published online:
05 January 2022

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
  • Literatur

  • 1 Global Burden of Disease Study 2013 Collaborators. Global, regional, and national incidence, prevalence, and years lived with disability for 301 acute and chronic diseases and injuries in 188 countries, 1990–2013: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2013. Lancet 2015; 386(9995): 743-800 DOI: 10.1016/S0140-6736(15)60692-4.
  • 2 Riley RD, Hayden JA, Steyerberg EW. et al. Prognosis Research Strategy (PROGRESS) 2: prognostic factor research. PLoS Med 2013; 10 (02) e1001380 DOI: 10.1371/journal.pmed.1001380.