ergopraxis 2022; 15(01): 30-31
DOI: 10.1055/a-1660-9688
Therapie

Die Rückkehr an den Arbeitsplatz begleiten – Assessment: Work-ability Support Scale (WSS)

Michèle Häberli
,
Thomas Nyffeler
,
Tim Vanbellingen
 

Welche Unterstützung benötigt ein Mensch mit erworbener Hirnschädigung, um wieder seinen Beruf auszuüben? Dieser Frage geht die Work-ability Support Scale auf den Grund. Das Besondere an dem Assessment: Neben dem persönlichen Unterstützungsbedarf erfasst die WSS außerdem die Kontextfaktoren rund um den Arbeitsplatz.


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In unserer Gesellschaft hat Arbeit einen großen Stellenwert. Und die Rückkehr in die Arbeitswelt wirkt sich positiv auf die Lebensqualität von Patient*innen mit einer erworbenen Hirnschädigung (wie Schlaganfall oder SHT) aus [1]–[3]. Diese Rückkehr kann positiv, aber auch negativ beeinflusst werden. So beziehen sich negative Faktoren einerseits auf die Schwere der Hirnschädigung (z. B. schwere motorische oder sprachliche/kognitive Einschränkungen). Andererseits bestehen negative Faktoren auch im individuellen Kontext, beispielsweise wenn der fehlende Führerschein das Risiko erhöht, nicht in die Arbeitswelt zurückzukehren [4]–[6].

Faktoren, die sich positiv auf die berufliche Rückkehr auswirken, sind zum Beispiel höhere Bildung und eine optimistische Erwartung an die Genesung [4]–[6]. Auch die Koordination der beruflichen Reintegration und interprofessionelle Interventionen beeinflussen die Wiedereingliederung positiv [4]. Zudem äußern Patient*innen, die erfolgreich an den Arbeitsplatz zurückkehrten, dass sie die individuelle Unterstützung durch Fachpersonen als positiv erlebten [2].

Barrieren und Ressourcen erheben

Fadyl et al. (2015) erwähnen, dass Fachkräfte der beruflichen Integration/Arbeitsrehabilitation genau solche Faktoren erfassen sollen [7]. Ein Instrument, das dies ermöglicht und die Planung der beruflichen Wiedereingliederung unterstützt, ist die Work-ability Support Scale (WSS).

Es gibt bereits verschiedene Instrumente für die berufliche Wiedereingliederung, jedoch beurteilen diese oft nur die funktionellen Fähigkeiten, sie sind zeitaufwendig oder lassen Kontextfaktoren außen vor. Die WSS beurteilt den Unterstützungsbedarf einer Person in der natürlichen Arbeitsumgebung und erhebt darüber hinaus die Kontextfaktoren rund um den Arbeitsplatz [7].


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Entwicklung der WSS

Ein Forschungsteam um Dr. Joanna Fadyl entwickelte die WSS zwischen 2013 und 2015 [8]. Es sammelte mittels Expertise der Anspruchsgruppe (Patient*innen, Ärzt*innen, Ergotherapeut*innen, Fachpersonen von Sozialversicherungen) die Faktoren, welche die Rückkehr an den Arbeitsplatz beeinflussen, und nahmen diese als Items in die WSS auf.

Damit ist die Work-ability Support Scale ein wertvolles Instrument, um Patient*innen in der beruflichen Integration zu begleiten: Sie lässt sich in verschiedenen Phasen der Rehabilitation einsetzen und hilft beim Definieren des Vorgehens und beim Abschätzen des Unterstützungsbedarfs am Arbeitsplatz. Sind zum Beispiel bei einer Person die körperlichen Items sehr niedrig bewertet, so benötigt diese mehr Hilfestellung durch das Umfeld bei physisch fordernden Tätigkeiten. Je nach Jobprofil sollte dann mit der Wiederaufnahme der Arbeit noch abgewartet werden.


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Voraussetzungen

Zunächst benötigen Therapeut*innen detaillierte Kenntnisse über die berufliche Tätigkeit der Patientin bzw. des Patienten. Um die Arbeitssituation zu erfassen, gibt es zum Beispiel auf der Homepage des King‘s College London hilfreiche Tools (ZUSATZINFO) [9].

Die WSS wird auf der Grundlage von Beobachtungen oder Interviews ausgefüllt. Der Zeitaufwand beträgt insgesamt 15 bis 40 Minuten. Die Beurteilung der Items erfordert von den Durchführenden die Imagination des Arbeitsumfelds der Patient*innen und Erfahrung im Bereich der beruflichen Integration.


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Durchführung

Das Instrument besteht aus zwei Teilen: Teil A erfasst den Unterstützungsbedarf von 16 verschiedenen körperlichen, kognitiven und Verhaltensfunktionen ([ABB. 1]). Die Beurteilung ist an die FIM-Skala angelehnt (1 = völlig unselbstständig, 7 = völlig selbstständig) [10]. Zum Beispiel werden beim ersten Item „Physis und Motorik“ die motorischen Fertigkeiten für die Tätigkeit beurteilt wie Kraft, Koordination, Gleichgewichtsfunktion, Bedienen von Maschinen etc. Bei einem Wert 7 ist die größtmögliche Selbstständigkeit vorhanden, bei einem Wert 4 wird regelmäßig Unterstützung notwendig und die Produktivität ist geringfügig beeinträchtigt.

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ABB. 1 Teil A des Assessments erfasst den persönlichen Unterstützungsbedarf einer Person anhand einer 7-stufigen Skala (1 = völlig unselbstständig, 7 = völlig selbstständig). Quelle: B. Vögele und M. Häberli, Luzerner Kantonsspital

Teil B erfasst 12 Kontextfaktoren, die in persönliche Faktoren (z. B. Arbeitswunsch), Umweltfaktoren am Arbeitsplatz (z. B. Unterstützung durch Kollegen) und Barrieren (z. B. gesetzliche Hürden) unterteilt sind ([ABB. 2]). Die Kontextfaktoren werden anhand einer 3er-Skala beurteilt (-1 = nein, 0 = neutral, +1 = ja).

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ABB. 2 Teil B des Assessments (rechts als Auszug) erhebt die Kontextfaktoren, unter anderem persönliche Faktoren und Umweltfaktoren am Arbeitsplatz. Quelle: B. Vögele und M. Häberli, Luzerner Kantonsspital

Insgesamt sind maximal 124 Punkte erreichbar. Um das Ergebnis zu bewerten, enthält die WSS Entscheidungsbäume.


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Gute Gütekriterien

Die Gütekriterien wurden bisher in zwei Studien erhoben [11], [12]. Die Intra-Class-Zuverlässigkeit für den Teil A ist ausgezeichnet und gut im Teil B [11]. Somit ist besonders der Teil A problemlos durch einen anderen Tester auszuführen.

Die Inter- und Intrarater-Zuverlässigkeit ist gut bis sehr gut [11]. Die Gütekriterien der validierten chinesischen Version unterstützen diese Angaben: Der Teil A hat eine exzellente interne Konsistenz, und eine gute Inhaltsvalidität liegt vor [12]. Die interne Konsistenz ist bei Teil B niedriger, wobei zu beachten ist, dass diese Items kontextbezogen sind und daher subjektiver erfasst werden [12].


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Empfehlenswert in der beruflichen Reha

Die Studien zeigen, dass die WSS valide und reliabel ist [11], [12]. Allerdings wurden die Studien in einem anderen kulturellen Kontext (angelsächsisch und chinesisch) ausgeführt. Die Work-ability Support Scale ist praktikabel und mit wenig Zeitaufwand durchführbar. Sie erfasst den Rehabilitationsbedarf, alle beeinflussenden Faktoren und ist hilfreich in der Planung der beruflichen Wiedereingliederung – empfehlenswert in der beruflichen Rehabilitation von neurologischen Patient*innen.

Michèle Häberli, Thomas Nyffeler, Tim Vanbellingen

Zusatzinfo

WSS im Internet

Auf der Homepage des „King’s College London“ gibt es die englischsprachige WSS sowie weitere nützliche Tools (z. B. Work Questionnaire) kostenfrei zum Download [9]: bit.ly/work-ability-support-scale .

Im Jahr 2017 übersetzten Bernadette Vögele und Michèle Häberli (Luzerner Kantonsspital) die WSS ins Deutsche. Wer sich für die deutschsprachige Version (nicht validiert) interessiert, kann die Autorin kontaktieren: michele.haeberli@luks.ch .


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Autor*innen

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Michèle Häberli, Ergotherapeutin BSc, Leiterin Therapien und Klinikmanagerin Ambulante Neurorehabilitation, Neurozentrum Luzerner Kantonsspital
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Prof. Dr. med. Thomas Nyffeler, Neurologe und Chefarzt Neurorehabilitation, Neurozentrum Luzerner Kantonsspital,
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PD Dr. phil. Tim Vanbellingen, Physiotherapeut, Leiter motorische Therapien, Neurozentrum Luzerner Kantonsspital

Publication History

Article published online:
04 January 2022

© 2022. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Michèle Häberli, Ergotherapeutin BSc, Leiterin Therapien und Klinikmanagerin Ambulante Neurorehabilitation, Neurozentrum Luzerner Kantonsspital
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Prof. Dr. med. Thomas Nyffeler, Neurologe und Chefarzt Neurorehabilitation, Neurozentrum Luzerner Kantonsspital,
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PD Dr. phil. Tim Vanbellingen, Physiotherapeut, Leiter motorische Therapien, Neurozentrum Luzerner Kantonsspital
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ABB. 1 Teil A des Assessments erfasst den persönlichen Unterstützungsbedarf einer Person anhand einer 7-stufigen Skala (1 = völlig unselbstständig, 7 = völlig selbstständig). Quelle: B. Vögele und M. Häberli, Luzerner Kantonsspital
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ABB. 2 Teil B des Assessments (rechts als Auszug) erhebt die Kontextfaktoren, unter anderem persönliche Faktoren und Umweltfaktoren am Arbeitsplatz. Quelle: B. Vögele und M. Häberli, Luzerner Kantonsspital