Aktuelle Dermatologie 2021; 47(12): 552-557
DOI: 10.1055/a-1660-4813
Originalarbeit

COVID-19-Lockdown beeinträchtigt medizinisch notwendige Patientenversorgung – eine retrospektive Analyse während der ersten Welle in einer dermatologischen Hochschulambulanz im Frühjahr 2020

COVID-19-Lockdown Impacts Medical Care – A Retrospective Analysis of the First Wave at a University Outpatient Clinic in Spring 2020
Martin Gschnell
Klinik für Dermatologie und Allergologie, Standort Marburg, Marburg
,
Pauline Federspiel
Klinik für Dermatologie und Allergologie, Standort Marburg, Marburg
,
Ronald Wolf
Klinik für Dermatologie und Allergologie, Standort Marburg, Marburg
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Hintergrund Die seit Ende 2019 sich ausbreitenden COVID-19-Infektionen haben zu weitreichenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens geführt. Um eine Überlastung des deutschen Gesundheitssystems zu verhindern, wurden im medizinischen Bereich elektive Behandlungen während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 stark eingeschränkt.

Patienten und Methoden In dieser Studie wurde der Einfluss des Lockdowns im Frühjahr 2020 auf das Patientenaufkommen in einer dermatologischen Hochschulambulanz analysiert und mit entsprechenden Zeiträumen der Vorjahre 2018 und 2019 verglichen. Die Patientendaten wurden dem krankenhausinternen Dokumentationssystem nach standardisierten Kriterien entnommen.

Ergebnisse Im Frühjahr 2020 war ein signifikanter Patientenrückgang um 28,3 % im Vergleich zu 2018 und um 28,7 % im Vergleich zu 2019 ersichtlich, zumeist waren Erstvorstellungen betroffen. V. a. bei der Anzahl der Patienten mit chronisch-entzündlichen Erkrankungen und Tumorerkrankungen gab es Rückgänge zu verzeichnen. Insbesondere ältere Risikopatienten mit malignen Erkrankungen haben sich im Lockdown weniger häufig vorgestellt. Altersspezifische Unterschiede wurden nicht festgestellt, jedoch kam es zur Beeinträchtigung der Vorstellungshäufigkeit bei nicht-binären Minderheiten.

Schlussfolgerungen Die Ergebnisse der Studie zeigten einen Rückgang der Vorstellungsbereitschaft von Patienten mit dermatologischen Erkrankungen während des Lockdowns. Erkrankungen konnten länger unerkannt bleiben und infolge des dadurch bedingten späteren Behandlungsbeginns zu schwereren Krankheitsverläufen und schlechteren Therapiemöglichkeiten führen. Insbesondere bei Patienten mit bösartigen Erkrankungen kann dies zu einer schlechteren Prognose führen.


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Abstract

Background The spread of COVID-19 infections since the end of 2019 has led to far-reaching restrictions on public life. In order to avoid overloading the German health system, elective medical treatments were severely restricted in the medical sector during the first lockdown in spring 2020.

Patients and methods In this study, the influence of the lockdown in spring 2020 on the number of patients in a dermatological university outpatient clinic was analyzed and compared with the corresponding periods of the previous years 2018 and 2019. The patient data was taken from the hospital's internal documentation system according to standardized criteria.

Results In spring 2020 there was a significant decrease in patients by 28.3 % compared to 2018 and by 28.7 % compared to 2019, especially patients who presented to the university outpatient department for the first time were particularly affected. Above all, there was a decline in the number of patients with chronic inflammatory diseases and tumor diseases. Age-specific differences were not found, except older patients with malignant diseases in particular presented less frequently during lockdown. Non-binary minorities presented less frequently in 2020 compared to the two previous years.

Conclusions The results of the study showed a decrease in the willingness of patients with dermatological diseases to introduce themselves during the lockdown. Illnesses could remain undetected for longer and, as a result of the later start of treatment, lead to more severe disease courses and poorer therapeutic options. Especially in patients with malignant diseases, this can lead to a poorer prognosis.


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Einleitung

Die seit Ende 2019 erstmals in Wuhan (China) aufgetretene, durch das Coronavirus SARS-CoV-2 (SARS = schweres akutes respiratorisches Syndrom) ausgelöste Coronavirus-Krankheit 2019 (COVID-19) ist weltweit von immenser Bedeutung [3].

Am 27. Februar 2020, einen Monat nach der ersten bestätigten Infektion in Deutschland, wurde im Bundesland Hessen erstmals eine Infektion nachgewiesen [4] [5]. Aufgrund der weltweiten Verbreitung erklärte die WHO am 11. März 2020 den Ausbruch des SARS-CoV-2 zu einer Pandemie [6].

Eine Infektion mit SARS-CoV-2 ist regelhaft mit einem asymptomatischen bis leichten Verlauf mit grippeähnlichen Symptomen vergesellschaftet. Nur selten wird eine schwere Manifestation bis hin zu einem letalen Verlauf gesehen [7]. Die Langzeitfolgen der Erkrankung und ihrer Behandlung sind noch nicht abschließend erforscht. Viele Patienten beschreiben nach überstandener Erkrankung mindestens noch ein Symptom, meist wird hier Müdigkeit oder Atemnot angegeben [8]. Ein hohes Alter, Komorbiditäten und das biologisch-männliche Geschlecht sind nach aktuellem Forschungsstand Risikofaktoren für einen schweren Verlauf [9] [10]. Um Risikogruppen zu schützen und einer Überlastung des deutschen Gesundheitssystems vorzubeugen, wurden von der deutschen Regierung zahlreiche Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie beschlossen [11] [12] [13]. Alle medizinisch nicht zwingend notwendigen, planbaren Aufnahmen, Operationen und Eingriffe sollten verschoben oder ausgesetzt werden [14] [15].

Die folgende Studie soll die Auswirkungen des SARS-CoV-2-Pandemie-Lockdowns auf das Patientenaufkommen in der dermatologischen Hochschulambulanz des Universitätsklinikums in Marburg untersuchen. Dazu wurde ein Vergleich zu denselben Zeiträumen in den Vorjahren 2019 und 2018 vorgenommen, in denen keine Beeinflussung durch eine COVID-19-Pandemie bestand. Es erfolgte die Analyse, ob der Lockdown Auswirkungen auf das Verhalten und die medizinische Versorgung der dermatologischen Patienten im Allgemeinen und für spezielle Risikogruppen hatte.


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Patienten, Material und Methoden

Für die Studie im retrospektiven Studiendesign wurden die Patientendaten von 5742 Patienten der dermatologischen Hochschulambulanz des Marburger Universitätsklinikums erhoben. Erfasst wurden die Daten aller Patienten, welche zu den regulären Öffnungszeiten der dermatologischen Hochschulambulanz (HSA) in dem Zeitraum zwischen dem 16. März und dem 04. Mai der Jahre 2018, 2019 und 2020 erschienen sind oder einen bestehenden Termin absagten. Des Weiteren wurde die Anzahl der Patienten, deren Termin seitens der HSA abgesagt wurde, erfasst. Die dermatologische Hochschulambulanz war an Wochenenden und Feiertagen geschlossen. Die Daten wurden durch das Programm Orbis, ein Krankenhaus-Informationssystem von AGFA Healthcare, ermittelt. In den oben genannten Zeiträumen wurde der Tagesterminplan in Orbis aufgerufen und die relevanten Daten aller an dem Tag in der dermatologischen Hochschulambulanz behandelten Patienten erfasst. Ferner wurde die Anzahl der Patienten mit abgesagten Terminen dokumentiert. Aufgrund des hohen täglichen Patientenaufkommens und der dadurch entstandenen großen Datenmenge war es möglich, eine repräsentative retrospektive Analyse durchzuführen. Patienten, die in dem Zeitraum der Datenerhebung die dermatologische HSA mehrfach aufsuchten, wurden entsprechend vermerkt. Die Daten wurden mithilfe des Programms Microsoft Office in einer zuvor erstellten Excel-Tabelle nach verschiedenen Parametern, beginnend mit dem Jahr 2018 und endend mit dem Jahr 2020, gesammelt.

Die statistische Auswertung erfolgte mit Microsoft Excel und IBM SPSS statistics, Version 27. Der Shapiro-Wilk-Test wurde verwendet, um die Normalverteilung der Variablen zu prüfen. Zur Signifikanzprüfung wurde der Zweistichproben-Binominaltest, der Mann-Whitney-U-Test, Chi-Quadrat-Test und der Wilcoxon-Test verwendet. Ein p-Wert < 0,05 wurde als signifikant angesehen.


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Ergebnisse

Deutlicher Rückgang der Patientenvorstellungen in der Hochschulambulanz während des Lockdowns

In den untersuchten Zeiträumen der Jahre 2018 und 2019 ohne Lockdown ist der Anteil der wahrgenommenen Termine in der Hochschulambulanz (HSA) mit jeweils über 90 % auf demselben Niveau. Im Analysezeitraum des Jahres 2020 befand sich Deutschland im ersten Pandemie-Lockdown und der Anteil der wahrgenommenen Termine ist um ein Drittel gesunken ([Abb. 1 a]).

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Abb. 1 a Patientenaufkommen: Anteil der abgesagten Termine und wahrgenommenen Termine im Untersuchungszeitraum in 2018, 2019 und 2020. Die Absagen wurden unterteilt in die von den Patienten abgesagten Termine und die von der Hochschulambulanz abgesagten Termine. 2018 (p < 0,001) und 2019 (p < 0,001) wurden signifikant weniger Termine abgesagt als in 2020. Als Analysemethode wurde der Zweistichproben-Binominaltest verwendet. *:p ≤ 0,05; **:p ≤ 0,01; ***:p ≤ 0,001. b Absagen im Verlauf des Untersuchungszeitraumes von 16.03–27.04 in den Jahren 2018, 2019 und 2020.

Des Weiteren ist bei den Terminabsagen zu erkennen, dass ohne Lockdown im Jahr 2018 und 2019 die Quote der Absagen zwischen 5 und 6 % lag. Im Vergleich dazu wurden im Zeitraum des Lockdowns im Jahr 2020 7-mal mehr Absagen verzeichnet ([Abb. 1 a]). Die Absagen im Jahr 2020 wurden weiter aufgeschlüsselt in Absagen seitens der Patienten und in Absagen durch die Hochschulambulanz. Anlass waren die offiziellen Anweisungen und Appelle der Politik, nicht dringende medizinische Eingriffe zu verschieben ([Abb. 1 a]). In den Jahren 2018 und 2019 gab es keine politischen Maßnahmen zur Reduktion der medizinischen Eingriffe. Absagen der Abteilung selbst wurden in den Vorjahren nicht erfasst, es handelte sich, wenn überhaupt, nur um vereinzelte Termine aus organisatorischen Gründen.


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Anstieg der Terminabsagen in der Hochschulambulanz während des Lockdowns

In den Zeiträumen der Jahre 2018 und 2019 ist die tägliche Anzahl an Terminabsagen in der HSA auf einem tendenziell gleichbleibenden niedrigen Niveau. Im Jahr 2018 wurden im Durchschnitt täglich 3,0 Termine abgesagt. 2019 lag der Wert bei 3,1 Terminen pro Tag, wohingegen im Jahre 2020 23,3 Termine pro Tag dokumentiert wurden.

Die Anzahl der Terminabsagen hat im Jahr 2020 über den Untersuchungszeitraum hinweg stetig abgenommen und war dennoch bis zum 27. 04. 2020 signifikant höher als in den Jahren 2018 und 2019 ([Abb. 1 b]). Politische Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie erklären den Anstieg der Terminabsagen zu Beginn des Lockdowns. Am 12. 03. 2020 beschloss die deutsche Bundesregierung in einer Besprechung der Bundeskanzlerin mit den Regierungen der Länder, dass in Krankenhäusern in Deutschland ab dem 16. 03. 2020 alle medizinisch nicht zwingend notwendigen Aufnahmen, Operationen und Eingriffe verschoben oder ausgesetzt werden sollten [14]. Die Patienten sagten daraufhin ihre Termine ab oder versäumten sie, und auch die HSA selbst musste nicht dringend notwendige Termine absagen. Mit dem Einsetzen von Lockerungen im öffentlichen Bereich war ein Rückgang der Absagen in 2020 erkennbar. Ab dem 27. 04. 2020 traten zusätzlich Lockerungen im medizinischen Bereich in Kraft, und es folgte ein weiterer Rückgang der Absagen [16]. Der Lockdown und die damit verbundenen sich täglich ändernden Maßnahmen führten zu einer Dynamik im Terminabsageverhalten der Patienten.


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Im Lockdown weniger Behandlungen nicht-binärer Minderheiten

In allen drei Untersuchungszeiträumen waren keine signifikanten Unterschiede in der Verteilung der klassischen biologischen Geschlechter (männlich, weiblich) bei den Patienten mit wahrgenommenen und abgesagten Terminen erkennbar ([Tab. 1]).

Tab. 1

Geschlechterverteilung der vorstelligen Patienten und der abgesagten Patienten im Untersuchungszeitraum in 2018, 2019 und 2020.

Geschlecht

männlich

weiblich

diverse

wahrgenommene Termine

2018

683

701

1

2019

747

787

3

2020

641

618

0

Terminabsagen

2018

 45

 51

0

2019

 45

 55

0

2020

321

424

2

Jedoch ist zu erwähnen, dass im Lockdown keine Patienten mit dem Geschlecht „divers“ vorstellig waren, sondern ihren Termin abgesagt haben (insgesamt 0,27 % der Absagen in 2020). In den beiden Vorjahren ohne Lockdown sagte keine Person mit dem Geschlecht „divers“ ihren/seinen Termin ab ([Tab. 1]). Allerdings handelte es sich bei der Personengruppe „diverse“ um eine sehr kleine Stichprobe, und es kann nur vermutet werden, dass diese Patienten im Jahr 2020 den Besuch der HSA vermieden haben. Diese Fragestellung müsste in weiteren Studien untersucht werden.


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Lockdown blockiert Erstvorstellungen und Behandlung von Patienten mit chronisch-entzündlichen und malignen Hauterkrankungen

Mithilfe weiterer Parameter wurden die Merkmale der vorstelligen Patienten untersucht. Patienten, welche die Einrichtung nicht kannten und dort noch nie behandelt wurden, waren im Lockdown 2020 signifikant seltener vorstellig als in den beiden Vorjahren. Somit war die Anzahl der wiederkehrenden Patienten, die sich entweder in einer laufenden Behandlung befanden oder schon einmal zu einem früheren Zeitpunkt in der HSA behandelt wurden, im Lockdown im Frühjahr 2020 höher als in den Vorjahren ([Abb. 2 a]).

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Abb. 2 a Anteil der Erstvorsteller (EV) und Wiederkehrer (WK) im Untersuchungszeitraum in 2018, 2019 und 2020. Erstvorsteller sind Patienten, welche zuvor in der HSA noch nicht vorstellig waren. Wiederkehrer befinden sich in einer laufenden Behandlung oder wurden zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal in der HSA behandelt. Im Untersuchungszeitraum des Jahres 2018 (p < 0,001) und 2019 (p < 0,001) waren signifikant mehr Erstvorsteller als im Jahr 2020. Die statistische Auswertung erfolgte mittels dem Zweistichproben-Binominaltest. ***:p ≤ 0;001. b Vergleich der Absolutzahlen einzelner Diagnosegruppen im Untersuchungszeitraum in den Jahren 2018, 2019, 2020. Unterteilung in folgende Diagnosegruppen: C00-97 = bösartige Neubildungen der Haut 2020 im Vergleich zu 2018 (p < 0,001) und zu 2019 (p < 0,001); D10-36 = gutartige Neubildungen 2020 im Vergleich zu 2018 (p < 0,018) und zu 2019 (p = 0,183) ; L10-14 = bullöse Dermatosen 2020 im Vergleich zu 2018 (p = 0,022) und zu 2019 (p = 0,094); L40-45 = papulosquamöse Hautkrankheiten 2020 im Vergleich zu 2018 (p < 0,001) und zu 2019 (p < 0,001); B00-09 = Virusinfektionen, die durch Haut- und Schleimhautläsionen gekennzeichnet sind 2020 im Vergleich zu 2018 (p = 0,075) und zu 2019 (p = 0,118). Als statistisches Testverfahren wurde der Chi²-Anpassungstest verwendet. *:p ≤ 0,05; **:p ≤ 0,01; ***:p ≤ 0,001.

In der HSA wurden die Diagnosen nach dem ICD 10-Code dokumentiert und in Hauptgruppen unterteilt. Generell war ein Patientenrückgang in allen Diagnosegruppen mit ausreichender Stichprobengröße erkennbar. Über Diagnosen, welche in der HSA im Untersuchungszeitraum nur vereinzelt gestellt wurden, war keine Aussage zu treffen.

In der Patientengruppe mit bösartigen Neubildungen der Haut (mit dem ICD 10-Code C00-97) wurde ein signifikanter Rückgang um 31,5 % im Vergleich zu 2018 und um 34,8 % im Vergleich zu 2019 verzeichnet. Auch Patienten mit den Diagnosen papulosquamöse Hautkrankheiten (mit dem ICD 10-Code L40-45) waren im Vergleich zu dem Jahr 2019 und 2018 signifikant seltener vorstellig. So zeigte sich auch in anderen Diagnosegruppen ein Rückgang der Absolutzahlen in 2020 im Vergleich zu den beiden Vorjahren.

Im Lockdown war die Anzahl der Patienten mit der Diagnose einer gutartigen Neubildung (ICD 10-Code D10-36) im Vergleich zu 2018 signifikant geringer. Patienten mit bullösen Dermatosen (ICD 10-Code L10-14) waren 2020 signifikant weniger vorstellig als im Jahr 2018, jedoch nicht signifikant niedriger als im Jahr 2019. Die Zahl der Patienten mit Virusinfektionen, die durch Haut- und Schleimhautläsionen (ICD 10-Code B00-09) gekennzeichnet sind, war tendenziell im Jahre 2020 niedriger als in den Vorjahren, wenn auch nicht signifikant.

Hier ist zu erwähnen, dass es im Jahr 2020 eine personelle Aufstockung im Bereich der Arztstellen gab und somit mehr Termine zur Verfügung standen. Daher ist zu vermuten, dass der Rückgang der Patientenvorstellungen bei weniger ärztlichen Kapazitäten noch stärker hätte sein können. Auch wenn nicht alle Rückgänge signifikant waren, war ein Rückgang dennoch in allen Gruppen erkennbar.


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Lockdown verzögert Behandlung maligner Erkrankungen von Risikogruppen

Beim Vergleich des Altersdurchschnittes aller vorstelligen Patienten wurde kein signifikanter Unterschied zu den beiden Vorjahren festgestellt. Ebenso wurden keine signifikanten altersspezifischen Unterschiede innerhalb der Patientengruppen mit Absagen gefunden. Im Vergleich des Durchschnittsalters der Patienten einzelner Diagnosegruppen war in der Gruppe der bösartigen Neubildungen der Haut (ICD 10-Code C00-C97) ein signifikanter Rückgang im Jahr 2020 festgestellt worden ([Tab. 2]). Es ist zu vermuten, dass Patienten mit einem hohen Alter und einer maligen Erkrankung (ICD 10-Code C00-97) im Lockdown 2020 weniger vorstellig waren, da sie aufgrund dieser beiden Risikofaktoren als besonders gefährdet für eine COVID-19-Infektion galten. Die anderen Diagnosegruppen zeigten keine signifikanten Unterschiede im Durchschnittsalter ([Tab. 2]).

Tab. 2

Altersdurchschnitt (in Jahren) einzelner Diagnosegruppen vorstelliger Patienten im Untersuchungszeitraum in 2018, 2019 und 2020: bösartige Neubildungen der Haut; gutartige Neubildungen; bullöse Dermatosen; papulosquamöse Hautkrankheiten; Virusinfektionen, die durch Haut- und Schleimhautläsionen gekennzeichnet sind. Als Analysemethode wurde der Mann-Whitney-U-Test verwendet.

Diagnosegruppen nach ICD-10-Codes

Untersuchungszeitraum 16.03.–03.05.

2018

2019

2020

p-Werte im Vergleich zu 2018

p-Werte im Vergleich zu 2019

C00-97

69,4

73,0

63,4

< 0,001

< 0,001

D10-36

34,4

39,0

38,4

0,287

0,994

L10-14

66,0

64,0

63,0

0,319

0,909

L40-45

49,0

51,0

48,0

0,778

0,165


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Diskussion

Die Ergebnisse zeigen, im Vergleich zu den beiden Vorjahren, einen signifikanten Patientenrückgang verbunden mit einem signifikanten Anstieg der Absagen im Jahr 2020. Mit dem Beschluss der hessischen Landesregierung vom 17. März 2020, das öffentliche Leben größtenteils einzuschränken, war die Anzahl der abgesagten und versäumten Termine gestiegen und nahm erst Ende April im Zusammenhang mit den ersten Lockerungen zur Eindämmung der Pandemie stetig ab. Am 27. April wurde eine schrittweise Lockerung der Beschränkungen in der medizinischen Versorgung beschlossen [17]. Zu Beginn der politischen Maßnahmen haben viele Patienten ihren Termin versäumt. Dies könnte durch die Unsicherheit der Patienten im Umgang mit einer Pandemie erklärt werden. Neben der Angst vor der Pandemie können auch Faktoren wie die tägliche Berichterstattung der Medien und die Betreuung der Kinder, welche durch landesweite Schulschließungen während der Pandemie zu Hause betreut werden mussten, die hohe Zahl der Absagen mitbegründen. Die Patienten konnten nicht wie gewohnt in Begleitung die Hochschulambulanz (HSA) aufsuchen. Gerade für ältere Menschen könnte dies ein Hindernis darstellen. Die dermatologische Hochschulambulanz befindet sich im Gebäude des Universitätsklinikums in Marburg, in dem nach Vorgabe der Klinikleitung Hygienemaßnahmen, wie die Einhaltung von Abständen, das Tragen eines Mund-Nasenschutzes, Besuchsverbote und Symptombefragungen umgesetzt worden waren. Diese Maßnahmen könnten sich auf das Besucherverhalten der Ambulanz ausgewirkt haben. Das hoch frequentierte Universitätsklinikum mit großen Menschenmengen könnte ebenfalls bei vielen Patienten zu einer Angst vor einer Ansteckung geführt haben.

Allerdings war der Patientenrückgang nicht nur in der Klinik zu sehen, sondern war auch bei niedergelassenen Dermatologen erkennbar, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass Patienten ihre Behandlung dort haben durchführen lassen [18].

Nicht nur in der Dermatologie war ein Rückgang der Patientenvorstellungen zu sehen, sondern auch in Notaufnahmen sowie im stationären und ambulanten Bereich aller Fachrichtungen [18] [19] [20]. Auch Studien aus anderen Ländern wie den USA dokumentieren einen deutlichen Patientenrückgang [21]. Es ist zu vermuten, dass durch die zahlreichen Absagen der Patienten Erkrankungen später diagnostiziert wurden, Therapieerfolge dadurch minimiert wurden und sich dadurch Prognosen einiger Patienten verschlechtert haben. Diese Vermutungen stimmen mit unseren persönlichen Erfahrungen überein.

V. a. in der Gruppe der bösartigen Neubildungen der Haut ist das Durchschnittsalter der vorstelligen Patienten im Jahr 2020 im Vergleich zu den beiden Vorjahren signifikant gesunken. Patienten mit einem hohen Alter und einer malignen Erkrankung waren im Lockdown im Frühjahr 2020 seltener vorstellig. Dies führte einerseits zu diagnostischen und therapeutischen Verzögerungen und andererseits zu schlechteren Prognosen und einem erhöhten Aufkommen dieser Patienten im fortgeschrittenen Stadium im Sommer 2020. Gerade maligne Erkrankungen bedürfen einer zeitnahen Diagnostik und Therapie [2].

Obwohl laut aktuellem Forschungsstand ein hohes Alter und das männliche Geschlecht als Risikofaktoren für einen prognostisch ungünstigeren Verlauf der COVID-19-Infektion gelten, konnte die Studie keinen weiteren Einfluss auf die Parameter Geschlecht und Durchschnittsalter nachweisen [10].

Des Weiteren ist bei der Anzahl der Erstvorstellungen in der Hochschulambulanz ein starker Rückgang zu erkennen. Gerade in dieser Gruppe sind die Folgen des Nichterscheinens auf die Gesundheit des jeweiligen Patienten ungewiss. Es ist zu vermuten, dass viele Patienten die Dringlichkeit einer Behandlung aufgrund fehlender Fachkenntnisse nicht sicher beurteilen konnten.

Die Erkenntnisse der Studie sollten dazu beitragen, in womöglich kommenden Pandemien bzw. erneuten COVID-19-Wellen die Auswirkungen auf die medizinische Versorgung zu minimieren. Patienten muss von Politik, Wissenschaft und Medien vermittelt werden, dass trotz Pandemie und Kontaktbeschränkung die medizinische Versorgung weiterhin bestehen bleibt. Die Folgen einer Absage von Terminen zu Vorsorgeuntersuchungen wie auch während laufenden Behandlungen oder bei akuten Beschwerden müssen den Patienten bewusst gemacht werden. Auch seitens der Politik ist in weiteren Studien zu untersuchen, welche Folgen das Absagen von nicht medizinisch dringlichen Eingriffen auf die Gesundheit der betroffenen Menschen hat.

An der Studie ist zu kritisieren, dass, wie bereits oben erwähnt, auch andere Faktoren wie die Angst vor der Pandemie den Patientenrückgang und Schwankungen an einzelnen Tagen mitbegründen können. Da es sich um ein retrospektives Studiendesign handelt, wurden die Patientendaten nicht eigenständig erfasst, sondern durch das medizinische Personal der Hochschulambulanz.


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Abkürzungen

COVID-19: Coronavirus-Krankheit 2019
HSA: Hochschulambulanz


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Interessenkonflikt

M. G. erhielt Honorare der Firmen Sanofi, Allmiral, Novartis, Kyowa Kirin.


Korrespondenzadresse

Dr. med. univ. Martin Gschnell
Klinik für Dermatologie und Allergologie
Standort Marburg
Baldingerstraße
35043 Marburg
Deutschland   

Publication History

Article published online:
10 December 2021

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Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany


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Abb. 1 a Patientenaufkommen: Anteil der abgesagten Termine und wahrgenommenen Termine im Untersuchungszeitraum in 2018, 2019 und 2020. Die Absagen wurden unterteilt in die von den Patienten abgesagten Termine und die von der Hochschulambulanz abgesagten Termine. 2018 (p < 0,001) und 2019 (p < 0,001) wurden signifikant weniger Termine abgesagt als in 2020. Als Analysemethode wurde der Zweistichproben-Binominaltest verwendet. *:p ≤ 0,05; **:p ≤ 0,01; ***:p ≤ 0,001. b Absagen im Verlauf des Untersuchungszeitraumes von 16.03–27.04 in den Jahren 2018, 2019 und 2020.
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Abb. 2 a Anteil der Erstvorsteller (EV) und Wiederkehrer (WK) im Untersuchungszeitraum in 2018, 2019 und 2020. Erstvorsteller sind Patienten, welche zuvor in der HSA noch nicht vorstellig waren. Wiederkehrer befinden sich in einer laufenden Behandlung oder wurden zu einem früheren Zeitpunkt schon einmal in der HSA behandelt. Im Untersuchungszeitraum des Jahres 2018 (p < 0,001) und 2019 (p < 0,001) waren signifikant mehr Erstvorsteller als im Jahr 2020. Die statistische Auswertung erfolgte mittels dem Zweistichproben-Binominaltest. ***:p ≤ 0;001. b Vergleich der Absolutzahlen einzelner Diagnosegruppen im Untersuchungszeitraum in den Jahren 2018, 2019, 2020. Unterteilung in folgende Diagnosegruppen: C00-97 = bösartige Neubildungen der Haut 2020 im Vergleich zu 2018 (p < 0,001) und zu 2019 (p < 0,001); D10-36 = gutartige Neubildungen 2020 im Vergleich zu 2018 (p < 0,018) und zu 2019 (p = 0,183) ; L10-14 = bullöse Dermatosen 2020 im Vergleich zu 2018 (p = 0,022) und zu 2019 (p = 0,094); L40-45 = papulosquamöse Hautkrankheiten 2020 im Vergleich zu 2018 (p < 0,001) und zu 2019 (p < 0,001); B00-09 = Virusinfektionen, die durch Haut- und Schleimhautläsionen gekennzeichnet sind 2020 im Vergleich zu 2018 (p = 0,075) und zu 2019 (p = 0,118). Als statistisches Testverfahren wurde der Chi²-Anpassungstest verwendet. *:p ≤ 0,05; **:p ≤ 0,01; ***:p ≤ 0,001.