Schlüsselwörter
Urolithiasis - Versorgungsforschung - Register - Medizininformatik-Initiative - MIRACUM
- Digitalisierung
Einführung
Mit einer Lebenszeitprävalenz von etwa 10% in industrialisierten
Ländern zählen Harnsteine (Urolithiasis) zu den Volkskrankheiten
[1]
[2]. Neben Blasensteinen sind diese zum Großteil (mehr als
95%) Nieren- oder Harnleitersteine, also Steine des oberen Harntraktes.
Betroffen sind häufig 30–50-Jährige, Männer 1,4-mal
häufiger als Frauen. Die gesundheitsökonomischen Folgen durch
Behandlungskosten und Arbeitsausfälle sind hoch und übersteigen die
anderer häufiger urologischer Erkrankungen, wie der gutartigen
Prostatavergrößerung oder des Prostatakrebses [3]. Die Erkrankten erleiden häufig
akute, extrem schmerzhafte Nierenkoliken, welche zum Teil einer stationären
Therapie bedürfen. Zusätzlich sind je nach Größe und
Lage mehrere operative Eingriffe zur Entfernung des auslösenden Nieren- oder
Harnleitersteins notwendig. Zu den Folgeerkrankungen zählen Blutvergiftung
(Sepsis), Einschränkung der Nierenfunktion und Bluthochdruck, deren Risiko
bereits nach einem Steinereignis steigt [4].
Ungefähr die Hälfte der Nierenstein Patient*innen bilden
erneut Steine und werden somit als Rezidivsteinbildner*innen bezeichnet
[5]. Dabei sind nur für etwa
20% dieser Patienten*innen spezielle Risikofaktoren bekannt ([Tab. 1]).
Tab. 1 Risikofaktoren für rezidivierende Urolithiasis
[5]
[6].
Bekannte Risikofaktoren für rezidivierende Harnsteine
(Auszug)
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Allgemeine Risikofaktoren
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Frühes Auftreten der ersten Steinepisode
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Positive Familienanamnese für Urolithiasis
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Krankheiten, die eine Steinbildung begünstigen
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Überfunktion der Nebenschilddrüsen
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Chronisch-entzündliche Darmerkrankungen
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Neurologische Erkrankungen
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Sarkoidose
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Erbkrankheiten
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Cysteinurie
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Primäre Hyperoxalurie
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Anatomische Varianten des Harntraktes
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Hufeisenniere
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Ureterabgangsenge
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Markschwammniere
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Für die überwiegende Mehrheit der Patient*innen liegen keine
Erkenntnisse zu Risikofaktoren vor. Es können aber weitere variable (Umwelt,
Ernährung) und feste, genetisch determinierte Faktoren angenommen werden
[7]. Hierzu liegen jedoch nur wenige
epidemiologische Untersuchungen vor. Ziel des Nationalen Registers für
RECurrente URolithiasis (RECUR) ist die Beschreibung der
Krankheitslast für Patient*innen und Gesellschaft, die
Identifizierung von Risikofaktoren sowie die Evaluation von Behandlungs- und
Vorbeugungsmöglichkeiten.
Therapieoptionen
Viele, insbesondere kleinere Nierensteine können spontan über
Harnleiter, Harnblase und Harnröhre ausgeschieden werden. Häufig
kommt es dabei jedoch zur akuten Nierenkolik, wenn ein im Harnleiter steckender
Stein zum Harnaufstau der entsprechenden Niere führt. Dies erfordert
eine ausreichende Schmerztherapie, oft im Rahmen einer stationären
Behandlung. Kommt es nicht zum spontanen Steinabgang, so können weitere
Maßnahmen, wie das Einlegen einer Harnleiterschiene, notwendig werden.
Zur aktiven Entfernung eines größeren Steines stehen
verschiedene minimalinvasive Eingriffsverfahren zur Verfügung. Zu diesen
gehören die „Zertrümmerung von außen“
durch extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (ESWL) und die Entfernung
durch Spiegelung des Harntraktes durch die Harnröhre
(ureterorenoskopische Steinentfernung, URS) oder über einen
Punktionskanal durch die Haut (perkutane Steinentfernung, PCNL). Obwohl diese
Verfahren bereits in den 1980er Jahren eingeführt wurden, gibt es
weiterhin nur unzureichende Erkenntnisse zu deren Effektivität,
insbesondere im Vergleich der verschiedenen Therapieoptionen [8]. Das geplante Register kann hier mit
Daten aus der Behandlungsrealität („real world data“)
der beteiligten Zentren zur Evaluation der Behandlungsansätze
beitragen.
Forschung
Im Vergleich mit anderen Bereichen, wie z. B Herz- oder Krebserkrankungen, gibt
es im Bereich Urolithiasis weniger wissenschaftlich hochwertige
Veröffentlichungen [9]. Dies
erscheint in erster Linie durch eine geringere öffentliche oder auch
industrielle (Pharma- oder Medizintechnikunternehmen) Förderung bedingt.
Zum einen handelt es sich beim Harnsteinleiden nicht um eine primär
lebensbedrohliche Erkrankung, zum anderen sind aber auch die Behandlungserfolge
durch die bestehenden Therapien sehr gut [10]. Grundsätzlich ist die Durchführung
experimenteller, randomisierter Studien aufwendig, gestaltet sich in
chirurgischen Disziplinen aber besonders schwierig. Dies betrifft insbesondere
die Rekrutierung potentieller Proband*innen, die sich nicht nach dem
„Zufallsprinzip“ behandeln lassen wollen. Darüber hinaus
sind die aus hochspezialisierten Zentren an einem selektierten Patientengut
gewonnenen Daten nicht ohne Einschränkungen auf andere Kliniken
übertragbar.
Demgegenüber ermöglicht die Registerforschung die Analyse
großer Mengen sogenannter „Real World“-Daten aus
unterschiedlichen Behandlungszentren. Das RECUR-Register wird zunächst
für 5 Jahre gefördert und soll anschließend von der
Deutschen Gesellschaft für Urologie (DGU) weitergeführt werden.
Somit wird dieses longitudinale Register umfangreiche Daten zur
längerfristigen Verlaufsbeobachtung der Proband*innen liefern
können. Diese Daten sollen eine Risikoabschätzung hinsichtlich
spezifischer primärer und sekundärer Einflussfaktoren,
insbesondere auch angewandter Diagnostik, Therapien und
Vorbeugungsmaßnahmen ermöglichen.
Ziele des RECUR-Registers
Mit dem Register sollen nachfolgende epidemiologisch,
gesundheitsökonomisch und aus Sicht der Versorgungsplanung relevante
Forschungsfragen beantwortet werden:
-
Beschreibung der Krankheitslast: Welche Bedeutung hat die
Harnsteinerkrankung für einzelne Erkrankte und das
Gesundheitssystem?
-
Folgen der Erkrankung für die Betroffenen (wahrgenommene
Einschränkungen der Aktivität und Teilhabe
aufgrund von Urolithiasis, Arbeitsfähigkeit,
Lebensqualität)
-
Sozioökonomische Auswirkungen (z. B. Dauer des
Krankenhausaufenthalts, Arbeitsunfähigkeitstage)
-
Geschlechterabhängige Auswirkungen der Urolithiasis
Hypothesen:
-
Die wiederholt auftretende Harnsteinerkrankung führt zu messbaren
Einschränkungen der Aktivität, Teilhabe,
Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit der Betroffenen.
-
Die Erkrankung führt bei einem Teil der Patient*innen zu
relevanten Arbeitsausfällen/Krankheitstagen (>5
Tage/Jahr bei>20% der Erkrankten).
-
Das Gesundheitssystem wird durch die Erkrankung erheblich belastet
(≥1 x jährliche stationäre Behandlung
bei>20% der Betroffenen).
-
Männer im arbeitsfähigen Alter sind häufiger
betroffen als Frauen im arbeitsfähigen Alter
Hypothesen:
-
Die genannten Merkmale unterscheiden sich bei Betroffenen mit
häufigen und jenen mit seltenen erneuten Steinereignissen
(Quasi-Kontrollgruppe) und im Vergleich zur nicht-betroffenen
Bevölkerung. Für letzteres können die erhobenen
Daten mit Daten aus der nationalen Kohorte verglichen werden.
-
Aus diesen Ergebnissen kann ein entsprechender Risikoscore zur Bestimmung
der Wahrscheinlichkeit eines Steinrezidivs entwickelt werden.
-
Dieser Risikoscore kann anhand von longitudinalen Registerdaten validiert
werden
Hypothesen:
-
Es lassen sich Unterschiede der verschiedenen Behandlungsmethoden und
verschiedener Patientengruppen hinsichtlich patientenrelevanter
Ergebnisparameter feststellen.
-
Aus diesen Ergebnissen lassen sich individuelle Behandlungsalgorithmen
ableiten. Diese können bei zukünftigen
Stein-assoziierten Ereignissen bereits eingeschlossener oder neuer
Patient*innen Anwendung finden.
-
Die entwickelten Behandlungspfade für individuelle
Patient*innen führen in der Folge zu weniger
steinassoziierten Ereignissen und einer höheren
Lebensqualität als eine standardisierte Behandlung. Dies wird im
Längsschnitt durch die Registerdaten untersucht.
Methoden
Technische Infrastruktur
Das RECUR-Register nutzt die technische Infrastruktur des MIRCACUM[1]-Konsortiums, welches innerhalb der
BMBF-geförderten Medizininformatik-Initiative (MII) gegründet
wurde. Insgesamt umfasst das Konsortium 10 Universitätskliniken mit
ihren jeweiligen Universitäten, 2 Fachhochschulen und einen
Industriepartner aus dem Bereich der automatisierten Textverarbeitung (Box
1).
Die teilnehmenden MIRACUM-Standorte
-
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden, Technische
Universität Dresden
-
Universitätsklinikum Erlangen,
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, Malteser
Waldkrankenhaus Erlangen
-
Universitätsklinikum Freiburg,
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
-
Universitätsklinikum Frankfurt, Goethe-Universität
Frankfurt
-
Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort
Gießen, Justus-Liebig-Universität Gießen
-
Universitätsmedizin, Universität Greifswald
-
Universitätsklinikum Mannheim,
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
-
Universitätsklinikum Magdeburg,
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
-
Universitätsmedizin Mainz,
Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
-
Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort
Marburg, Philipps-Universität Marburg
Im Rahmen der MII werden an den teilnehmenden Kliniken Datenintegrationszentren
(DIZ) aufgebaut, die schrittweise verschiedene Module klinischer Daten
(Basisdaten, Laborwerte, Radiologiebefunde usw.) aus den
Krankenhausinformationssystemen (KIS) der jeweiligen Kliniken aufbereiten, in
pseudonymisierter Form in wissenschaftlichen Datenbanken speichern und
für wissenschaftlichen Fragestellungen zur Verfügung stellen
können. Dabei bleiben zum einen die Primärdaten in den KIS
unberührt, zum anderen verlassen auch die harmonisierten Forschungsdaten
das jeweilige Zentrum nicht. Die Daten bleiben somit unter vollständiger
Kontrolle der einzelnen Zentren.
Forschungsfragen können von Wissenschaftler*innen der Zentren
formuliert und als Anfrage an das Use and Access Committee (UAC) des
MIRACUM-Konsortiums am jeweiliger Standort gestellt werden. Die erforderlichen
Daten können dann in aggregierter (zusammengefasster) Form aus den
Forschungsdatenbanken der Zentren, die zugestimmt haben, abgerufen werden. Das
verteilte Register erlaubt entsprechend auch nur verteilte Analysen. Durch
Pseudonymisierung und Abfragen in aggregierter Form sind Identifikation von und
Rückschlüsse auf einzelne Patient*innen nicht
möglich.
Für RECUR werden zwei Datenquellen genutzt: a) vorhandene
Behandlungsdaten aus den KIS der beteiligten Zentren und b) Patienten-berichtete
Angaben aus validierten Fragebögen (sogenannte Patient Reported
Outcomes, PROs). Letztere werden den Teilnehmer*innen über eine
RECUR Smartphone-App zur Verfügung gestellt. Über diese
Patienten-App erhalten die Teilnehmenden darüber hinaus einen
regelmäßigen Newsletter zum Thema Harnsteine, der auch
über die ebenfalls eingerichtet RECUR-Website eingesehen werden
kann.
Datenmanagement und Datensicherheit
Die klinischen Daten für das RECUR Register werden mithilfe der
etablierten ETL-Werkzeuge der MII und des MIRACUM-Konsortiums erfasst
(Extraktion der Behandlungsdaten aus dem KIS), verarbeitet
(Transformation=Psyeudonymisierung und Anpassung der
Datenstruktur), gespeichert (Load) und analysiert. Durch die Extraktion
in eine Forschungsdatenbank bleiben Behandlungsdaten im KIS unangetastet. Die
Patienten-berichteten Angaben werden nach Eingabe in der Patienten-App in einer
Cloud abgelegt und können über eine lokale RECUR-Anwendung
direkt in die Forschungsdatenbank des DIZ der jeweiligen Kliniken transferiert
werden. Dies ist nur möglich, wenn die Patient*innen sich in
Ihrer Klinik identifiziert haben. Bei der Identifizierung wird ein Token
generiert, welches die Klinik zur Einsicht der Daten in der Cloud und das DIZ
zum Abrufen und Speichern dieser Daten ermächtigt.
Das Datenschutzkonzept des RECUR-Registers umfasst folgende
Maßnahmen:
-
Umsetzung aller Maßnahmen zur Datensicherheit und Datenschutz der
Datenintegrationszentren (DIZ) und Klinikrechenzentren der beteiligten
Kliniken.
-
Pseudonymisierung der in den lokalen Forschungsdatenbanken gespeicherten
Patienteninformationen.
-
Auswertung aller Daten in aggregierter Form (verteilte Analysen). Es
findet kein Austausch individueller Patientendaten zwischen den
beteiligten Konsortien oder einer zentralen Stelle statt.
-
Ein umfassendes Datenschutzkonzept für die Implementierung der
Patienten-App einschließlich der Zwischenspeicherung der Daten
in pseudonymisierter Form in einer DSGVO-konformen Cloud. Eine Zuordnung
dieser Daten kann nur in der behandelnden Klinik des Patienten oder der
Patientin über eine entsprechende lokale IT-Anwendung
erfolgen.
Leistungskennzahlen wie Anzahl der teilnehmenden Patient*innen, die
Frequenz eingehender PROs und das Erreichen von prädefinierten
Meilensteinen sowie Qualitätsmerkmale wie Vollständigkeit,
Richtigkeit und Genauigkeit der erfassten Daten des Registers werden
regelmäßig durch die DIZ der teilnehmenden Zentren
überprüft. Die Projektleitung erstellt jährlich einen
Leistungs- und Qualitätsbericht.
Zielgruppe, Rekrutierung und Widerruf
In das Register sollen Patient*innen mit mehr als einem Harnstein, die an
einem der MIRACUM-Standorte behandelt werden, aufgenommen werden. Bei mehr als
200 geeigneten Patient*innen pro Zentrum und Jahr rechnen wir mit einer
Teilnehmerzahl zwischen 500–1000 pro Jahr.
In Frage kommende Patient*innen erhalten in den behandelnden Zentren eine
Informationsbroschüre zum RECUR-Register. Diese geht insbesondere auf
den Zweck des geplanten Registers und den Nutzen für
Teilnehmer*innen ein. Im Rahmen der stationären oder ambulanten
Behandlung erhalten Interessierte die Möglichkeit, Fragen mit dem
Ärzteteam zu besprechen. Für die Teilnahme am Register wird den
Patient*innen kein finanzieller Anreiz geboten. Bei bestehendem
Interesse kann die RECUR Patienten-App über einen QR-Code auf dem Flyer
heruntergeladen werden. Bevor die App genutzt werden kann, erfolgt eine visuell
unterstützte Erklärung der Datenflüsse in einfacher
Sprache. Am Ende der Kurzpräsentation besteht die Möglichkeit,
die gesamte Patientenaufklärung zu lesen. Im Anschluss kann die
Zustimmung zur Teilnahme am Register durch Setzen eines Hakens in der App
erteilt werden.
Der Widerruf der Teilnahme kann sowohl in der App, als auch per Mail oder
postalisch an die RECUR-Koordinierungsstelle erfolgen. Ein Wiederruf hat die
Löschung aller für das RECUR-Register gespeicherten Daten im DIZ
und in der Cloud zur Folge. Analysen, die bereits mit den konsentierten Daten
durchgeführt und abgeschlossen wurden, können nicht mehr
gelöscht werden. Ebenfalls vom Widerruf nicht betroffen sind Daten,
welche nicht gezielt für das RECUR-Register gespeichert wurden und
für die gesetzliche Aufbewahrungsfristen bestehen.
Datensatz
Der RECUR-Datensatz besteht aus klinischen Daten und PROs. Zu den klinischen
Daten gehören die Diagnosen nach ICD-10 (International Classification of
Diseases), die Behandlungen nach OPS (Operationen- und
Prozedurenschlüssel), die Labordaten nach LOINC (Logical Observation
Identifiers Names and Codes), Radiologie Befunde (perspektivisch durch
automatisierte Textverarbeitung standardisierter Befundungen) und die
Medikation.
Über die PROs werden mithilfe von validierten Fragebögen
Informationen zur Soziodemografie, Lebensqualität, Teilhabe,
Arbeitsfähigkeit, Ernährung und körperlicher
Aktivität gesammelt. Diese Fragebögen werden in Pakete
aufgeteilt und den Patienten*innen in etwa vierteljährlichen
Abständen über die App zur Verfügung gestellt. Zur
Sicherstellung der Vollständigkeit der Daten werden bei fehlender
Bearbeitung drei Erinnerungen in wöchentlichen Abständen
gesendet. Die erhobenen PROs sind sowohl für die Patient*innen
über das Smartphone als auch für die Behandelnden über
die lokale RECUR-Anwendung am klinischen Arbeitsplatz einsehbar. Die lokale
RECUR-Anwendung ermöglicht über das KIS Einsicht in die in der
externen Cloud gespeicherten Daten, jedoch keine Speicherung der Daten im KIS
selbst. Auf diese Art und Weise werden Patient*innen und behandelnde
Ärzt*innen befähigt, das persönliche
Risikoprofil zu diskutieren. Zu keinem Zeitpunkt werden diagnostische oder
therapeutische Untersuchungen nur für das Register
durchgeführt.
Datenanalyse
Zur Beantwortung der Forschungsfrage 1 „Beschreibung der
Krankheitslast“ werden deskriptive Analysen genutzt. Für die
Validierung von Risikofaktoren (Forschungsfrage 2) erwarten wir ein hohes
Aufkommen unvollständiger Datensätze, deren Werte nicht
zufällig verteilt sind. Um Verzerrungen durch fehlende Werte zu
reduzieren, werden multiple Imputationen, also mehrfaches Einsetzen
geschätzter Werte, angewandt. Mehrebenenmodelle (two-level multiple
logistic regression models) werden mit der abhängigen Variable
Steinrezidiv durchgeführt, um Clustereffekte, also Effekte, die von den
Zentren ausgehen, zu berücksichtigen. Mithilfe von
Receiver-Operating-Characteristics (ROC)-Analysen wird die Vorhersagekraft der
Risikofaktoren bestimmt. Der Youden-Index und die Fläche unter der Kurve
(area under curve, c-Statistik) werden berechnet.
Die Vorhersagemodelle sollen einer internen und externen Validierung unterzogen
werden. Mithilfe der Bootstrapping-Methode, also der Ziehung multipler
Stichproben innerhalb der Stichprobe, erfolgt die interne Validierung.
Für die externe Validierung muss das auf einer Stichprobe basierende
Modell mit einem anderen, unabhängigen Datensatz getestet werden. Wir
werden die Daten des ersten Jahres für die Generierung des Modells
nutzen und dieses dann mit den Daten des zweiten Jahres validieren.
Zur Auswertung der verschiedenen Behandlungsmethoden (Forschungsfrage 3) wird
Propensity Score Matching (PMS) angewendet. Dieses Verfahren wird zunehmend als
Alternative zu traditionellen, regresssionsanalytischen Adjustierungsverfahren
genutzt und kann beim Treatment-Vergleich in nicht-randomiserten Designs
Unterschiede zwischen Behandlungsgruppen berücksichtigen. Um die
geschachtelte Struktur unserer Daten zu berücksichtigen, werden
gewichtete Propensity-Score-Schätzer verwendet.
Analysen bezüglich der Forschungsfrage 1 werden alle 6 Monate
durchgeführt; Berechnungen im Zusammenhang mit Forschungsfrage 2 und 3
erfolgen in jährlichen Abständen.
Um Untergruppen innerhalb der Patientenpopulation und Behandlungsmuster zu
identifizieren, werden wir Deep-Learning-Techniken anwenden. Am Ende des
Projekts wird dieses Analyseverfahren gemeinsam mit dem PMS für eine
finale Analyse eingesetzt werden, deren Ziel es ist, prognostisch relevante
Untergruppen zu identifizieren. Alle Analysen werden in einem im Vorhinein
geschriebenen statistischem Analyseplan definiert.
Diskussion
Das RECUR-Register erscheint in der Registerlandschaft in Deutschland, aber auch
weltweit, einmalig. Die Modellhaftigkeit besteht insbesondere in den nahezu
vollautomatisierten Abläufen. Diese werden durch die vollständige
Digitalisierung aller Funktionalitäten des Registers ermöglicht.
Dies beginnt mit der Information und Rekrutierung der Patient*innen, die
sequentiell über eine ausgehändigte Informationsbroschüre,
die RECUR-Website und letztlich die formale Patienteninformation und -einwilligung
ohne zusätzlichen personellen Aufwand erfolgt. Letztere basiert auf dem
„Muster-Einverständnis“ (Broad Consent) der MII [11]. Für das behandelnde
Ärzteteam bedeutet der Hinweis auf das Register möglicherweise sogar
eine gewisse Entlastung, da Patient*innen über diese Plattform viele
Informationen zu ihrer Erkrankung erhalten können. Dies unterstützt
das „Konzept des informierten Patienten“ und „shared
decision-making“[12]. Gleiches
gilt für die Datenerfassung. Die klinischen Daten aus den KIS, ebenso wie
die durch die Patient*innen über die App an die RECUR-Cloud
übermittelten Daten, werden in den DIZ der teilnehmenden Zentren nach
Einwilligung datenschutzkonform automatisiert in Forschungsdatenbanken
übertragen. Dieses Gesamtkonzept soll eine umfassende und
ressourcenschonende registergestützte Versorgungsforschung im Bereich
Urolithiasis ermöglichen und somit bestehende Evidenzlücken
füllen ([Tab. 2]).
Tab. 2 RECUR Grundsätze.
RECUR Grundsätze:
-
Niedrige Eintrittsbarrieren für möglichst
vollständige Rekrutierung
-
Niedriger Verwaltungsaufwand für die
teilnehmenden Zentren
-
Übersichtliche Menge an Fragen pro
Bearbeitungseinheit für
Patient*innen
-
Möglichkeit der Beantwortung in einem ruhigen,
bekannten Umfeld
|
Allerdings bedingt der digitalisierte Aufbau des Registers auch mögliche
Limitationen. Die notwendige Nutzung eines Smartphones kann zu einer Selektion
junger und/oder gut ausgebildeter Teilnehmer*innen führen.
Dieser Effekt wird sich möglicherweise in den nächsten Jahren durch
die zunehmende Nutzung digitaler Medien über alle
Bevölkerungsgruppen hinweg weiter verringern.
Es ist anzunehmen, dass ein Teil der potentiellen Proband*innen einer
automatisierten Datenverarbeitung kritisch gegenüber stehen wird. Diesen
berechtigten Bedenken soll mit einer klar verständlichen, umfassenden und
mit Grafiken unterlegten Aufklärung begegnet werden. Darüber hinaus
steht an jedem Zentrum ein geschultes Ärzteteam zur Verfügung, an
das sich interessierte Patient*innen wenden können.
Da die Teilnehmenden durch RECUR über einen langen Zeitraum begleitet werden
sollen, wird es eine Herausforderung darstellen, sie aktiv im Register zu halten.
Gerade bei Patient*innen, die über lange Zeit hinweg kein
steinbezogenes Ereignis hatten, könnte die Motivation zur Teilnahme an den
Befragungen nachlassen. Durch eine ansprechende Benutzeroberfläche der App
und interessante Inhalte der RECUR-Website sowie geringe Anforderungen beim
Ausfüllen der Fragebögen und motivierende Erinnerungsnachrichten,
soll ein kontinuierlicher Rücklauf der PROs unterstützt werden. Des
Weiteren haben Patient*innen die Möglichkeit, einen speziell auf sie
zugeschnittenen Newsletter mit Informationen und Tipps zum Thema Harnsteinleiden zu
abonnieren.
Im Falle des Widerrufs der Teilnahme am Register werden die Teilnehmenden gebeten,
Angaben zu möglichen Gründen zu machen. Anhand der Auswertung dieser
Antworten sollen Maßnahmen zur Steigerung der Adhärenz entwickelt
bzw. angepasst werden.
Die organisatorische Struktur des Registers umfasst derzeit 10 der 36 deutschen
Universitätskliniken. Dabei handelt es sich um hochspezialisierte Zentren
mit möglicherweise eingeschränktem Zugang für bestimmte
Patientengruppen (ländliche Regionen). Diese Aspekte können die
Übertragbarkeit der Ergebnisse einschränken. Diesbezüglich
ist die schrittweise Ausweitung der im Rahmen der MII an das Netzwerk
angeschlossenen auch nicht-universitären Kliniken vorgesehen.
Durch die laufende umfangreiche datenschutzrechtliche Prüfung und das
entsprechend aufwendige Genehmigungsverfahren der Ethikkommissionen hat sich der
für Q2/2021 geplante Einschluss der ersten Teilnehmer*innen
des RECUR-Registers verschoben. Wir hoffen dennoch im Förderzeitraum bis
2024 bereits ausreichend Probanden rekrutieren zu können, so dass die
vorgesehenen Analysen erfolgen und Antworten auf die versorgungswissenschaftlichen
Fragestellungen gegeben werden können. Langfristig soll das Nationale
Steinregister helfen, die Rahmenbedingungen der Diagnostik und Behandlung von
Patient*innen mit Nierensteinen nachhaltig zu verbessern und spezifische
Präventionsstrategien zu etablieren.