Aktuelle Rheumatologie 2022; 47(04): 281-283
DOI: 10.1055/a-1634-1713
Medizin & Management

Fehler bei der Aufklärung kann zum Wegfall des Vergütungsanspruchs führen

Anforderungen an eine ordnungsgemäße Aufklärung nehmen auch im Vergütungsbereich zu
Isabel Häser
 

Im GKV-Recht dient die Aufklärung auch der Wahrung des Wirtschaftlichkeitsgebots und kann daher Auswirkungen auf den Vergütungsanspruch des Krankenhauses haben (Urteil vom 19.03.2020 – B 1 KR 20/19 R).


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Der Fall

Bei dem bei einer gesetzlichen Krankenkasse versicherten Patienten wurde 2003 ein Mantelzelllymphom im Stadium IV festgestellt. Zweimal erreichte der Patient im Laufe mehrerer Jahre durch verschiedene Therapien eine komplette Remission. Anfang 2010 wurde er vollstationär zur Durchführung einer allogenen Stammzelltransplantation behandelt. Ca. 6 Wochen später wurde er notfallmäßig erneut stationär aufgenommen und verstarb wenige Wochen später an den Folgen einer Sepsis mit Multiorganversagen.

Der Krankenversicherung des Patienten wurde für die stationär vorgenommene allogene Stammzelltransplantation ein Betrag von ca. 89000,– Euro in Rechnung gestellt. Die Versicherung zahlte zwar zunächst die Rechnung, nahm aber später aufgrund einer Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung eine Verrechnung in Höhe von ca. 45000,– Euro vor. Begründet wurde die Aufrechnung damit, dass die in Rechnung gestellte Therapie bei dem anscheinend langsam wachsenden Mantelzelllymphom und dem nicht aggressiven Verlauf medizinisch nicht notwendig gewesen sei.

Erstinstanzlich wurde die Krankenversicherung zur Zahlung verurteilt. Die hiergegen eingelegte Berufung der Krankenversicherung wurde von der zweiten Instanz ebenfalls zurückgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) ging davon aus, dass ein Vergütungsanspruch für die Therapie bestanden habe. Aufgrund der individuellen Situation des Patienten hätte er seine statistische Aussicht auf ein 5-Jahres-Überleben durch die Therapie von 29 auf 60% erhöht, wohingegen das Risiko, an der Behandlung zu versterben in diesem Fall bei 10–15% gelegen habe. Die Behandlung sei auch qualitätsgerecht durchgeführt und der Patient ausreichend aufgeklärt worden.

Mit der Revision rügte die Versicherung die Verletzung des Wirtschaftlichkeitsgebots. Unter anderem habe die vorgenommene Behandlung nicht dem Qualitätsgebot entsprochen und der Patient sei nicht ausreichend aufgeklärt worden.


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Die Entscheidung

Das Bundessozialgericht (BSG) hob das Urteil des LSG auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurück. Das BSG sah sich aufgrund der vom LSG festgestellten Tatsachen nicht in der Lage, abschließend darüber zu entscheiden, ob der Vergütungsanspruch besteht oder nicht. Die inhaltlichen Ausführungen des BSG zu den Folgen eines möglichen Aufklärungsfehlers auf den Vergütungsanspruch des Krankenhauses werden jedoch erhebliche Bedeutung für den Klinikalltag haben.

Grundsätzlich entsteht die Zahlungsverpflichtung der Krankenkasse unmittelbar mit Inanspruchnahme der Leistung durch den Versicherten kraft Gesetzes, wenn die Versorgung in einem zugelassenen Krankenhaus durchgeführt wird und im Sinne des § 39 Abs. 1 S. 2 SGB V erforderlich und wirtschaftlich war. Eine vorherige Kostenzusage ist nicht erforderlich.

Erforderlich ist eine Krankenhausbehandlung im Sinne von § 39 SGB V nur dann, wenn die Behandlung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht und notwendig ist. Das LSG hatte ausdrücklich offengelassen, ob die Behandlung des Patienten dem im Behandlungszeitraum maßgeblichen allgemein anerkannten Standard medizinischer Erkenntnisse entsprochen hat. Das BSG selbst konnte dies nicht entscheiden, weil es insoweit insbesondere an den Feststellungen des LSG zu den im Behandlungszeitpunkt bereits vorliegenden und veröffentlichten medizinischen Erkenntnissen und Meinungen der einschlägigen Fachkreise fehlte.


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Anspruch aufgrund von Grundrechten

Das BSG konnte auch nicht darüber entscheiden, ob sich der Vergütungsanspruch aus der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungsrechts ergibt. Denn eine Absenkung der im Urteil ausführlich dargelegten Qualitätsanforderungen kann bei der Beurteilung der Behandlungsmethoden im Krankenhaus in Ausnahmefällen durch eine grundrechtsorientierte Auslegung geboten sein, so der Senat. So können Versicherte in Fällen einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung aufgrund von Grundrechten in Einzelfällen einen Anspruch auf Krankenversorgung haben, wenn für sie eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht und die vom Versicherten gewählte andere Behandlungsmethode eine auf Indizien gestützte, nicht ganz fernliegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf verspricht.

Ob die Voraussetzungen einer grundrechtsorientierten Auslegung im streitigen Fall vorlagen, konnte das BSG auf der Grundlage der bindenden Feststellungen der zweiten Instanz nicht abschließend entscheiden. Nach den Feststellungen des LSG litt der Patient zwar an einer lebensbedrohlichen Erkrankung, zu deren Behandlung eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende kurative Behandlung nicht zur Verfügung stand. Die vorgenommene Behandlung sei auch objektiv erfolgversprechend gewesen, sei den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend erfolgt und habe nicht im Rahmen einer klinischen Studie durchgeführt werden können. Nicht ausreichend seien aber die Feststellungen des LSG zu einer gebotenen umfassenden Aufklärung des Patienten über Chancen und Risiken der Behandlung.


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Aufklärung dient Wirtschaftlichkeitsgebot

Das BSG weist zunächst darauf hin, dass die ordnungsgemäße Aufklärung üblicherweise in erster Linie Bedeutung in Arzthaftungsfällen habe. Im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung diene die Aufklärung, aber auch der Wahrung des Wirtschaftlichkeitsgebots (§ 12 Abs. 1 SGB V) und habe insofern Auswirkungen auf den Vergütungsanspruch des Krankenhauses. Das Wirtschaftlichkeitsgebot erfordere nämlich, dass der Versicherte die Entscheidung für die Inanspruchnahme der Leistung auf der Grundlage von ausreichenden Informationen trifft. Die Aufklärung müsse dem Versicherten die Spanne denkbarer Entscheidungen aufzeigen, sodass ihm Für und Wider der Behandlung bewusst sei und er Chancen und Risiken der jeweiligen Behandlung selbstbestimmt abwägen könne. Begründet wird diese Auffassung damit, dass im Sachleistungssystem letztlich der Versicherte entscheidet, ob er die ihm ärztlich angebotene, medizinisch notwendige Leistung abruft.

Von einer ordnungsgemäßen Aufklärung könne bei objektiv medizinisch erforderlichen Behandlungen im Sinne einer widerlegbaren Vermutung regelmäßig ausgegangen werden, so der Senat. Das gelte jedoch nicht, wenn mit der in Rede stehenden Behandlung ein hohes Risiko schwerwiegender Schäden, insbesondere ein hohes Mortalitätsrisiko verbunden sei. In diesen Situationen sei regelmäßig nicht auszuschließen, dass der Versicherte bei ordnungsgemäßer Aufklärung von dem Eingriff Abstand genommen hätte.

Das BSG macht dann lehrbuchmäßige Ausführungen zu den Anforderungen an eine Aufklärung mit zahlreichen Verweisen auf Rechtsprechung.


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Anforderungen an die Aufklärung

Das BSG stellt zunächst fest, dass der Patient inhaltlich nach den von der zivilgerichtlichen Rechtsprechung entwickelten und vom erkennenden Senat entsprechend herangezogenen Grundsätzen durch Ärzte des Krankenhauses über die Chancen und Risiken der Behandlung im „Großen und Ganzen“ aufzuklären ist. Dem Versicherten müsse eine allgemeine Vorstellung von der Schwere des Eingriffs und den spezifisch mit ihm verbundenen Risiken vermittelt werden, ohne diese zu beschönigen oder zu verschlimmern. Dabei sei es grundsätzlich nicht erforderlich, ihm genaue oder annähernd genaue Prozentzahlen über die Möglichkeit der Verwirklichung eines Behandlungsrisikos mitzuteilen. Erwecke das Krankenhaus durch den aufklärenden Arzt beim Versicherten aber mittels unzutreffender Darstellung der Risikohöhe eine falsche Vorstellung über das Ausmaß der mit der Behandlung verbundenen Gefahr, so komme es seiner Aufklärungspflicht nicht in ausreichendem Maße nach. Wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten, habe das Krankenhaus den Patienten hierüber aufzuklären. Dies gelte umso mehr, wenn mit einer der zur Wahl stehenden Behandlungsmöglichkeiten ein hohes Mortalitätsrisiko verbunden sei. Hier bedürfe es einer besonders sorgfältigen Aufklärung über die für die abstrakte und die konkret-individuelle Chancen-/Risikoabwägung relevanten Aspekte. Erst recht sei dies erforderlich, wenn es sich dabei um einen (noch) nicht dem allgemein anerkannten medizinischen Standard entsprechenden Therapieansatz handelt, der noch mit deutlichen Erkenntnisdefiziten behaftet sei. Der Patient müsse wissen, auf was er sich einlässt, um abwägen zu können, ob er die Risiken einer solchen Behandlung um deren Erfolgsaussichten willen eingehen will.

Hierzu gehöre, dass ihm auch die palliativen Behandlungsmöglichkeiten im Hinblick auf einen relativen Überlebensvorteil und die damit verbleibende Lebensqualität im Vergleich zu einer mehr oder weniger vagen Aussicht auf Heilung deutlich vor Augen geführt werden.

Weiter macht das BSG Ausführungen an die Anforderungen des Krankenhauses, die ordnungsgemäße Aufklärung zu beweisen. Unter anderem weist es ausdrücklich darauf hin, dass das von dem Arzt und dem Patienten unterzeichnete Formular, mit dem der Patient sein Einverständnis zu dem ärztlichen Eingriff gegeben hat, lediglich ein Indiz für den Inhalt des Aufklärungsgesprächs sei. Je größer das Mortalitätsrisiko und je geringer oder zumindest unsicherer die Erfolgsaussichten der Behandlung sind, desto höhere Anforderungen seien an den Nachweis einer ordnungsgemäßen Aufklärung zu stellen.

Bei einer nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechenden Behandlung im Grenzbereich zur experimentellen Behandlung und zudem hohem Mortalitätsrisiko bedürfe es der konkreten Feststellung, dass, durch wen genau und wie das Krankenhaus den Patienten über die relevanten Aspekte der abstrakten und der konkret-individuellen Chancen, der Risiken und der Risikoabwägung aufgeklärt habe. Hier genüge es nicht, wenn das Krankenhaus nur darlege, was bei ihm üblicherweise geschieht. Soweit das therapeutische Zeitfenster dies zulässt, müsse hierbei auch feststehen, dass der Patient vor dem beabsichtigten Eingriff so rechtzeitig aufgeklärt wurde, dass er durch hinreichende Abwägung der für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise ausüben konnte.


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Fazit

Wenn bisher die Aufklärung im Wesentlichen im Hinblick auf haftungsrechtliche Themen eine Rolle gespielt hat, gewinnt sie nun – zumindest bei hohem Risiko schwerwiegender Schäden, insbesondere einem hohen Mortalitätsrisiko – auch im Vergütungsbereich an erheblicher Bedeutung.

Das BSG stellt in seinem Urteil nahezu lehrbuchmäßig die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Aufklärung (unter dem besonderen Gesichtspunkt nicht standardmäßiger Behandlungen mit erheblichen Risiken) dar. Eine Kopie dieser Entscheidung sollte jeder Krankenhausarzt zum Nachlesen in der Schublade haben.


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Zitierweise für diesen Artikel

klinikarzt 2020; 49: 240–243


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Dr. iur. Isabel Häser
Fachanwältin für
Medizinrecht
Riedener Weg 1
82319 Starnberg
haeser@kanzlei-haeser.de

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Article published online:
11 August 2022

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