intensiv 2021; 29(05): 226-227
DOI: 10.1055/a-1530-1467
Kolumne

Erwartungen

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Quelle: Paavo Blåfield/Thieme

„Man ist nicht enttäuscht von dem, was ein anderer tut (oder nicht tut), sondern nur über die eigene Erwartung an den anderen.“

Mark Twain (1835–1910), US-amerikanischer Schriftsteller

Das ganze Leben ist geprägt von Erwartungen. Erwartungen, die ich selbst habe, oder Erwartungen, die an mich gestellt werden.

Als Kind hatte ich Erwartungen an meine Eltern, an meinen Bruder, an den Kindergarten, die Schule. Erwartungen, was wohl in den Ferien passiert, welche Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke ich bekomme. Meine Eltern wiederum erwarteten ein wohlerzogenes Kind, eine fleißige Schülerin. Sie erwarteten Respekt, Höflichkeit, Ehrlichkeit und viele andere Eigenschaften, die für mich als Kind die eine oder andere Herausforderung bedeuteten und denen ich wahrscheinlich oft nicht gerecht werden konnte. Ich war eben ein Kind.

Als junge erwachsene Frau waren meine Erwartungen an mich und andere schon etwas differenzierter. Ich erwartete ein gutes Leben, mit einem guten Beruf, einer Familie, Freunden. Ganz weit vorn waren da Erfolg, Glück, Zufriedenheit, Gesundheit und wahrscheinlich vor allen Dingen viel Spaß. Ich konnte mich in meine Zukunft so richtig reinträumen. Meine Erwartungen waren groß. In mancher Hinsicht zu groß. Kam mir doch das reale Leben dazwischen. Jetzt als erwachsene Frau versuche ich doch mit meinen Erwartungen ein bisschen auf dem Boden der Realitäten zu bleiben. Meist ist das auch gut so, und wenn ich dann doch mal überrascht werde: umso besser!

Mit den Erwartungen ist das ja so eine Sache. Sind sie sehr gering, heißt es gleich, man wäre pessimistisch oder „miesepetrig“. Sind sie zu hoch wird man als übermütig oder realitätsfremd bezeichnet.

So kann ich mich seit geraumer Zeit, genauer gesagt seit Beginn der Pandemie, über bestimmte Vorgehensweisen ereifern. Sind sie doch ganz anders abgelaufen, als es meinen Erwartungen entsprochen hätte. Mal waren sie offensichtlich zu hoch angesetzt oder aber in mancher Hinsicht wurde ich regelrecht überrascht. So zum Beispiel in der Familie. Als das ganze Infektionsgeschehen begann und noch niemand absehen konnte, wohin das Ganze führen würde, haben sich mein Bruder und seine Frau sofort angeboten, meinen Hund auf unbestimmte Zeit zu sich zu nehmen, damit ich, wie auch immer es werden würde, in Ruhe arbeiten kann. Mein Sohn hat dann von seinem Vorgesetzten sofort einen freien Tag bekommen, um eben diesen Hund an den Bodensee zu fahren. Oder meine Mutter. Sie, eine nicht mehr so junge und nicht sehr gesunde Frau, hat sich in der ganzen Zeit sehr tapfer gehalten. Sie hat sich selbst organisiert, nie beklagt. Und das, obwohl auch zwei Krankenhausaufenthalte für sie in diese Zeit fielen.

Oder meine Kollegen. Bereit für alles, was da kommen sollte. Immer flexibel, nie gejammert. Sie haben es mir als Stationsleitung damals sehr leicht gemacht.

Erstaunlicherweise hätte ich in Zeiten einer (globalen) Pandemie den großen Wurf der Hygienefachkräfte in unserem Krankenhaus erwartet. Diese Kolleginnen und Kollegen – eine in Vollzeit und eine in Teilzeit – arbeiten ja in Normalzeiten ein bisschen im Verborgenen, und ich kenne wenige, die diesen Job unbedingt machen wollen. Ohne dabei die Wichtigkeit dieser Arbeit gerade in Zeiten diverser sogenannter Krankenhauskeime in Abrede zu stellen. In Nicht-Pandemiezeiten erleben wir unsere Hygienefachkräfte bei der jährlichen Pflichtfortbildung auf Station, bei den routinemäßigen Wasserprobeentnahmen und wenn wir Rückfragen bei allgemein bekannten oder exotischen Keimen haben. Dann findet regelmäßig ein Teamtreffen der Hygienebeauftragten der Stationen statt und einmal jährlich ein Aktionstag im Haus. Sicherlich ist das nur ein kleiner Teil aus deren Portfolio – aber mehr kennen wir leider nicht. Daher hätte bei aller Dramatik in der Situation diese Pandemie eine Sternstunde unserer Hygienefachkräfte sein können. Aber weit gefehlt. Bis auf einen Besuch auf Station ganz am Anfang der ersten Welle, bei dem uns der Umgang und Gebrauch mit den FFP2-Masken demonstriert wurde, haben wir die Kollegen dieser Abteilung nicht zu Gesicht bekommen. Informationen über aktuelle Ereignisse und bevorstehende Maßnahmen habe ich von den täglichen Krisensitzungen auf Station mitgebracht. Hatten wir Fragen, haben wir uns die Antworten gegoogelt. Insgesamt ein trauriger Auftritt und weit unter allen meinen Erwartungen.

So könnte ich reihum gehen. Ob im Beruf oder im Privatleben. Selten liege ich mit meinen Erwartungen richtig und oft werde ich auch nicht die Erwartungen an mich erfüllen. Ich weiß nicht genau, was das über mich sagt. Zumindest aber ist die Chance, Überraschungen zu erleben, relativ hoch und Enttäuschungen halten sich in Grenzen. Das ist doch auch schon mal was.

Übrigens habe ich in den vergangenen Tagen die Kontenklärung der Rentenversicherung und damit die zu erwartende Rente bekannt gegeben bekommen. Da waren meine Erwartungen ohnehin nicht sehr groß. Dennoch musste ich feststellen: So tief konnten die Erwartungen gar nicht sein, wie es sich dann am Ende unter dem Strich herausstellte.

Ich sollte Erwartungen wohl besser durch Träume ersetzen – denn träumen wird man ja wohl noch dürfen!

In diesem Sinne

Ihre

Heidi Günther

hguenther@schoen-kliniken.de



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Article published online:
07 September 2021

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