MSK – Muskuloskelettale Physiotherapie 2021; 25(03): 109-110
DOI: 10.1055/a-1510-6929
Forum

Der Physiotherapie Weltkongress 2021 – online

Arne Vielitz

Alle 2 Jahre veranstaltet der Weltverband für Physiotherapie „World Physiotherapy“ einen großen internationalen wissenschaftlichen Kongress, der die globale Community zusammenbringt. In diesem Jahr sollte der Kongress in Dubai stattfinden, wurde aber dann zum ersten Mal online ausgetragen – wie so viele andere Kongresse und Veranstaltungen in der letzten Zeit auch.

WORLD PHYSIOTHERAPY

World Physiotherapy wurde 1951 von 11 nationalen Physiotherapieverbänden (darunter auch PHYSIO-DEUTSCHLAND) als „World Confederation for Physical Therapy“ gegründet und 2020 in „World Physiotherapy“ umbenannt. Heute vertritt World Physiotherapy durch seine 125 Mitgliedsorganisationen mehr als 660 000 Physiotherapeuten und -therapeutinnen weltweit.

Was den Weltkongress so besonders macht, sind zum einen die vielen Physios aus der ganzen Welt, die dort zusammenkommen (2019 in Genf waren es etwa 5000 aus 131 Ländern) und zum anderen die Vielfalt des Programms, für das Sprecher/-innen aus der ganzen Welt verantwortlich sind. ([ Abb. 2 ]). Auch in diesem Jahr gab es wieder eine Reihe verschiedener Formate. In den 3 Tagen konnte ich mir aus 90 verschiedenen Sessions ein eigenes Programm zusammenstellen.

Zoom Image
Abb. 2 Sprecher/-innen aus der ganzen Welt sorgen am Weltkongress der Physiotherapie für ein abwechslungsreiches, spannendes Programm. Die Grafik zeigt eine Auswahl an Ländern, aus denen die Vortragenden am Weltkongress 2021 stammten. (Quelle: © A. Vielitz; graf. Umsetzung: Thieme Group)

Die „Focused Symposia“ beinhalteten Vorträge von Expertinnen und Experten zu einem Thema mit anschließender Diskussion, z. B. „Pain Neuroscience Education“ (PNE), geleitet von Dr. Louie Puentedura aus Texas. In diesem Symposium wurden Anpassungen einer PNE für verschiedene Zielgruppen vorgestellt, z. B. für ältere Erwachsene und Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status. Damit diese die PNE-Konzepte gut verstehen, sollte Alltagssprache gebraucht, mehrere kurze Sessions eingeplant, eine stabile therapeutische Allianz hergestellt und die Wahrnehmung der Teilnehmenden sowohl auf den aktuellen Zustand als auch die Verbesserung gelenkt werden. Als wichtigste Botschaften der PNE gelten: „Schmerz ist normal.“, „Das Gehirn produziert Schmerz.“, „Gewebeschädigung ≠ Schmerzintensität“, „Der Körper lernt, Schmerz zu erfahren.“, „Über Schmerzen etwas zu lernen verändert diese.“.

Ein anderes Format war die „Discussion Session“. Nach einer Einleitung durch Experten auf dem jeweiligen Gebiet, Statements der Podiumssprecher und ergänzenden Fragen aus dem Publikum gab es hier viel Zeit für lebhafte Debatten, z. B. in der Session „Evidence-informed practice“, in der diskutiert wurde, wer das Sagen in der Therapie haben sollte. Sollte die Patientenpräferenz die evidenzbasierte Praxis übertrumpfen oder umgekehrt? Dargestellt wurde eine kritische Sicht auf die Evidenzpyramide und die Schwierigkeit, Studienergebnisse auf die eigenen Patientinnen und Patienten zu übertragen. Studienergebnisse sollten nicht allein unsere Entscheidungsfindung leiten, sondern als Teil eines Puzzles gesehen werden. Ein weiteres Teil des Puzzles bilde die Sicht der Patienten, die in dieser Diskussion in 3 Dimensionen unterteilt wurde: Patientenerfahrung, deren Wissensstand und Werte. Oft gebe es bei der Wahl der Therapie mehr als eine Option. Therapeutinnen und Therapeuten sollten daher auch die kulturellen, politischen und religiösen Faktoren der Patientinnen und Patienten miteinbeziehen und das Ziel verfolgen, deren Präferenzen so gut wie möglich mit dem zu verbinden, was sie ihnen anbieten können. Interessant war eine Umfrage unter den Zuhörenden zu der Frage, was die größten Hindernisse für eine Evidenz-geleitete Therapie sind. Unter 5 Antwortmöglichkeiten waren die Top 3: nicht in der Lage zu sein, qualitativ hochwertige Evidenz zu erhalten, die Unübersichtlichkeit der Evidenz und der Zeitmangel.

Weitere Formate waren „Seminars“, „Workshops“ und „Inspiration Sessions”. Einen Workshop hielt Mark Jones zum Thema „Clinical Reasoning“. Jones gab einen Überblick über die wichtigsten Theorien zum Clinical Reasoning und stellte das von ihm entwickelte „Hypothesis Categories“-Framework vor. Er sprach über häufige Fehler beim Clinical Reasoning und präsentierte Strategien zur Fehlerminimierung und Verbesserung des Clinical Reasoning. Er betonte, dass Therapeuten weiterführende Fragen stellen und voreilige Schlüsse vermeiden sollten. Wichtig sei laut Jones, verschiedene Hypothesen für das Problem gegeneinander abzuwägen, auf Merkmale, die nicht passen, zu achten und Outcomes zu messen. In der Inspiration Session „The journey of IFOMPT”, moderiert von Jackie Whittaker und Laura Finucane, ging es um die Entstehung von IFOMPT und die Veränderungen der letzten Jahre. Diskutiert wurde u. a., dass der aktuelle Name nicht das widerspiegelt, wofür die IFOMPT steht, und Laura Finucane ließ durchblicken, dass eine Namensänderung im Raum steht.

Auch wenn der Kongress „nur“ online stattfand, gab es trotzdem die Gelegenheit zur Interaktion. Eine Möglichkeit boten die „Networking Sessions“, die eine informelle Gelegenheit waren, Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt zu treffen. Vieles wurde aufgezeichnet und steht auch nach dem Kongress bis 08. Juli zur Verfügung, sodass ich mir nun auch im Nachhinein Beiträge aus über 50 Stunden des aufgezeichneten Inhalts und den mehr als 1.180 Poster- und Plattform-Abstract-Präsentationen ansehen kann. Dies ist ein Riesenvorteil und ein Trostpflaster dafür, dass es doch ein wenig anders ist, ob man zu Hause am Bildschirm zuhört oder irgendwo auf der Welt, umgeben von Tausenden anderen Physios. Die nächste Gelegenheit dazu ist 2023, dann wird der World Physiotherapy Congress in Tokio, Japan, stattfinden.



Publication History

Article published online:
19 July 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany