physiopraxis 2021; 19(06): 30-33
DOI: 10.1055/a-1492-5147
Therapie

Genesen heißt nicht gesund – Chronisches Fatigue-Syndrom nach Covid-19-Erkrankung

Sophia Laquai
 

Immer mehr jüngere Menschen berichten auch nach milden Covid-19-Verläufen von anhaltenden Symptomen wie Fatigue, kognitiven Störungen und Schmerzen, die teils Wochen bis Monate andauern. Bei etwa der Hälfte davon sehen Forschende der Berliner Charité die Kriterien eines Chronischen Fatigue-Syndroms erfüllt, wie es auch nach anderen Viruserkrankungen auftritt.


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Während ältere Menschen und solche mit bestimmten Risikofaktoren ein höheres Risiko für schwere Covid-19-Verläufe haben, verläuft die Krankheit bei jüngeren Menschen meist milder [1]. Seit dem Sommer 2020 stellen sich jedoch immer mehr junge Menschen mit Langzeitsymptomen nach einer SARS-CoV-2 Infektion in den Ambulanzen vor, erzählt Professorin Carmen Scheibenbogen, stellvertretende Direktorin des Instituts für Immunologie und Leiterin der Immundefektambulanz an der Charité. Als auch durch die Presse vermehrt Berichte über anhaltende Symptome gingen, schlossen sich betroffene Menschen in digitalen Plattformen [2] wie etwa in Facebook-Gruppen zusammen oder sammelten Daten per App, die sie dann zusammen mit Wissenschaftler/-innen publizierten [3].

Menschen mit Long Covid berichten häufig von Fatigue.

Bis zu 20 bis 30 unterschiedliche Symptome

Es war zu erwarten, dass Menschen, die während oder in Folge ihrer akuten Covid-19-Infektion hospitalisiert waren, häufig unter länger anhaltenden Beschwerden leiden werden, sagt Carmen Scheibenbogen. Je nach betroffenen Organsystemen können Langzeitsymptome beispielsweise eine verminderte Lungenfunktion, Myokarditis oder Enzephalitiden sein. Auch gebe es Patientinnen und Patienten, die psychische Probleme entwickeln. Überraschender sei es jedoch gewesen, dass auch Menschen mit milden Verläufen Langzeitsymptome entwickeln.

Es zeige sich ein sehr komplexes Beschwerdebild mit bis zu 20–30 unterschiedlichen Symptomen im Krankheitsverlauf, berichtet die Professorin. Neben anhaltenden Symptomen wie etwa Atemlosigkeit, Palpitationen oder wiederkehrendem Fieber, die auch während einer akuten Infektion auftreten, berichten viele junge Menschen im längeren Verlauf etwa von Fatigue, Kopf- und Muskelschmerzen, kognitiven Störungen und eingeschränkter Leistungsfähigkeit.


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Long Covid beschreibt anhaltende Symptome

Der häufig in den Medien genutzte Begriff Long Covid bezeichnet laut britischer Leitlinie (NICE-Guideline) sowohl ein anhaltend symptomatisches Covid-19 (Symptome die länger als vier und bis zu 12 Wochen anhalten) als auch ein Post-Covid-19-Syndrom. Bei letzterem entwickeln sich die Anzeichen und Symptome während oder nach einer Infektion, dauern länger als 12 Wochen an und man kann sie nicht durch eine alternative Diagnose erklären [4].

Eine im Dezember im Ärzteblatt veröffentlichte Studie zeigt eine Gegenüberstellung von akuten und langfristigen Symptomen, unter denen Menschen mit Covid-19 leiden [5]. Die meisten Symptome treten schon während der akuten Erkrankung auf, verändern sich jedoch im zeitlichen Verlauf. Das trifft vor allem auf das Fatigue-Symptom zu. Auch Carmen Scheibenbogen macht die Erfahrung, dass die Fatigue im Verlauf oft zunehme. Eine Fatigue sei nicht mit einer bloßen Müdigkeit zu verwechseln. Es handele sich um eine krankhafte Erschöpfung.


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Fatigue nach Viruserkrankungen

Auch bei anderen Viruserkrankungen, z. B. nach einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus oder nach einer echten Grippe, kann eine Fatigue auftreten, erzählt Carmen Scheibenbogen. Dies wurde auch für SARS (Severe Acute Respiratory Syndrome) berichtet, welches ebenfalls auf eine Coronavirus-Infektion zurückzuführen ist. Das legte den Verdacht nahe, dass SARS-CoV-2 bei manchen Menschen ebenfalls ein postvirales Fatigue-Syndrom auslösen kann. Neben der Fatigue haben diese Menschen eine Reihe weiterer Beschwerden. Zum Beispiel verschlechtert sich ihr Zustand nach Belastung (Post-Exertional Malaise, PEM) und sie berichten häufig von Wortfindungsstörungen oder Vergesslichkeit. Letzteres nennt man im Englischen “brain fog“ (deutsch: Gehirnnebel). Außerdem haben sie Schlafstörungen, Kopf- oder Muskelschmerzen und leiden oft unter Störungen des autonomen Nervensystems wie etwa Kreislaufproblemen.

Energiemanagement

Das 3-P-Prinzip: Pacing, Planen and Priorisieren [9]

Pacing

Anstrengungen so gering halten, dass sich keine Erschöpfung einstellt. Dafür ...

... Aktivitäten in kleinere Abschnitte unterteilen und über den Tag verteilen.

... zwischen den Aktivitäten Ruhepausen einlegen (etwa 30–40 Minuten).

... sich hinsetzen, wo immer es möglich ist, z. B. bei der Körperpflege (ggf. bei längerem Sitzen Beine hochlegen)

Planen

Aktivitäten tage- und wochenweise planen, um Belastungsspitzen zu vermeiden.

  • alle benötigten Gegenstände sammeln, bevor man eine Aufgabe startet

  • Hilfsmittel nutzen

  • Hilfe von anderen annehmen

Priorisieren

Überlegen, ...

... welche Aufgaben man erledigen muss und was man sonst noch gerne tun möchte.

... welche Aufgaben man auch an einem anderen Tag erledigen kann.

... bei welchen Aktivitäten man jemanden um Hilfe bitten könnte.

Charité

Post-Covid-Fatigue-Syndrom-Studie

Einschlusskriterien:

  • anhaltende Symptome 6 Monate nach mildem/moderatem Covid-19

  • Leitsymptome Fatigue, Schmerzen, kognitive Einschränkung, Belastungsintoleranz

  • keine relevante neurologische oder kardiopulmonale Morbidität

Ausschlusskriterien:

  • Sauerstoffbehandlung oder Beatmung

  • Fatigue vor Covid-19-Erkrankung

  • kein PCR- oder Antikörpernachweis

Wenn die Symptome länger als sechs Monate andauern und die Diagnosekriterien erfüllt sind (CANADIAN CONSENSUS CRITERIA), spricht man von einer Myalgischen Enzephalomyelitis (ME) bzw. einem chronischen Fatigue-Syndrom (CFS). Dabei handelt es sich um ein Krankheitsbild, das bis jetzt noch kaum erforscht ist. Carmen Scheibenbogen war schon vor der Corona-Pandemie eine der wenigen Spezialistinnen für das chronische Fatigue-Syndrom. Sie berichtet, dass man derzeit davon ausgehe, dass es sich um eine Art Autoimmunerkrankung handelt, die mit einer Dysregulation des Immunsystems, des autonomen Nervensystems und metabolischen Störungen einhergeht. Ob der vermutete Pathomechanismus der ME/CFS auch bei Long Covid vorliegt, müsse jedoch noch geklärt werden.

Die häufigsten anderen Symptome sind Post-Exertional Malaise, kognitive Symptome, Kopf- und Muskelschmerzen.


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Beobachtungsstudie prüft, ob Kriterien zutreffen

Als im Sommer immer mehr Menschen in die Fatigue-Ambulanz kamen, initiierte Carmen Scheibenbogen mit ihrem Team relativ schnell die sogenannte Post-Covid-Fatigue-Syndrom-Studie, erzählt die Professorin. Mit dieser Beobachtungsstudie [6] zielten sie darauf ab, die Patientengruppe zu charakterisieren. Dazu sammelten sie klinische und paraklinische Daten, um zu prüfen, ob die CCC-Kriterien (CANADIAN CONSENSUS CRITERIA) für ein CFS auch auf diese Menschen zutreffen [7].


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Post-Covid-Studie: CCC-Kriterien bei fast der Hälfte der Teilnehmenden zutreffend

Die Studie schloss 42 Patientinnen und Patienten im Zeitraum von Juli bis November 2020 ein, die unter einer moderaten bis schweren Fatigue sechs Monate nach einer meist milden Infektion mit SARS-CoV-2 litten und die sich deshalb im Fatigue-Zentrum der Charité vorstellten (CHARITÉ, S. 31). Die 29 weiblichen und 13 männlichen Teilnehmenden waren zwischen 22 und 62 Jahre alt (im Mittel 36,5). Alle hatten eine ausgeprägte Fatigue (Chalder Fatigue Score median 25 of 33, range 14–32). Die häufigsten anderen Symptome waren Post-Exertional Malaise (PEM) (n = 41), kognitive Symptome (n = 40), Kopfschmerzen (n = 38) und Muskelschmerzen (n = 35) [6]. Die Beobachtungsstudie zeigte, dass 19 der 42 Teilnehmenden die Kriterien für ein CFS erfüllten. Sie hatten mehr Fatigue und mehr Stressintoleranz. Sie waren häufiger und länger von einer PEM betroffen und waren empfindlicher gegenüber Lärm, Licht und Temperatur im Vergleich zu denen, die nicht die ME/CFS-Kriterien erfüllten. Wie auch bei ME/CFS waren Frauen häufiger (n = 14) von den Symptomen betroffen als Männer (n = 5) [6].


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Bisher erfolgt die Behandlung symptomorientiert

Die Krankheit ME/CFS war vielen Ärztinnen und Ärzten bis vor kurzem unbekannt. Vielleicht kann die Corona-Pandemie daran etwas ändern. Denn auch die Publikationsmedien setzen sich derzeit vermehrt damit auseinander. Noch gebe es eine hohe Dunkelziffer, und die Versorgung sei unzureichend, bedauert Prof. Scheibenbogen. Sie rät dazu, bei Verdacht auf ein CFS die Diagnosekriterien genau anzuschauen und differenzialdiagnostisch unbedingt alle anderen Ursachen auszuschließen.

Bei ME/CFS erfolgt eine symptomorientierte Behandlung. Dazu gehört zunächst das Vermeiden von Überlastung und Erlernen von Techniken zur Stressvermeidung. Je nach Symptomen behandelt man Schlafstörungen sowie Schmerzen und Kreislaufstörungen, erklärt Scheibenbogen (siehe cfc.charite.de). Ob diese Art der Behandlung auch bei Long-Covid-Patienten indiziert ist, wird gegenwärtig noch untersucht. Man vermutet aber, dass es auch hier wichtig sei, Belastungsgrenzen nicht zu überschreiten, da sich die Symptome dadurch oftmals verschlechtern.


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Physische und kognitive Überanstrengung vermeiden

Viele Menschen mit Long Covid berichten von einer plötzlichen Verschlechterung ihres Zustandes, sogenannten Crashs, nach körperlicher oder kognitiver Belastung. Diese können bereits nach geringen Anstrengungen auftreten.

Kommen Patientinnen und Patienten von einem Crash in den nächsten, ergebe sich ein höheres Risiko für einen chronischen Verlauf, warnt Carmen Scheibenbogen. Sie empfiehlt, nicht gegen die vorerst eingeschränkte Leistungsfähigkeit anzukämpfen. Praktisch und hilfreich, um das zu vermeiden, seien Aktivitätstracker, mit denen Betroffene Schrittzahl und Puls messen können. Gut seien zudem Techniken um mentalen Stress zu reduzieren, wie z. B. Atemtraining oder autogenes Training.

Anhaltende Überlastung kann chronischen Verlauf begünstigen.

Die britische Gesellschaft für Myalgische Enzephalomyelitis/chronisches Fatigue-Syndrom (ME Association) hat im September 2020 ein ausführliches Dokument zu Post-Covid-Folgen veröffentlicht [8]. Dort wird Betroffenen empfohlen, dass sie sich am besten immer kleine und flexible Päckchen aus körperlichen und kognitiven Aktivitäten bündeln und dazwischen eine längere Ruhephase einplanen sollten. Es sei wichtig, die Balance zwischen Aktivität und Entspannung zu finden und sich nicht zu überlasten. Dieses sogenannte Pacing sei für all jene äußerst wichtig, die an einer Belastungsintoleranz leiden, findet auch Carmen Scheibenbogen. Das Royal College of Occupational Therapists hat praktische Tipps (ENERGIEMANAGEMENT, S. 31) verfasst, die Menschen helfen sollen, Überlastung während und nach einer Covid-19-Infektion zu vermeiden [9].

Sich gegenseitig unterstützen

Selbsthilfegruppen für Menschen mit Long Covid

Deutschland:

www.langzeitcovid.de

www.fatigatio.de

www.lost-voices-stiftung.org

www.mecfs.de

Österreich:

www.cfs-hilfe.at

Schweiz:

www.mecfs.ch

Eine Vermeidung von Belastungsspitzen sollte jedoch nicht zu totaler Inaktivität führen, gibt Carmen Scheibenbogen zu bedenken. Deshalb forscht ihr Team zusammen mit Sportwissenschaftlerinnen und Sportwissenschaftlern daran, die Belastungsgrenzen zu definieren. Und auch spezielle Programme innerhalb von Reha-Angeboten sind derzeit in Entwicklung.


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Multidisziplinäre Behandlung gefordert

Carmen Scheibenbogen schätzt, dass etwa 10–20 % der jüngeren Erkrankten ein Long Covid entwickeln werden. Wenn man bedenkt, wie viele Menschen bereits eine Infektion durchgemacht haben oder noch durchmachen werden, ist absehbar, dass auch Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten künftig vermehrt in Berührung damit kommen werden. Gemäß der NICE-Guideline sollten Betroffene ein individuelles multidisziplinäres Therapieangebot aus Physio- und Ergotherapie, klinischer Psychologie und Psychiatrie und Rehabilitationsmedizin erhalten [4].

Fatigue-Expertin Carmen Scheibenbogen macht zwar die Erfahrung, dass bei Vielen die Symptome innerhalb der nächsten Monate wieder abklingen, es gebe jedoch auch noch Betroffene aus der ersten Welle, die heute noch anhaltend krank sind.

Diagnose Chronisches Fatigue-Syndrom

Canadian Consensus Criteria

Myalgische Enzephalomyelitis (ME)/Chronisches Fatigue-Syndrom (CFS)

Folgende Kriterien müssen zutreffen, um ein ME/CFS zu diagnostizieren [7]:

  • neu aufgetretene stark beeinträchtigende Fatigue

  • Zunahme der Symptome nach leichten Anstrengungen (PEM, Post-Exertional Malaise) für mehr als 18 h

  • Schlafstörungen

  • Schmerzen

+

zwei oder mehr neurologische oder kognitive Manifestationen

+

ein oder mehr Symptome aus zwei der Kategorien: autonome, neuroendokrine und immunologische Manifestationen

+

Symptome halten bereits über sechs Monate an

+

Differenzialdiagnosen sind ausgeschlossen


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Publication History

Article published online:
14 June 2021

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