Im Kanon der medizinischen Fächer hat es die Psychiatrie immer schon ein wenig schwer
gehabt. Welcher Konsiliarius kennt nicht die freundlich verwunderte Begrüßung der
Stationsschwester: „Sind Sie der Psychologe? Gut, dass Sie da sind, die Galle auf
Zimmer 17 ist sowas von komisch!“ Und der ärztliche Kollege, dem man nach der Untersuchung
„der Galle“ erklärt, was eine Somatisierungsstörung ist, spürt sofort, dass sich das
Tor zu einer fremden Welt öffnet. „Verstehe …“, sagt er, „psychogen. Aber Sie nehmen
ihn schon gleich mit!?“
Zählt man diejenigen Kollegen mit, die den Zusatztitel Psychotherapie führen, dann
gibt es etwa 28 000 ärztliche Spezialisten für psychische Gesundheit, aber der überwiegende
Teil der 400 000 Mediziner sieht doch die Diagnostik und Behandlung psychiatrischer
Patienten am anderen Ufer des Flusses, ohne „Landverbindung“ zur somatischen Medizin.
Die zunehmende Technisierung hat in den vergangenen 3 Jahrzehnten diese scheinbare
Kluft zwischen Somatik und Psychiatrie weiter vertieft, auch deshalb, weil Neuroimaging
und -genetik zwar beeindruckende Ergebnisse erzielt und die pathogenetische Komplexität
psychiatrischer Erkrankungen dokumentiert haben, aber neurobiologisch getriggerte
Fortschritte der Behandlung bisher weitgehend ausgeblieben sind. Dies steht in deutlichem
Kontrast zu anderen Fachgebieten, wie z. B. der Onkologie oder auch der Neurologie,
wo in immer rascherer Folge neue „präzisionsmedizinische“ Ansätze auf molekulargenetischer
Basis die klinische Praxis erreichen. Behandlungsfortschritte in den letzten Dekaden
haben sich in der Psychiatrie hingegen im Wesentlichen im psychotherapeutischen und
psychosozialen Bereich entwickelt; sie waren selten durch medizinisch-naturwissenschaftliche
Konzepte inspiriert.
Wird es also Zeit für einen Paradigmenwechsel? Behindert die Konzeption von Psychiatrie
als einer medizinischen Disziplin ihre Weiterentwicklung? Wäre den Menschen mit psychischen
Erkrankungen besser damit gedient und würde es den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn
zu diesen Erkrankungen befördern, wenn man die Psychiatrie konzeptionell und strukturell
aus der Medizin herauslösen würde?
Nein, definitiv nicht. Im Gegenteil, klinische und wissenschaftliche Rückschritte
in der gesamten Medizin wären die Folge, und zwar aus mindestens drei gewichtigen
Gründen:
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Die konzeptuelle Trennung psychischer von somatischen Erkrankungen ist genauso wenig
überzeugend wie der kartesische Dualismus von Leib und Seele. Messbare Körperfunktionen,
Denken, Fühlen und Verhalten sind so eng miteinander verknüpft, dass Krankheit immer
ein ganzheitliches Geschehen ist. Es gibt zwar gute praktische Gründe dafür, dass
Chirurgen Patienten operieren, Onkologen ausgeklügelte Chemotherapien verabreichen
und Psychiater multimodale Therapiekonzepte zur Behandlung von Depressionen anwenden.
Und in diesem Sinne überzeugt es auch, von „chirurgischen“, „internistischen“ und
„psychischen“ Erkrankungen zu sprechen. Aber dafür, letztere als seelische Erkrankungen
konzeptuell von körperlichen Krankheiten abzugrenzen und aus der Medizin auszugliedern,
gibt es weder naturwissenschaftliche noch soziologische oder philosophische Evidenz.
Auch der langsame Fortschritt naturwissenschaftlicher Forschung im Bereich der Psychiatrie
beweist nicht, dass es sich um rein psychosoziale Erkrankungen handelt, genauso wenig
wie die rasanten Fortschritte der Tumortherapie dazu berechtigen würden, eine Krebserkrankung
als ausschließlich biologisches Phänomen zu betrachten. Alle Patienten haben ein Recht
auf ganzheitliche Medizin, selbst wenn sie „nur“ psychiatrisch erkrankt sind.
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Ebenso wie Menschen mit psychischen Erkrankungen Schaden nähmen, wenn deren Erforschung
und Behandlung vom Rest der Medizin getrennt betrachtet würden, so würde Medizin ohne
Psychiatrie auch alle anderen Patienten nicht gerecht. Zwar mag nichtärztliche Psychotherapie
Medizin von außen bereichern. Not tut aber weiterhin und womöglich in Zukunft noch mehr ein starker
Bereich innerhalb der Medizin, der psychosoziale Aspekte interdisziplinär in Forschung, Lehre und Krankenversorgung
einbringt. Die ohnehin schon deutlichen Tendenzen der „Körpermedizin“, alles „Seelische“
zu externalisieren, würden zum Schaden der Patienten weiter zunehmen.
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Medizin ist die Wissenschaft von der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Erkrankungen. Eine
Loslösung der Psychiatrie aus der Medizin, auch wenn sie nur teilweise erfolgen würde,
zum Beispiel durch eine Beschränkung der „medizinischen“ Psychiatrie auf neuropsychiatrische
Erkrankungen mit fassbaren (neuro-)biologischen Korrelaten, hätte erhebliche negative
Folgen für die Mehrzahl der Betroffenen. Es stünde nämlich entweder ihr gesellschaftlich
und sozialrechtlich ausgesprochen bedeutsamer Status als kranke Menschen grundsätzlich
zur Disposition, mit allen negativen Folgen, oder aber es müsste verbindlich definiert
werden, welche Krankheiten denn „nichtmedizinischen“ Charakter haben und wer für Vorsorge,
Erkennung und Behandlung dieser Erkrankungen (und damit auch für Forschung, Lehre
und Weiterbildung der zuständigen Heilkundigen) zuständig sein soll, wenn nicht die
Medizin. Bereit stehen hierfür zwar nichtärztliche Psychotherapeuten, deren berufspolitischen
Vertretung, die Bundespsychotherapeutenkammer, tatsächlich immer vehementer den Eindruck
erweckt, psychische Gesundheit bedürfe nicht der Medizin. Aber spätestens dann, wenn
der richtlinienpsychotherapeutische Stundentakt an der mangelnden Konzentrationsfähigkeit
oder der Adhärenz der Patienten scheitert, scheitert auch der Versuch kläglich, eine
einzelne Behandlungsmethode zum umfassenden heilkundlichen Konzept zu erklären. So
wichtig Psychotherapie für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist, so kann sie
doch immer nur Teil eines ganzheitlichen medizinischen Gesamtbehandlungsplans der
Diagnostik und Therapie sein.
Es sollte klar geworden sein, dass es zur Konzeption der Psychiatrie als einer medizinischen
Disziplin keine überzeugende Alternative gibt. In der Tat wird es aber notwendig sein,
Zielrichtung und Konzepte der biologischen Forschung zu überdenken und sie zu intensivieren,
und zwar gleichberechtigt und interaktiv mit psychosozialen und psychotherapeutischen
Ansätzen. Dabei wird wahrscheinlich eine Binnendifferenzierung in Teilgebiete notwendig
sein, die Psychiatrie als eines der großen medizinischen Fächer sowohl für vorwiegend
naturwissenschaftlich orientierte Forscher interessant macht als auch für junge Menschen,
die vor allem daran interessiert sind, psychotherapeutisch tätig zu sein.