Aktuelle Kardiologie 2021; 10(03): 159-160
DOI: 10.1055/a-1401-0863
Editorial

Vorhofflimmern im Wandel: wissen wir heute mehr als wir nicht wissen?

Lars Eckardt
,
Christian Perings

Lieber Leserinnen, liebe Leser,

zugegeben, aktuell haben die meisten von uns anderes im Kopf als Vorhofflimmern. Die SARS-CoV-2-Pandemie greift wie kein Ereignis der letzten Jahrzehnte in unser berufliches und privates Leben ein. Angesichts dieser dramatischen Pandemie ist es neben dem Verhindern einer weiteren Ausbreitung und der Behandlung der im Vordergrund stehenden pulmonalen Erkrankung aber auch wichtig, medizinische „Kollateralschäden“ durch fehlende oder zu späte Behandlung z.B. onkologischer oder kardiovaskulärer Erkrankungen zu verhindern. Hierzu zählt sicherlich auch die bestmögliche Behandlung von Menschen mit Vorhofflimmern. Während telemedizinische ICD-Kontrollen zeigen, dass die SARS-CoV-2-Pandemie mit einer Reduktion von ICD-Interventionen einhergeht [1], scheint Vorhofflimmern eher unbeeinflusst und die Sorge vor zu später Diagnostik und Therapie mit möglicherweise dadurch bedingten negativen Folgen ist berechtigt.

Unverändert ist Vorhofflimmern nicht nur die häufigste, sondern auch eine der komplexesten Rhythmusstörungen. Wenn wir die Herausforderungen von Vorhofflimmern meistern wollen, wird es sicher nicht reichen, auf das Bewährte zu verweisen. Trotz eines bemerkenswerten Wissenszuwachses bleiben auch heute noch zahlreiche Fragen offen. Neben der im März 2020 erschienenen aktualisierten ESC-Leitlinie zum Vorhofflimmern werden in der vorliegenden Ausgabe von „Aktuelle Kardiologie“ zahlreiche, klinisch relevante Themenbereiche diskutiert. So beantworten Hindricks und Darma die Rolle einer Katheterablation bei asymptomatischem Vorhofflimmern (s. S. 186). Wahrscheinlich werden wir in den kommenden Jahren einen Paradigmenwechsel erleben. Bislang und so auch in der Leitlinie 2020 wird eine antiarrhythmische Therapie von Vorhofflimmern für symptomatische Patienten empfohlen (s. S. 192). Neuere Daten wie die EAST-Studie [2], die noch keine Erwähnung in Leitlinien gefunden hat, belegen unabhängig von der Symptomatik einen prognostischen Benefit einer antiarrhythmischen Therapie. Dies könnte für viele in der Praxis ein Umdenken bedeuten. Beispielsweise würde dann, wie Hartmann et al. es in ihrem Artikel „Prognoseverbesserung nach Pulmonalvenenisolation?“ diskutieren, die Behandlung von Vorhofflimmern eine andere oder zumindest weitere Zielsetzung erfahren (s. S. 201).

Im Hinblick auf die Prognose von Patienten mit Vorhofflimmern ist seit Jahren der Nutzen einer oralen Antikoagulation etabliert. In diesem Kontext diskutieren Baumeister et al. den Stellenwert einer transösophagealen Echokardiografie (TEE) vor Kardioversion im Zeitalter der NOAK (s. S. 207). Auch in diesem Feld erleben wir einen bedeutsamen Wandel. Die Sorge vor Thromben und insbesondere einer Lücke in der oralen Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten bei schlecht eingestellten oder nicht bekannten INR-Werten hat bislang meist zum routinemäßigen Einsatz der TEE vor Kardioversion geführt. Vor dem Hintergrund der sichereren Therapie ist es aber bei lückenloser NOAK-Einnahme heute gerechtfertigt, darauf zu verzichten. Die Frage der Antikoagulation beschäftigt uns außerdem besonders nach erfolgreicher Pulmonalvenenisolation. Bislang wird empfohlen, dass Patienten unabhängig vom Ergebnis einer Ablation entsprechend ihrem CHA2DS2-VASc-Score antikoaguliert werden. Doch auch hier stellt sich die Frage, ob dies für alle Patienten gerechtfertigt ist. Weisen nicht doch immer mehr Daten darauf hin, dass eine Korrelation zwischen dem Ausmaß des Vorhofflimmerns und dem Schlaganfallrisiko besteht? Oder ist andererseits Vorhofflimmern eher ein Marker als ein kausaler Faktor für die Entstehung thrombembolischer Komplikationen? Kochhäuser et al. greifen dieses Thema in ihrer Übersicht zur Antikoagulation nach Pulmonalvenenisolation „Nur passager oder dauerhaft?“ auf (s. S. 214).

Neben Fragen zur Antikoagulation beschäftigen uns nach Pulmonalvenenisolation vielfach auch atriale Tachykardien. Manche Patienten erleben, dass ehemals wenig symptomatisches Vorhofflimmern nach einer Pulmonalvenenisolation zu einer als sehr störend empfundenen atrialen Tachykardie geführt hat. „Fluch oder Segen?“ haben Müller-Edenborn et al. ihren Artikel über atriale Tachykardien nach Vorhofflimmerablation genannt (s. S. 219). Von der Klinik der Patienten über das Oberflächen-EKG bis zu den Ablationsstrategien geben sie einen Überblick über Folgearrhythmien nach einer Vorhofflimmerablation.

Ergänzt wird die Therapie des Vorhofflimmerns in dieser Ausgabe durch eine Diskussion der Rolle des autonomen Nervensystems. Es scheint neben vielen anderen Faktoren für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Vorhofflimmern von besonderer Bedeutung zu sein. Im Vergleich zur interventionellen Therapie anderer Herzrhythmusstörungen ist die Ablation von Vorhofflimmern nach wie vor weitaus weniger erfolgreich. Umso mehr macht es Sinn, alternative Therapieverfahren zu entwickeln. Angesichts aktueller Studienergebnisse diskutieren Steven et al. deshalb die perspektivische Bedeutung der nicht invasiven Vagusstimulation (s. S. 228).

Last but not least wissen wir wahrscheinlich nicht, was wir alles über Vorhofflimmern nicht wissen, aber zumindest das, von dem wir vermuten, dass wir es nicht wissen, wird von Wiedmann et al. in ihrem Artikel zu „Gaps in evidence“ sehr anschaulich zusammengefasst (s. S. 233). Von der Pathophysiologie über die Diagnostik bis zur Therapie diskutieren die Kollegen Wissenslücken, die es zu schließen gilt.

Eine Welt ohne Vorhofflimmern ist aktuell kaum vorstellbar, eine Welt mit besserer Vorhofflimmerdiagnostik und -therapie aber realistisch! In diesem Sinne, lassen Sie uns alle gemeinsam versuchen, Vorhofflimmern bestmöglich zum Wohl unserer Patienten zu behandeln.

Ihre Lars Eckardt und Christian Perings



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Article published online:
14 June 2021

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