ergopraxis 2021; 14(05): 41-43
DOI: 10.1055/a-1367-0041
Perspektiven

Was belastet Ihre Mitarbeiter? – Psychische Gefährdungsbeurteilung

Anna von Eisenhart Rothe
 

Überstunden, fehlende Mittagspausen, Unterbezahlung, Einschränkungen bei der Urlaubsplanung – all das kann Ihre Mitarbeiter psychisch schwer belasten. Zu den Pflichten von Praxisinhabern gehört es, diese Belastungen zu erkennen, zu beurteilen und zu beseitigen, damit Ihre Mitarbeiter gesund bleiben.


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Anna von Eisenhart Rothe ist Physiotherapeutin B. Sc., Ökonomin mit Schwerpunkt Master Human Ressources und Wirtschaftsmediatorin. Sie lehrt in diversen Masterstudiengängen Personal, Controlling, Management und Marketing und ist Personalleiterin in einem Inklusionsunternehmen.

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Finden Sie heraus, ob Ihre Mitarbeiter psychisch belastet sind und wenn ja, wie hoch. Ist die Zufriedenheit groß, hält das alle gesund.© Thieme Gruppe/Susi Schaaf

Dass das Leid unserer Patienten uns psychisch oftmals belastet, ist kein Geheimnis. Bei der psychischen Gefährdungsbeurteilung geht es jedoch nicht um die psychischen Belastungen durch die Geschichten der Patienten, die wir abends mit nach Hause nehmen, sondern um die bestehenden Arbeitsbedingungen, die jeder Arbeitgeber selbst gestaltet und somit auch zu verantworten hat.

Durch den Fachkräftemangel in unseren therapeutischen Berufsgruppen ist Überlastung seit Langem ein großes Thema. Nicht nachbesetzte Stellen, Mittagspausen, die nicht genommen werden können, keine Lücken im Therapieplan, Überstunden ohne Aussicht auf Abbau, Urlaubseinschränkungen – die Liste ist lang. Zudem kämpfen unsere Berufsgruppen schon lange mit Taktung, Zeitmangel, Unterbezahlung, mangelnder Wertschätzung – alles Themen, die psychisch ebenfalls sehr belastend sein können.

Gesetzliche Verpflichtung

Warum sollte man sich als Arbeitgeber speziell mit der psychischen Gefährdung seiner Mitarbeiter beschäftigen? Nun, das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet Arbeitgeber dazu, auf Basis einer Beurteilung die innerbetrieblich belastenden physischen (vgl. § 5 ArbSchG) und psychischen (vgl. § 5 ArbSchG, Ziffer 6) Arbeitsbedingungen zu ermitteln und zu beurteilen, welche Arbeitsschutzmaßnahmen zur umfassenden und ganzheitlichen Gesunderhaltung der Mitarbeiter erforderlich sind. Zudem steigt die Zahl der Arbeitnehmer, die wegen psychischer Erkrankungen krankgeschrieben werden, die längerfristig arbeitsunfähig sind oder auch wegen einer psychischen Erkrankung in Frührente gehen müssen, seit einigen Jahren kontinuierlich. Diese Arbeitsunfähigkeitszeiten kosten Unternehmen viel Geld. Und nicht zuletzt ist Ihre sorgfältige Beschäftigung mit der psychischen Stabilität und Gesundheit Ihrer Mitarbeiter ein wichtiges Personalbindungsinstrument.

Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankungen seit dem Jahr 2000: plus 137 Prozent

Diese Bereiche sollten Sie als Praxisinhaber interessieren

Arbeitsinhalte und Arbeitsaufgaben

  • Haben Ihre Mitarbeiter Handlungsspielräume hinsichtlich der Entscheidung für Arbeitsmethoden und -verfahren?

  • Sind die Tätigkeiten abwechslungsreich oder eher einseitig?

Verantwortung

  • Sind Kompetenzen und Verantwortlichkeiten klar geregelt?

  • Kommt es durch unklare Strukturen und Prozesse häufiger zu Konflikten?

Qualifikation

  • Passen die Tätigkeiten zu den Qualifikationen der Mitarbeiter?

  • Sind sie angemessen eingewiesen und eingearbeitet?

  • Sind sie für ihre Tätigkeiten überqualifiziert oder fühlen sich unterfordert?

Arbeitszeit

  • Können die Mitarbeiter ihre Pausen tatsächlich wahrnehmen?

  • Wie können geleistete Überstunden kurzfristig wieder abgebaut werden?

  • Werden bei der Arbeitszeitregelung individuelle Wünsche berücksichtigt?

Arbeitsabläufe

  • Sind Arbeitstempo und -intensität häufig hoch, herrscht Zeit- und Leistungsdruck?

  • Fallen viele Aufgaben gleichzeitig an?

Kommunikation und Kooperation

  • Werden in Ihrem Betrieb regelmäßig Teambesprechungen durchgeführt?

  • Welche Kommunikationsregeln und -strukturen haben sich etabliert?

  • Wie werden Entscheidungen getroffen?

  • Sind Aufgaben- und Verantwortungsbereiche definiert und allen klar?

Soziale Beziehungen

  • Wie sind die Beziehungen zwischen den Mitarbeitern?

  • Sind Beschäftigte durch ihre Arbeit isoliert?

  • Wird die gegenseitige Wertschätzung innerhalb des Teams gefördert?

  • Gibt es Rollenkonflikte oder persönliche Konflikte?

Führung

  • Wie ist der Führungsstil?

  • Wie sind die Beziehungen zwischen Mitarbeitern und direkten Vorgesetzten?

  • Werden Entscheidungen transparent gemacht?

  • Wie ist der Umgang mit Fehlern?

Arbeitsumgebung

  • Gibt es eine ständige Geräuschkulisse?

  • Sind Fenster eigenständig zu öffnen und besteht ausreichend Tageslicht?

  • Ist die Raumtemperatur individuell regelbar?

Psychische Belastung ist nach der Norm EN ISO 10075 „die Gesamtheit aller erfassbaren Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken“, wobei der Begriff „Belastung“ hier wertfrei definiert wird. Mitarbeiter nehmen Belastung unterschiedlich wahr. Sie haben individuelle Emotionslagen und verfügen über mehr oder weniger geeignete Bewältigungsstrategien gegenüber Belastung. In Deutschland ist die Zahl der Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen rasant gestiegen: von 2000 bis 2019 um alarmierende 137 Prozent. Frauen waren deswegen wesentlich häufiger krankgeschrieben als ihre männlichen Kollegen („Psychoreport 2020“ der DAK, online unter bit.ly/3bNjfsH, Stand: 15.03.2021). Die Corona-Pandemie wird dies sicherlich beschleunigen und die Zahlen werden 2021 weiter steigen.


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Im Mitarbeitergespräch oder anonym

Da wir durchschnittlich mit 34 Stunden/Woche einen erheblichen Teil unseres Lebens bei der Arbeit verbringen, hat der Arbeitsplatz einen wichtigen Einfluss auf unsere Psyche. Psychische Belastung bei der Arbeit umfasst Arbeitsdichte, soziale Kontakte am Arbeitsplatz oder Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit. Aber auch Führungsverhalten, innerbetriebliche Information und Kommunikation, Arbeitsabläufe sowie Über- oder Unterforderung können individuell krankmachende Faktoren sein.

Wie es Ihren Mitarbeitern geht, könnten Sie in den regelmäßigen Mitarbeitergesprächen herausfinden und Lösungen erarbeiten. Inzwischen haben Sie Ihre Erfahrungswerte, welche Mitarbeiter offen äußern, was sie belastet. Andere hingegen verschweigen dies am Arbeitsplatz lieber – aus Angst vor Sanktionen oder gar Arbeitsplatzverlust.

Welche Grundbelastungen in Ihrem Betrieb prozentual relevant bestehen, lässt sich anonym mittels der psychischen Gefährdungsbeurteilung evaluieren. Sie ist auch ein Instrument der Prävention, denn Sie können durch frühzeitiges Handeln hoffentlich Erkrankungen Ihrer Mitarbeiter vermeiden, weil Sie bereits im Vorfeld geeignete Maßnahmen aus der Evaluation ableiten konnten. Sie zeigt dabei nicht nur bestehende Risiken, sondern auch Faktoren auf, die dazu beitragen, dass Beschäftigte auf Dauer gesund und motiviert bleiben. Wäre beispielsweise ein Ergebnis der psychischen Gefährdungsbeurteilung, dass Ihre Mitarbeiter voll und ganz mit Ihrer Personalführung zufrieden sind, ist dies auch für Sie persönlich ein wertvolles Feedback. Welcher Mitarbeiter lobt denn schon mal ausdrücklich seine Chefin?

Für Sie als Arbeitgeber besteht keine explizite Verpflichtung, psychische Belastungen in einer gesonderten Gefährdungsbeurteilung zu behandeln. Sie kann in bestehende Prozesse der gesamten Gefährdungsbeurteilung, die von der Berufsgenossenschaft gefordert wird, integriert werden.

Aber vielleicht ist es gerade jetzt sinnvoll, sich die psychische Belastung gesondert anzusehen? Wenn ja, ist es kein Top-down-Prozess, denn alle Mitarbeiter müssen mitwirken und eingebunden sein. Anders als die physische lässt sich die psychische Belastung nicht objektiv messen, es existieren auch keine Grenzwerte. Ihre Beschäftigten sind hier Experten für ihre eigene subjektive Arbeitssituation.

Im Internet finden Sie jede Menge Material, Leitfäden, Checklisten und Praxisbeispiele. Praktikabel, übertragbar und bequem elektronisch auswertbar ist der kostenlos verfügbare Fragebogen der BGW (Berufsgenossenschaft Gesundheit und Wohlfahrtspflege; bit.ly/3cubTK0), sofern Sie Mitglied sind. Die BGW verfügt auch über spezifische Materialien für therapeutische Praxen (bit.ly/3bNlFI3).

Wenn Sie psychische Belastungen abfragen, müssen Sie sie auch verringern wollen


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Gut planen – und dann dranbleiben

Sie können auch eigene schriftliche Befragungen erarbeiten, Beobachtungen und Interviews durchführen oder einen moderierten Workshop als Methode wählen: Immer sind gute Planung, Vorbereitung, interne Kommunikation und die Folgemaßnahmen entscheidend. Wenn Sie die psychische Belastung erfragen, wecken Sie Erwartungen, dass Sie auch bereit sind, bestehende Belastungen zu verringern. Bleiben später Ergebnisse und Verbesserungen aus, führt die Enttäuschung darüber zu einer neuen psychischen Frustration.

Weitere Erfolgsfaktoren der psychischen Gefährdungsbeurteilung sind:

  • Bereitstellung von personellen und zeitlichen Ressourcen für die Durchführung und Umsetzung ausgewählter Maßnahmen

  • Festlegung eines Steuerungsgremiums, das plant, vorbereitet, kommuniziert und begleitet

  • Transparenz aller Prozessschritte gegenüber den Mitarbeitern

  • Gewährleistung der Anonymität, um größtmögliche Offenheit zu bekommen

  • Realistische Zeitplanung für die einzelnen Prozessschritte

  • Wenn Moderation eines Workshops, dann durch qualifizierte, neutrale Personen

  • Vereinbarung konkreter Ziele und Maßnahmen – möglichst SMART

  • Wiederholung derselben Methodik zur Überprüfung der Wirksamkeit der Maßnahmen nach angemessener Zeit


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Ein Erfahrungsbericht

In unserem Betrieb mit 80 Mitarbeitern haben wir mit dem Fragebogen der BGW jeweils getrennt in fünf Teams evaluiert. Die elektronische Auswertung war eine große Zeitersparnis. Die eigentliche Arbeit begann danach: Wir haben in den Teams jeweils einen vierstündigen Workshop abgehalten, in dem das jeweilige Teamergebnis vorgestellt und diskutiert wurde. An Nummer 1 in allen Teams stand das Grundgefühl vieler Mitarbeiter, zu wenig, zu spät und nicht ausreichend Informationen zu erhalten. Wir haben drei Maßnahmen ergriffen. Wir bespielen unser Intranet deutlich intensiver. Abteilungsübergreifende Informationen, personelle Veränderungen und auch Fotos werden digital allen gleichzeitig zur Verfügung gestellt. Zudem erhalten die Abteilungsleiter regelmäßig Handouts mit relevanten Mitarbeiterinformationen, die sie als Checkliste in die Teambesprechungen mitnehmen. Aber auch das Mitarbeiterverhalten selbst – die „Holschuld“ aller in Bezug auf Informationen – wurde neu vereinbart. Wer wann was wie genau wissen will, ist unterschiedlich, und wer Defizite hat, muss selbst aktiv nachfragen. Wir legten fest, dass jeder Informationsschreiben und E-Mails deutlich sorgfältiger lesen und nach eigener Abwesenheit bei Kollegen Infos aktiv einholen muss.

Thema Nummer 2 war Störungen durch Kollegen: mal schnell vorbeikommen und ein paar Sätze plaudern, Fragen wie „könntest du bitte mal schnell …“, statt selbst zu recherchieren. Wir haben vereinbart, dass Abgrenzungen wie „bitte entschuldige, ich habe gerade keine Zeit“ absolut okay sind. Festgelegte Sprechzeiten je nach Aufgabengebiet wurden mit der Konsequenz eingerichtet, dass Störungen außerhalb der Sprechzeiten dann mit dem Satz „sorry, außerhalb der Sprechzeit“ kommentiert werden dürfen.

Thema Nummer 3 war die Wertschätzung in Form von Lob, aber auch Vergütung. Wir haben vereinbart, dass wir alle untereinander viel mehr Positives äußern. Alle Abteilungsleiter haben verstanden, dass einzelne Mitarbeiter deutlich mehr Lob und Rückmeldung brauchen als andere. Zudem werden wir das bestehende Gehaltsgefüge auf den Prüfstein stellen und einzelne Gehälter anpassen.


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Maßnahmen an der Unternehmensgröße orientieren

Je kleiner ein Unternehmen ist, umso individueller sind die Maßnahmen, die Sie für Ihre Mitarbeiter ergreifen könnten. Der Aufbau eines betrieblichen Gesundheitsmanagements als Maßnahme bei zehn Mitarbeitern wäre sicher völlig überzogen. Aber Sie könnten zwei Mitarbeiterinnen einen Zuschuss zum Yogakurs bewilligen und die Wochenarbeitszeit so verschieben, dass eine Teilnahme möglich wird. Sie könnten als Maßnahme zum Konfliktmanagement zwischen zwei Mitarbeitern eine externe Mediatorin mit dem Fall beauftragen und die Kosten dafür übernehmen. Für drei andere Mitarbeiter, die an der üblicherweise gemeinsamen Mittagspause nicht teilnehmen können, weil ihre Arbeitszeiten anders liegen, könnten Sie einen Chat anlegen, in dem sie von den Kollegen laufend über aktuelle Themen informiert werden. Ist zum Beispiel eine Ihrer Mitarbeiterinnen besonders belastet durch Störungen während der Behandlung, könnte die Lösung ein „Bitte nicht stören“-Schild an der Tür ihres Behandlungsraums sein. Und für die beiden Mitarbeiter, die angeben, dass sie Behandlungen im Gruppenraum wegen des Lärmpegels, wenn man zu viert im Raum ist, als besonders stressig empfinden, könnten Randzeiten Abhilfe schaffen, in denen einige Kollegen schon nicht mehr in der Praxis sind.


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Publication History

Article published online:
03 May 2021

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