Zeitschrift für Phytotherapie 2021; 42(02): 65-67
DOI: 10.1055/a-1336-6187
Editorial

Editorial

Karin Kraft

Kürzlich las ich in der Tagespresse, dass der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) auf strengere Vorgaben für Nahrungsergänzungsmittel (NEM), die Vitamine oder Mineralstoffe enthalten, drängt. Ungefähr ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland nähmen NEM zu sich, ohne dass eine relevante Unterversorgung mit Nährstoffen vorläge. Dies sei bedingt durch intensive Werbung und zu wenig Kenntnisse der Bevölkerung zur Ernährung. Er fordert deshalb, Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe festzulegen, für Präparate auf pflanzlicher Basis zudem eine „Positivliste“ nicht gesundheitsschädlicher Inhaltsstoffe.

In diesem Heft steht der Problembereich Phytopharmaka vs. NEM, insbesondere der Botanicals, im Fokus. Ich möchte an einigen historischen Beispielen darlegen, dass sich die NEM-Problematik schon vor mehr als einem Jahrhundert anbahnte.

Im 19. Jahrhundert waren zahlreiche Versuche durchgeführt worden, bei denen Tiere, die mit Kombinationen aus Casein, Albumin, Stärkemehl, Rübenzucker und reinem Fett gefüttert wurden, innerhalb von 3–4 Wochen verstarben, wobei sie die Nahrungsaufnahme trotz größtem Hunger zuvor verweigerten. Wenn man die durch Veraschung von Blut gewonnenen Salze hinzufügte (d. h. die Elektrolyte), überlebten die Tiere länger. Da die Zusammensetzung dieser „Nährsalze“ zudem etliche Gemeinsamkeiten mit den parallel entwickelten Pflanzendüngern aufwies, folgerte man, dass die Einnahme von Nährsalzen (einschließlich der homöopathisierten Schüssler-Salze) Schwäche- und Mangelzuständen des Menschen entgegenwirken könne. 1885 führte der physiologische Chemiker Julius Hensel Untersuchungen durch, die in der Entwicklung der Hensel‘schen „Nahrungs-Ergänzungsmittel“ mündete [1]. Auch von anderen Herstellern wurden Nährsalzpräparate, z. B. in Form von Schokolade oder Kaffee, gegen Schwächezustände infolge der weitverbreiteten Geschlechtskrankheiten (um 1900 bei 10 % der Bevölkerung), der Tuberkulose, des Alkoholismus und der Bleichsucht (Anämie) sowie gegen die infolge der Hungerjahre des Ersten Weltkriegs und der 1918 / 19 grassierenden „Spanischen Grippe“ auftretenden Erschöpfungszustände bei der Bevölkerung vermarktet. Dazu gehört auch im weiteren Sinne das von Justus von Liebig entwickelte Konzentrat „Liebigs Fleischextrakt“, das ab 1862 in Uruguay in großem Umfang hergestellt wurde. Dort gab es einen riesigen Überschuss an Rindfleisch, da die Tiere vor allem wegen der Häute und Felle gehalten wurden, das Fleisch aber wegen der fehlenden Kühlmöglichkeiten verdarb. Der Extrakt wurde z. B. als Zugabe bei der Truppenverpflegung im Ersten Weltkrieg als Stärkungs- und Kräftigungsmittel verwendet.

Ein besonders weit verbreitetes und als ein „echter Kraftspender“ beworbenes Produkt war „Fluade“, das vor allem Nährsalze (Phosphate, Kieselsäure, Kalzium) sowie Fruchtsäuren, etwas Eiweiß, Fett, Kakaobohnenmehl und Zucker enthielt. Das Pulver sollte als Ersatz für Kakao, Schokolade, Zucker, Milch, Kaffee, Tee und Fruchtsäfte dienen [2]. Fruchtsäuren wurden unter der Vorstellung der Neutralisierung der infolge der damals extrem fleischreichen Kost sehr hohen Harnsäurespiegel genutzt. Kalziumsalze und Kieselsäure wurden zur Unterstützung der Abkapselung der kieselsäure- und kalkhaltigen Lungenherde bei Tuberkulosekranken eingesetzt [3].

Die hochattraktive Vermarktung von Kraftspendern eskalierte aus heutiger Sicht, als das Ehepaar Marie und Pierre Curie 1898 das Radium entdeckte. Dessen „Emanation“ (222Rn) galt als gesundheitsfördernd. In den USA und in Europa wurde Radium daher als Medikament gegen eine Vielzahl von Leiden verwendet und Schokolade und anderen Nahrungsmitteln als Stärkungsmittel zugesetzt.

Der Physiologe Emil Abderhalden forderte jedoch schon im Vorwort seines Buches von 1917: „Es ist dringend notwendig, daß in breite Volksschichten größere Kenntnisse über unsere Ernährung verbreitet werden. Es gilt dies nicht nur für die Jetztzeit, sondern auch für die Zukunft“. Auf S. 114 schreibt er: „Es sind vielfach Bestrebungen im Gange, zu veranlassen, daß unsere Nahrung nach dieser oder jener Richtung ergänzt wird.“ „Gewiß kann der Arzt aufgrund seiner Feststellungen zu dieser oder jener Zulage eines reinen Nahrungsstoffes greifen, wenn jedoch der Laie anfängt, der Natur zuwider sich mit solchen zu versehen, dann wird er vielfach nicht nur unnütz viel Geld ausgeben, sondern sich entschieden auch schaden.“ „Eine besondere Zufuhr des einen oder anderen Stoffes ist bei normaler Art der Ernährung mit einer einzigen Ausnahme nicht notwendig. Diese Ausnahme bildet das Kochsalz“ [4]. Diese Sichtweise wurde übrigens auch von den zahlreichen vegetarischen und naturheilkundlichen Laiengesellschaften vertreten, die sich für eine pflanzenkostreiche Ernährung einsetzten.

In den 1920er-Jahren wurden zudem Produkte mit dem Versprechen einer verjüngenden Wirkung vermarktet, z. B. das „Lukutate-Mus“, das „0riginal-Indische Verjüngungsfrüchte“ (Durian [Durio zibethinus L.], Nillu [Diospyros lotus L.]) enthalten sollte. Das Produkt war wirtschaftlich äußerst erfolgreich, weil es die große Gruppe der an natürlichen Heilverfahren interessierten Verbraucher ansprach: Es war vegetarisch, das Narrativ von seiner (fern-)östlichen Herkunft appellierte an die vielen Menschen, die zu dieser Zeit Wahrheit und Weisheit in fernöstlichen Philosophien suchten, und zudem wurde die damalige Popularisierung der Wissenschaft durch Bezug auf die sehr bekannten zeitgenössischen Wissenschaftler Alfred Russel Wallace und Ernst Haeckel genutzt. In einer Untersuchung des Produktes wurde jedoch nur wenig Nillu, vor allem aber Fruchtmus aus Mango, Sapotilla (Achras sapota L.) und Papaya gefunden. Eine Probe von „Lukutate purum“ bestand hauptsächlich aus Tamarindenmus, Röhrenmannamark (Cassia fistula) sowie Sapotilla, eine weitere aus Apfel-, Pflaumen- und Tamarindenmus, Nillu und Sapotilla. Da in diesen Proben Emodin nachgewiesen wurde, war die Grenze zum Arzneimittel überschritten [5]. Nach Verbot der Produkte verließ der Hersteller Deutschland 1928, um sich seiner Verhaftung zu entziehen [6].

Die Vermarktung von Nähr- bzw. Aufbausalzen und Verjüngungsmitteln blühte jedoch weiter, wie sich aus einem Artikel des damals recht bekannten Lebensmittelchemikers Ragnar Berg von 1938 ergibt: „Freilich gibt es Tausende von Präparaten, die dank einer zugkräftigen Werbung einen unter Umständen sogar gewaltigen Gewinn ergeben. Es sei hier nur an gewisse Verjüngungsmittel, „Aufbausalze“ u. dgl. erinnert. Allmählich aber kommt natürlich das Publikum dahinter, dass die versprochenen Wirkungen ausbleiben, und langsam aber sicher, vielleicht sogar schlagartig hört der Umsatz auf“ [7].

In der Zeitschrift „Die Ernährung“ findet sich 1938 die Mitteilung: „Der Reichsheilpraktikerführer Kees, München, hat eine Anordnung erlassen, nach der nicht nur die im Heilpraktikerbund Deutschlands berufsständisch erfassten Heilpraktiker, sondern auch alle nicht organisierten sogenannten Heilgewerbetreibenden der Standesordnung für die deutschen Heilpraktiker unterstehen. Diese Personen sind mit Wirkung vom 15. Februar 1938 an also auch verpflichtet, sich an die Bestimmungen der Standesordnung bezüglich … dem Verbot der Selbstabgabe von Heil-, Kräftigungs- und Vorbeugungsmitteln aller Art zu halten [8]. In einer späteren Ausgabe der Zeitschrift wird von der Warnung des Reichsministeriums des Inneren vor dem wahllosen Gebrauch von mit Jod angereicherten Lebensmitteln und borsäurehaltigen Abmagerungsmitteln durch die Bevölkerung berichtet [9].

Die „Rote Liste“ von 1939, die in drei Abschnitte gegliedert ist, zeigt, wie schwierig die Regulation unter damaligen Bedingungen war. Im Abschnitt A finden sich die Arzneimittel mit chemisch definierten Zusätzen einschließlich Vitaminen, wobei viele Produkte zudem pflanzliche Extrakte (z. B. Bromsalz + Baldrianextrakt) enthalten. In Abschnitt B sind Präparate der Naturheilkunde, Homöopathie und Biochemie (vorwiegend Kombinationen pflanzlicher Extrakte oder Homöopathika mit und ohne Hefen oder Salze, z. B. auch aus Mineralquellen) aufgeführt, im Abschnitt C (Hausmittel) finden sich u. a. Nährsalzmischungen, z. B. in Kombination mit Hefe, Fruchtsäfte mit Zusätzen von Arzneipflanzenextrakten sowie Bonbons und Schokolade mit Jodzusatz. In allen drei Abschnitten sind extern oder intern anzuwendende radiumhaltige Produkte aufgelistet [10], obwohl spätestens ab 1932 unumstritten feststand, dass Radium und andere Quellen ionisierender Strahlen schwerste Gesundheitsschäden hervorrufen.

Man könnte diese kleine Auswahl an Literatur insbesondere zu den Nährsalzen über die folgenden Jahrzehnte fortsetzen, wobei sich diese Produkte in ihrer Zusammensetzung wandelten und heutzutage als Präparate mit Mineralstoffen, Spurenelementen und / oder Multivitaminen im Handel sind. Die Diskussion ist jedoch bis heute nicht abgeschlossen: Eine aktuelle Analyse von neun randomisierten Studien bei Patienten mit einer Koronarerkrankung, die durch serielle Bildgebungsdiagnostik evaluiert wurden, deutet darauf hin, dass eine Kalzium-Supplementierung Kalkablagerungen in den Koronararterien begünstigen könnte [11].

Die in diesem Heft enthaltenen Artikel weisen insbesondere auf die Dringlichkeit regulatorischer Maßnahmen zur Abgrenzung von pflanzlichen Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln hin, wobei das relativ neue Problem der Botanicals einer besonderen Aufmerksamkeit bedarf.

Prof. Dr. med. Karin Kraft



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Article published online:
13 April 2021

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  • Literatur

  • 1 Karl Strünckmann. Iss Dich gesund durch Frischkost-Rohkost Sonnenkost! Bücher der „Weißen Fahne“, ca. 1920. 50: 21 Pfulligen: Johannes Baum Verlag;
  • 2 Werbeflyer der Fluade-Nährmittelfabrik, Wüstenbrand-Chemnitz ca. 1920
  • 3 Dr. Ebinger. Einige Erfahrungen mit Eudidon-Nährsalz und Eupleuron-Lungentee „Opheyden“. Aerztliche Rundschau, 1920; Nr. 49
  • 4 Abderhalden E. Die Grundlagen unserer Ernährung unter besonderer Berücksichtigung der Jetztzeit. Berlin: Julius Springer; 1917
  • 5 Griebel C. Über den mikroskopischen Bau einiger tropischer Früchte und ihren Nachweis in marmeladenartigen Zubereitungen wie Lukutate-Mark. Zeitschrift für Untersuchung der Lebensmittel 1928; 55: 89-111
  • 6 Schwalbe J. Lukutate – ein neues Schulbeispiel für das deutsche Geheimmittelunwesen und die Unzulänglichkeit seiner Bekämpfung. Deutsche Medizinische Wochenschrift 1928; 54: 238-240 , 279–280, 401–402, 622–625
  • 7 Berg R. Was verlangen wir von einem Reformerzeugnis? Jahrbuch der Deutschen Lebensreform. Dresden: Müllersche Verlagshandlung; 1938: 47-48
  • 8 Die Ernährung. 1938; 3 (04) : 106
  • 9 Die Ernährung. 1939; 4 (02) 52
  • 10 Preisverzeichnis deutscher pharmazeutischer Spezialpräparate: Rote Liste 1939;. Berlin: 1939
  • 11 Bazarbashi N, Kapadia SR, Nicholls SJ. et al. Oral calcium supplements associate with serial coronary calcification: Insights from intravascular ultrasound. J Am Coll Cardiol Cardiovasc Imaging 2021; 14: 259-268