Gesundheitswesen 2022; 84(05): 457-465
DOI: 10.1055/a-1330-8081
Originalarbeit

Inanspruchnahme der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit geistiger Behinderung, eine Querschnittstudie in 3 Werkstätten

Health Care Use by Intellectually Disabled People: A Cross-Sectional Study in three Sheltered Workshops
Randi Wellkamp
1   Institut für Gesundheitssystemforschung, Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland
,
Werner de Cruppé
2   Institut für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutschland
,
Susanne Schwalen
3   Ärztekammer Nordrhein, Düsseldorf, Deutschland
,
Max Geraedts
1   Institut für Gesundheitssystemforschung, Universität Witten/Herdecke, Witten, Deutschland
2   Institut für Versorgungsforschung und Klinische Epidemiologie, Marburg, Philipps-Universität Marburg, Deutschland
› Author Affiliations

Zusammenfassung

Ziel der Studie Menschen mit geistiger Behinderung weisen eine geringere Lebenserwartung und häufigere Komorbidität als die Allgemeinbevölkerung sowie ungedeckte Gesundheitsbedarfe auf. Als ein Grund wird eine unzureichende medizinische Versorgung vermutet, wozu in Deutschland wenige Daten vorliegen. Die Studie widmet sich deshalb der Frage, wie Menschen mit geistiger Behinderung die medizinische Versorgung einschließlich Vorsorge und präventive Angebote in Anspruch nehmen.

Methodik Querschnittstudie in 3 Werkstätten für Menschen mit geistiger Behinderung. Von Angehörigen wurde die Inanspruchnahme der Gesundheitsversorgung per Fragebogen erhoben. Die Auswertung erfolgte deskriptiv und inferenzstatistisch im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sowie innerhalb der Teilnehmenden auf soziodemografische Unterschiede.

Ergebnisse Fast alle 181 Teilnehmer (Teilnahmequote 19,3%) haben einen Hausarzt. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung nehmen die Teilnehmer die hausärztliche und die Versorgung durch zahlreiche andere Facharztgebiete häufiger in Anspruch. Die Krebsvorsorge für Dickdarm, Brust, Gebärmutterhals und Prostata nehmen sie seltener, für Haut und den Check-up öfter in Anspruch. Bei Zahnarztkontrollen und Maßnahmen der Gesundheitsförderung zeigt sich kein Unterschied. Teilnehmer aus Wohnheimen nehmen die Regelangebote mehr in Anspruch als die bei Angehörigen oder alleine Lebenden. Teilnehmer mit Migrationshintergrund kennen die Versorgungsangebote weniger gut.

Schlussfolgerung Hinweise auf eine generelle gesundheitliche Unterversorgung zeigen die Ergebnisse nicht. Die Teilnahme an der Krebsvorsorge mit aufwändigeren Untersuchungen sollte gefördert werden, insbesondere für die allein oder bei Angehörigen lebenden Menschen mit geistiger Behinderung; Menschen mit Migrationshintergrund und ihre Angehörigen sollten gezielt informiert werden.

Abstract

Study objective People with intellectual disabilities have a lower life expectancy and more frequent comorbidities than the general population and have unmet health needs. Insufficient medical care is suspected to be one reason, for which little data is available in Germany. The study therefore focuses on the question of how people with intellectual disabilities make use of medical care, including screening and preventive measures.

Method In a cross-sectional study in 3 workshops for people with intellectual disabilities, the use of health care was surveyed by means of questionnaires from their relatives. The evaluation was carried out descriptively and by means of inferential statistics comparing participants with the general population as well as within the group of participants for socio-demographic differences.

Results Almost all 181 participants (participation rate 19.3%) had a family doctor. In comparison to the general population, the participants made more frequent use of the services of general practitioners and the care provided by numerous other specialist areas. They made less frequent use of screening for colon, breast, cervix and prostate and more frequent use for skin cancer and general check-up. Dental check-ups and preventive measures showed no difference. Participants living in institutional settings made more use of the regular services than those living with relatives or alone. Participants with a migration background were less aware of care services.

Conclusions The results do not show any indications of a general undersupply of health care. Participation in cancer screening with more complex examinations should be encouraged, especially for people with mental disabilities living alone or with relatives. Those with a migration background and their families should be specifically informed.



Publication History

Article published online:
22 April 2021

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Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany

 
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