Allgemeine Homöopathische Zeitung 2021; 266(01): 40
DOI: 10.1055/a-1325-8551
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Leserbrief

Leserbrief

Ein alter Dialog zum derzeitigen Triumph der Medizin über den Rest der Gesellschaft

Wenn aus gesunden Menschen ängstliche Patienten werden, die mit nichtssagenden Befunden, etwa positiven Abstrichen, krank gemacht werden, werden sie „geknockt“. Dieses Vorgehen wurde vor 100 Jahren in Jules Romains Theaterstück „Knock oder der Triumph der Medizin“ beschrieben. Zurzeit ist das „Knocken“ so lebendig wie nie zuvor.

Kurz zum Inhalt des Stückes: Ein durchtriebener Arzt, Dr. Knock, übernimmt die Landarztpraxis von Dr. Parpalaid, einem älteren Kollegen, und verwandelt innerhalb kürzester Zeit mit kostenlosen Konsultationen, „Vorsorgen“ und Bangemacherei die ganze robuste und gesunde Bevölkerung zu medizingläubigen Dauerpatienten, „Chronikern“ und Konsumenten seiner Gesundheitswirtschaft. Das Hotel am Ort wird zum überfüllten Krankenhaus, und die Bevölkerung ist dankbar, dass man auch auf dem Lande von den Errungenschaften der modernen Medizin profitieren kann. Nach ein paar Monaten kommt der Vorgänger zurück und staunt über die Veränderungen, die dort vor sich gegangen sind. Knock und sein Vorgänger kommen ins Gespräch und Knock erläutert seine Vorstellung von Medizin heute. Aus Akt 3, 6. Szene:

Paraplaid: Vielleicht werden Sie mich für übertrieben halten und behaupten, ich betriebe Haarspalterei. Aber werden bei Ihrem Vorgehen nicht etwa die Interessen des Patienten denen des Arztes untergeordnet?

Knock: Doktor, Sie vergessen eines: Es gibt noch ein übergeordnetes Interesse.

Welches?

Das der Medizin. Und das ist das Einzige, mit dem ich mich beschäftige.

(Schweigen, Paraplaid denkt nach.)

Sie überlassen mir einen Bezirk von einigen tausend gesichtslosen, unbestimmten Individuen. Meine Aufgabe besteht darin, ihnen eine Bestimmung zu geben, sie zu einer medizinischen Existenz zu führen. Ich schaffe sie ins Bett und beobachte, was dann dabei herauskommt, … was immer man will, aber irgendwas muss doch dabei herauskommen, irgendwas, mein Gott, nichts ist mir unerträglicher als diese Wesen, nicht Fisch, nicht Fleisch, die Sie als „gesunden Menschen“ bezeichnen.

Sie können doch nicht den ganzen Bezirk ins Bett legen!

Auch da könnte man mal drüber reden. Ich kenne eine Familie, in der alle fünf Mitglieder gleichzeitig krank waren, gleichzeitig im Bett lagen und die sehr gut zurechtgekommen sind. (…) In Wirklichkeit ist es doch so, dass wir alle den Mut nicht haben, dass niemand, auch ich nicht, es wagt, bis zum Äußersten zu gehen und tatsächlich die ganze Bevölkerung ins Bett zu schicken, nur um zu sehen, was passiert, nur um es zu sehen! Aber lassen wir das. Ich gestehe Ihnen zu, dass es Gesunde geben muss, und sei es nur, um die anderen versorgen zu können oder um eine Art Reserve hinter den aktiven Patienten zu bilden. Was ich nicht dulden kann, ist, dass Gesundheit das Ausmaß einer Provokation annimmt; das werden Sie ja wohl zugeben, da ist das Maß voll. Wir verschließen die Augen angesichts einer gewissen Zahl von Fällen, wir lassen einigen Leuten ihre Maske des Wohlseins, aber wenn sie uns vor unseren Augen herumstolzieren und sich eine gute Zeit machen, werde ich sauer.

Es bleibt aber noch ein ernstes Problem. Welches?

Sie denken ausschließlich nur an die Medizin. Und alles andere? Glauben Sie nicht, dass die allgemeine Verbreitung Ihrer Methode eine gewisse Verlangsamung des übrigen sozialen Lebens mit sich bringt, welches trotz allem doch zum Teil ganz interessant ist.

Das geht mich nichts an. Ich, ich mache Medizin!

Na ja, so ist das. Wenn ein Ingenieur eine Eisenbahn baut, fragt er sich auch nicht, was der Landarzt davon hält …

Fürwahr. (…) Anfangs, als ich mich hier niederließ, war ich noch nicht so selbstbewusst, ich wusste, dass meine Anwesenheit keine Bedeutung hat. Das große Land kam ohne mich und meinesgleichen aus. Aber heute fühle ich mich so wohl wie ein Organist vor der Tastatur seiner gewaltigen Orgel. Das Leben hat einen Sinn, und dank meiner einen medizinischen Sinn.

Zur Aktualisierung 2020: Man ersetzte „ins Bett“ mit „in Quarantäne“. Ähnlichkeiten mit der Corona-Epidemie müssen zufällig sein.

Stephan Heinrich Nolte



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Article published online:
19 January 2021

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