Aber wäre die deutsche Intensivbettenzahl tatsächlich hoch genug
gewesen, um eine COVID-19-Welle wie die der Lombardei zu bewältigen?
Hierzu setzen wir die maximale 14-tägige COVID-19-Fallzahl der Lombardei
an (14 Tage entspricht dem Zeitraum einer durchschnittlichen
intensivmedizinischen Behandlung von COVID-19-Patienten in Deutschland). Das
Maximum lag mit insgesamt 27 730 Fällen zwischen dem 15.3. und
28.3. [5]. Korrigieren wir wiederum
für die Einwohnerzahl und multiplizieren mit der Wahrscheinlichkeit
einer intensivmedizinischen Behandlung in Deutschland (7,5%) [6], ergibt sich ein Bedarf an
17 415 Intensivbetten. Setzen wir die im März verfügbare
Intensivbettenzahl in Deutschland an (28 000) [7], läge die Auslastung bei
61%. Würden nur diese Daten berücksichtigt, wäre
die Intensivbettenzahl in Deutschland (mit Absage planbarer Eingriffe)
vielleicht gerade noch ausreichend gewesen, die Fallzahlen der Lombardei zu
bewältigen. Jedoch ist hier noch nicht beachtet, dass die
Fallsterblichkeit in Italien ungewöhnlich hoch gewesen ist (14,4 vs.
4,7% in Deutschland [8].
Während dieser Umstand wohl auch auf die unzureichende
intensivmedizinische Versorgung und ein höheres Patientenalter in der
Lombardei [9]
zurückzuführen ist, dürfte ein weiterer Grund in der
niedrigeren Testhäufigkeit der Lombardei liegen [10]. Im Zeitraum der maximalen
14-tägigen COVID-19-Fallzahlen lag die Rate positiver Tests in der
Lombardei zwischen 30 und 67%, während für Deutschland
in demselben Zeitraum nur eine Rate von 3 bis 5% berichtet wurde [11]. Würden wir für diesen
Unterschied korrigieren, läge die für Deutschland
äquivalente COVID-19-Fallzahl, auf die dann die 7,5%-ige
Wahrscheinlichkeit einer intensivmedizinischen Behandlung zutrifft,
höher als in der Lombardei. Selbst wenn nur ein kleiner Teil der
Differenz in der Fallsterblichkeit auf unterschiedliche Testhäufigkeiten
zurückzuführen wäre, hätte Deutschland eine
COVID-19-Welle wie die in der Lombardei wohl nicht bewältigen
können, da trotz Verschiebung planbarer Eingriffe und anderer
Maßnahmen Nicht-COVID-19-Patienten bereits 50% (und mehr) aller
Intensivbetten in Deutschland beansprucht haben [12].
Zusammenfassend lässt sich damit aus beiden Analysen Folgendes ableiten.
Deutschland hätte mit der für die Einwohnerzahl korrigierten
Intensivbettenzahl der Lombardei wahrscheinlich nicht die erste Welle bestehen
können. Gleichzeitig wäre die tatsächliche vorhandene
Reservekapazität an Intensivbetten selbst mit Absage planbarer Eingriffe
und anderen Maßnahmen vermutlich nicht ausreichend gewesen, um eine
Überlastung abzuwenden, wäre es zu einem Ausbruch wie in der
Lombardei gekommen. Somit lag der Grund für die Vermeidung einer
Überlastung in Deutschland nicht nur an der höheren Bettenzahl,
sondern auch an COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen wie z. B.
das Absagen von Großveranstaltungen und der extensiven Teststrategie.
Auch freiwillige Kontaktbeschränkungen vor den gesetzlichen Verordnungen
können eine Rolle gespielt haben. Für sich genommen jedoch waren
weder die relative hohe Intensivbettenkapazität (inklusive Absage
planbarer Eingriffe) noch die COVID-19-Eindämmungsmaßnahmen
ausreichend. Die beiden Analysen zeigen aber auch, dass nur geringfügige
Änderungen der Annahmen bzw. die Nichtberücksichtigung einzelner
Details die Schlussfolgerungen leicht ändern können.
Die Ergebnisse können für die zukünftige Planung von
Spitzenkapazitäten („Surge capacity“) von Bedeutung
sein. Eine Erweiterung der Spitzenkapazität ist im Hinblick auf
mögliche Pandemien und Epidemien nach der COVID-19-Pandemie zu
erwägen. Mit Einschränkung könnte dies auch für
die COVID-19-Pandemie gelten. Obgleich einer Überlastung der
Intensivbettenkapazität zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch
unwahrscheinlich scheint, sind im Katastrophenschutz Mittelwerte weniger
relevant als Extremwerte. Stattdessen spielt das sog. fat tail risk, das
heißt eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass
es zur Katastrophe kommt, eine wichtige Rolle. In der Tat ist ein solches dickes
Ende der Verteilung in der Gesamtheit bisheriger Pandemien der
Menschheitsgeschichte beobachtet worden [13]. Weitere Gründe für eine Erweiterung der
Spitzenkapazität sind das Vermeidenwollen erneuter Absagen bzw.
Aufschiebungen planbarer Eingriffe und die akzeptable Kosteneffektivität
einer Kapazitätserweiterung, selbst wenn bereitgestellte Betten mit
hoher Wahrscheinlichkeit ungenutzt bleiben sollten [14]. Ein bekanntermaßen wichtiger
limitierender Faktor bei der Steigerung der Spitzenkapazität ist jedoch
die Verfügbarkeit von Intensivpflegepersonal.
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