Der Klinikarzt 2020; 49(11): 435
DOI: 10.1055/a-1278-5725
Editorial

Am Ende: Suizidbeihilfe in der Klinik?

Winfried Hardinghaus

Das Bundesverfassungsgericht hat Ende Februar den § 217 StGB (Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung) für nichtig erklärt, und zwar in einer selbst von Befürwortern nicht erwarteten Radikalität. Ein Sterbehilfeverein hat jetzt erstmals einem Bewohner eines Altenheims in Norddeutschland bei der Selbsttötung assistiert. Dieser Fall macht in besorgniserregender Weise klar, wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und das schwebende neue Gesetzesverfahren von Sterbehilfevereinen genutzt werden können, um ein regelhaftes Angebot nach ihrem Zuschnitt zu fordern. Warum sollte also Suizdbeihilfe demnächst nicht ebenso im Krankenhaus realisiert werden? Schon hört man von Plänen für eine erste Sterbeklinik in Deutschland.

Die Gelegenheit zur Suizidbeihilfe auch in der Klinik festzuschreiben, verstößt wohl gegen das Selbstverständnis unserer meisten klinischen Einrichtungen, die ihnen anvertrauten Patientinnen und Patienten bis zum Lebensende würdig zu betreuen. Das heißt, ihnen im Sterben beizustehen – nicht beim Sterben zu helfen. Die rechtliche Situation, ob Tendenzbetriebe, z. B. christliche Häuser, so Sterbehelfern den Zutritt verwehren können oder aber ein solches Hausrecht an der Krankenzimmertür endet, ist allerdings unklar. Niemand indes ist verpflichtet, Hilfe zur Selbsttötung zu leisten. Suizidbeihilfe, auch unter Vermittlung anderer, darf nirgendwo zu einer gängigen Behandlungsmethode werden. Der Druck, dem sich gerade ältere Menschen durch die Möglichkeiten der Suizidbeihilfe ausgesetzt fühlen, droht sich durch eine solche Praxis zu verstärken. Dabei brauchen gerade ältere, auf Hilfe und Unterstützung angewiesene Menschen die Gewissheit, von der Gesellschaft mitgetragen zu werden.

Für die Gruppe der Schwerstkranken und Sterbenden jedenfalls bieten Hospizarbeit und Palliativversorgung schon heute umfassende Möglichkeiten zur Unterstützung eines würdevollen, weitgehend beschwerdefreien, durchaus selbstbestimmten und eher am natürlichen Ablauf ausgerichteten Sterbens. Diese Möglichkeiten müssen allerdings auch in der Öffentlichkeit noch bekannter werden. Wir wissen, dass ein Suizidwunsch von Kranken häufig mit der Angst vor Schmerzen und belastenden Symptomen, vor Einsamkeit und Apparatemedizin sowie der Angst, auf Hilfe angewiesen zu sein und seinen An- und Zugehörigen zur Last zu fallen, begründet wird. Dies deckt sich mit den Erfahrungen und Forschungsergebnissen der allgemeinen Suizidprävention, wonach Suizidwünsche ambivalent sind und als Wunsch nicht nach einem zügigen Tod, sondern nach Verbesserung der aktuellen Situation verstanden werden müssen. In der oben zitierten Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht war ich als geladener sachverständiger Gutachter Zeuge des Resümees des psychiatrischen Gutachters Manfred Wolfersdorf, wonach lediglich 10 % aller Suizide als frei verantwortlich anzusehen sind. 80–90 % der Betroffenen, bei denen ein Suizidversuch misslungen war, bedauerten dies hernach als falsche Entscheidung.

Im Jahr 2018 sind in Deutschland 9396 Menschen durch Suizid gestorben. Die Suizidrate und das Suizidrisiko steigen dabei mit dem Lebensalter. In allen Altersgruppen sterben deutlich mehr Männer durch Suizid als Frauen. Beträgt die Suizidrate, d. h. die Suizide pro 100 000 Einwohner, 2018 bei 20- bis 25-jährigen Männern noch 11,4 (Frauen 2,8) steigt sie bei den 85- bis 90-jährigen Männern auf 77,9 (Frauen 12,4). Bei den über 90-jährigen Männern steigt die Suizidrate auf 90,3 (Quelle: Statistisches Bundesamt [1]). Weitere Informationen zur aktuellen Suizidstatistik finden Sie auch auf den Seiten des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland (NaSPro) [2].

Als Arzt, in meiner Eigenschaft als Vorsitzender des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands und am Ende einer 40-jährigen Schriftleitertätigkeit (davon 20 Jahre klinikarzt), schreibe ich als Schlusssatz unter mein wohl letztes Hefteditorial: Wir sollten weiterhin sowohl in unserem medizinischen Umfeld als auch in der Gesellschaft an einer Kultur der Wertschätzung und Solidarität gegenüber kranken Menschen arbeiten und darunter die interdisziplinäre und generalistische Sorgekultur wieder nach vorne rücken!



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Article published online:
25 November 2020

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