CC BY-NC-ND 4.0 · Gesundheitswesen 2020; 82(08/09): 716-722
DOI: 10.1055/a-1237-4011
Übersichtsarbeit

Manual für Methoden und Nutzung versorgungsnaher Daten zur Wissensgenerierung

Manual for Methods and Use of Routine Practice Data for Knowledge Generation
Monika Klinkhammer-Schalke
1   Tumorzentrum Regensburg, Institut für Qualitätssicherung und Versorgungsforschung, Universität Regensburg, Regensburg
2   Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung e.V., Berlin
,
Thomas Kaiser
3   Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), Köln
,
Christian Apfelbacher
4   Institut für Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung, Otto von Guericke Universität Magdeburg, Magdeburg
,
Stefan Benz
5   Kliniken Böblingen, Klinikverbund Südwest GmbH, Sindelfingen
6   Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren, Berlin
,
Karsten E. Dreinhöfer
7   Orthopädie und Unfallchirurgie, Medical Park AG, Berlin
,
Max Geraedts
8   Institute for Health Services Research and Clinical Epidemiology, Philipps-Universität Marburg, Marburg
,
Michael Hauptmann
9   Department für Versorgungsforschung, Medizinische Hochschule Brandenburg Theodor Fontane, Neuruppin
,
Falk Hoffmann
10   Department für Versorgungsforschung, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Oldenburg
,
Wolfgang Hoffmann
11   Institut für Community Medicine, Universität Greifswald, Greifswald
,
Michael Koller
12   Zentrum für Klinische Studien, Universitätsklinikum Regensburg, Regensburg
,
Tanja Kostuj
13   Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Klinikum Lippe, Lemgo
,
Christoph Kowalski
14   Zertifizierung, Deutsche Krebsgesellschaft e.V., Berlin
,
Katrin Mugele
15   Pressestelle, Deutsche Krebsgesellschaft e.V., Berlin
,
Olaf Ortmann
16   Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, Universität Regensburg Fakultät für Medizin, Regensburg
,
Jochen Schmitt
17   Zentrum für Evidenzbasierte Gesundheitsversorgung, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus an der Technischen Universität Dresden, Dresden
,
Holger Schünemann
18   Cochrane Canada and Mc Master GRADE Centre, WHO Collaborating Centre for Infectious Diseases, Research and Methods, Hamilton, Canada
,
Christof Veit
19   Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG), Berlin
,
Simone Wesselmann
14   Zertifizierung, Deutsche Krebsgesellschaft e.V., Berlin
,
Thomas Bierbaum
20   Geschäftsstelle, Deutsches Netzwerk Versorgungsforschung, Berlin
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Für die Nutzung vorhandener Versorgungsdaten gibt es immer mehr gute Gründe, wobei v. a. die Nutzung von Registerdaten im Fokus steht. Das zugehörige, klar strukturierte methodische Vorgehen ist bisher noch unzureichend zusammengeführt, aufbereitet und transparent dargestellt. Das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF) hat deswegen eine Ad hoc Kommission zur Nutzung versorgungsnaher Daten (RWE/RWD) ins Leben gerufen. Der vom IQWiG erstellte Rapid Report über die wissenschaftliche Ausarbeitung von Konzepten zur „Generierung versorgungsnaher Daten und deren Auswertung zum Zwecke der Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a SGB V“ ist ein wesentlicher Schritt für die Nutzung von Registerdaten zur Evidenzgenerierung. Das vom DNVF 2020 veröffentlichte „Memorandum Register – Update 2019“ beschreibt Anforderungen und methodische Grundlagen von Registern. Best Practice Beispiele aus der Onkologie, die auf dem einheitlichen onkologischen Basisdatensatz für die Klinische Krebsregistrierung (§ 65c SGB V) beruhen, zeigen z. B., dass im Sinne einer wissensgenerierenden Versorgungsforschung mithilfe von Registerdaten Leitlinien überprüft sowie Empfehlungen für Leitlinien und notwendige Interventionen abgeleitet werden können. Gleichzeitig fehlen jedoch klare Qualitätsanforderungen und strukturierte formale und inhaltliche Vorgehensweisen in den Bereichen Datenzusammenführung, Datenprüfung und Nutzung spezifischer Methoden je nach vorhandener Fragestellung. Die bisher uneinheitlichen Vorgaben sollen aufgearbeitet und ein Methoden-Leitfaden zur Nutzung versorgungsnaher Daten entwickelt und veröffentlicht werden. Das erste Kapitel des Manuals zu Methoden versorgungsnaher Daten erläutert Zielstellung und Struktur des Manuals. Es wird dargelegt, warum die Verwendung des Begriffes „Versorgungsnahe Daten (VeDa)“ zielführender ist als die Nutzung der Begriffe Real Word Data (RWD) und Real World Evidence (RWE). Mit der Vermeidung des Begriffes „Real World“ soll insbesondere unterstrichen werden, dass auch qualitativ hochwertige Forschung auf Versorgungsdaten aufsetzen kann (z. B. registerbasierte vergleichende Studien).


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Abstract

“ There are more and more good reasons for using existing care data, with the focus in particular on the use of register data. The associated, clearly structured methodological procedure has so far been insufficiently combined, prepared and presented transparently. The German Network for Health Services Research (DNVF) has therefore set up an ad hoc commission for the use of routine practice data (RWE/RWD). The rapid report prepared by IQWiG on the scientific development of concepts for “generation of care-related data and their evaluation for the purpose of benefit assessment of medicinal products according to § 35a SGB V” is an essential step for the use of register data for the generation of evidence. The “Memorandum Register – Update 2019” published by DNVF 2020 also describes the requirements and methodological foundations of registers. Best practice examples from oncology, which are based on the uniform oncological basic data set for clinical cancer registration (§ 65c SGB V), show, for example, that guidelines can be checked and recommendations for guidelines and necessary interventions can be derived in the sense of knowledge-generating health services research using register data. At the same time, however, there are no clear quality requirements and structured formal and content-related procedures in the areas of data consolidation, data verification and the use of specific methods depending on the question at hand. The previously inconsistent requirements are to be revised and a method guide for the use of suited data is to be developed and published. The first chapter of the manual on methods of care-related data explains the objective and structure of the manual. It explains why the use of the term “routine practice data” is more effective than the use of the terms Real Word Data (RWD) and Real World Evidence (RWE). By avoiding the term “real world” it should be emphasized in particular that high-quality research can also be based on routine practice data (e. g. register-based comparative studies).


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Einleitung und Hintergrund

Das Deutsche Netzwerk Versorgungsforschung (DNVF) hat zum wissenschaftlichen Diskurs und zur methodischen Aufbereitung des Themas Real World Data (RWD) und Real World Evidenz (RWE) eine Ad hoc Kommission „Methoden RWE/RWD“ gegründet. Die Begriffe Real World Evidenz (RWE) und Real World Data (RWD) sollen in diesem Zusammenhang durch die eher inhaltliche Begriffsbestimmung „Versorgungsnahe Daten (VeDa)“ zur Wissensgenerierung ersetzt werden. In diesem Zusammenhang werden wir auch die im Rapid Report des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) verwendete Definition [1] weiter präzisieren und auch für Zwecke jenseits der Nutzenbewertung von Arzneimitteln definieren. Zudem beschreibt das vom DNVF 2020 veröffentlichte „Memorandum Register – Update 2019“ Anforderungen und methodische Grundlagen von Registern [2].

Versorgungsnahe Daten (VeDa) statt „Real World Data“ (RWD)

In der Vergangenheit wurde der Begriff „Real World“ häufig als Gegenpol zu randomisierten kontrollierten Studien (RCT) verwendet mit der impliziten Annahme, dass RCTs grundsätzlich ein künstliches („irreales“) Umfeld abbilden. Dies ist jedoch nicht der Fall, sondern hängt unter anderem von den konkreten Ein- und Ausschlusskriterien der jeweiligen Studie ab. Wir verwenden den Ausdruck „Real World Evidence“ daher bewusst nicht in einer Weise, die eine Überlegenheit gegenüber RCTs suggeriert oder RCTs sogar ausschließt. In unserer Welt ist jedoch alle Art von Evidenz real. Daher sollte man beurteilen, ob Daten aus Registern oder elektronischen Gesundheitsakten, von Patienten generierte Daten oder große, unstrukturierte Daten („big data“) für die Beantwortung der offenen Fragestellung geeignet sind. Bei der Beurteilung von Interventionseffekten ist dabei zu klären, ob die wichtigsten Bedenken gemindert werden können, die in Bezug auf die Evidenz aus RCTs als Grundlage von Entscheidungen geäußert werden: in erster Linie Indirektheit (oder externe Validität), mangelnde Genauigkeit und die Verwendung geeigneter Evidenz zur Information von Faktoren, die vertrauenswürdige Empfehlungen beeinflussen. Unabhängig vom Label sollte die Eignung, Qualität und letztlich die Ergebnissicherheit der Evidenz bewertet werden. Durch die übergreifende Verwendung des Begriffs VeDa soll signalisiert werden, dass die Nutzung versorgungsnaher Daten vom Studientyp unabhängig ist.

In experimentellen Studien außerhalb der Routineversorgung greifen Forscher gezielt und damit kontrolliert z. T. erheblich in die Versorgung ein. Im Unterschied dazu sind versorgungnahe Daten dadurch gekennzeichnet, dass sie möglichst nahe die Routineversorgung abbilden. Versorgungsnähe impliziert dabei nicht, dass an die Datenerhebung keine Vorgaben gemacht werden dürfen. Auch für Forschung mit VeDa gilt, dass die verwendeten Daten grundsätzlich für die Beantwortung der Fragestellung geeignet sein müssen. Dies ist fragestellungsbezogen zu prüfen. Versorgungsnahe Daten können aus etablierten Quellen generiert werden z. B. aus Daten, die zu Abrechnungszwecken erhoben werden oder aus existierenden Registern. Letztere können nur auf klinische, laborchemische oder radiologische Daten fokussieren oder – z. B. wenn konkurrierende Therapieverfahren betrachtet werden – auch die Patientenperspektive berücksichtigen (mit Einbezug von Patient Reported Outcomes und Experiences [PROs und PREs]). Darüber hinaus können neue Datenquellen erschlossen werden, z. B. aus Gesundheits-Apps.

Die Nutzung versorgungsnaher Daten ist vom Studientyp grundsätzlich unabhängig. Studien ohne Randomisierung werden dabei als Ergänzung zu RCTs gesehen und sind v. a. dann bedeutsam, wenn offene Fragen zur Versorgung mithilfe von RCTs nur schwer oder gar nicht beantwortet werden können. Ausserdem sind Studien mit VeDa insbesondere für die Untersuchung von Faktoren relevant, die bei einer Entscheidungfindung beachtet werden sollten: Zugangs- und Versorgungsgerechtigkeit, Ressourcenbedarf, Akzeptanz und Machbarkeit.

Die Kommission beschäftigt sich einerseits damit welche Nutzung welcher versorgungsnahen Daten künftig möglich sein sollte und zum anderen, was mit den derzeit vorhandenen Ressourcen machbar ist. Sie will Empfehlungen geben, wie bestehende Datenquellen und Rahmenbedingungen weiterentwickelt werden müssen, damit die methodischen Möglichkeiten mit dem Ziel einer verbesserten Versorgung und Gesundheit der Patient/innen genutzt werden können. Sie sieht es auch als ihre Aufgabe an, zu aktuellen Entwicklungen Stellung zu nehmen.


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Internationale Bedeutung der Forschung mit versorgungsnahen Daten

Aktuelle internationale Entwicklungen zeigen die zunehmende Relevanz, die VeDa auch in der Zulassung immer mehr zukommt. So wurde 2016 in den Vereinigten Staaten von Amerika die Nutzung von RWD durch die Food and Drug Administration (FDA) im Rahmen des „21st Century Cures Acts“ unter bestimmten Bedingungen freigegeben [3]. Datenqualität, der Einsatz geeigneter Analysemethoden, Confounderkontrolle und die Erfassung von Follow-up Daten stellen dabei grundlegende Voraussetzungen dar.

Die europäische Zulassungsbehörde EMA hat in einem kürzlich veröffentlichen Diskussionspapier den Stellenwert von Registern für Studien nach der Zulassung beschrieben. Die EMA legt darin die aus ihrer Sicht bestehenden Qualitätsanforderungen an Register dar, und sie beschreibt, dass der Studientyp (randomisierte oder nicht-randomisierte Studie) fragestellungsbezogen zu wählen ist, die Verwendung registerbasierter Daten jedoch nicht einfach mit nicht-randomisierten Studien gleichzusetzen ist [4].

In Kanada wurde das Arbeitsprogramm „Strengthening the Use of Real World Evidence for Drugs“ im Rahmen der Initiative „Health Canada’s Regulatory Review of Drugs and Devices (R2D2)“ des kanadischen Gesundheitsministeriums auf den Weg gebracht [5]. Insbesondere bei eingeschränkter Generalisierbarkeit der Ergebnisse aus regulatorischen Studien empfiehlt das kanadische Ministerium den Einsatz von RWD als nicht-randomisierte Vergleiche bei fehlender Umsetzbarkeit randomisierter Studien aufgrund von ethischen oder Machbarkeitsfaktoren.

In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass die Aktualisierung der Leitlinien zur Good Clinical Practice (GCP) bei der Studiendurchführung das Thema pragmatic trials, decentralized trials und RWD aufgreift und entsprechende Standards definieren wird. Ein Positionspapier zu dieser ICH E6 (R3) Leitlinie ist verfügbar [6].

Studien, die für den regulatorischen Bereich durchgeführt werden, sind oft mit einigen Einschränkungen verbunden, wie bspw. einer oftmals stark homogenen Patientenauswahl (z. B. Ausschluss von Schwangeren, Senioren, Kindern) und Standortselektion (z. B. Unikliniken), einer begrenzten Studiendauer und einem hochstandardisierten Ablauf von Interventionen. Dies gilt für Studien mit oder ohne Randomisierung gleichermaßen. Hier bieten VeDa besondere Vorteile aufgrund der fehlenden Patientenselektion, ihrer Möglichkeit zur Analyse von Langzeitverläufen und, wie der Name sagt, ihres versorgungsnahen Bezugs zur Routinebehandlung. Die Verwendung von VeDa zur Ableitung von Interventionseffekten setzt dabei eine hohe Datenqualität und -vollständigkeit sowie im Falle nicht-randomisierter Vergleiche die Präspezifikation, Erfassung und Kontrolle relevanter Confounder und den Einsatz geeigneter statistischer Verfahren (z. B. Propensity Score Matching) voraus [1].

Bei geeigneter Fragestellung besteht mit registerbasierten RCTs auch die Möglichkeit, die Vorteile einer RCT (insbesondere Kontrolle für nicht gemessene sowie unbekannte Confounder) mit jenen von VeDa zu verbinden (z. B. große Fallzahl, Populationsbezug, Follow-up Verläufe, Vergleich der Studienkohorte mit ausgeschlossenen Patienten/innen bzw. anderen Standorten). Registerbasierte RCTs sind randomisierte, kontrollierte Studien, die für die Datenerhebung bestehende Registerstrukturen verwenden [7]. Diese Datenstrukturen werden ggf. erweitert um einzelne Datenfelder, die für die jeweilige Forschungsfrage relevant sind (z. B. Daten zur Lebensqualität). Abhängig von der Fragestellung kann das Register auch die Rekrutierung der Patientinnen und Patienten unterstützen. Registerbasierte RCTs sind pragmatische Studien, die Fragestellungen zu Interventionseffekten mit hoher Ergebnissicherheit bei gleichzeitiger Versorgungsnähe untersuchen können. Sie sind zudem aufgrund der Verwendung einer bestehenden Dateninfrastruktur, die auch die Logistik der Studiendurchführung unterstützt, oft vergleichsweise kostengünstig.

Ein Beispiel für die erfolgreiche Etablierung einer Plattform für die Durchführung registerbasierter RCTs ist das nationale schwedische Register SWEDEHEART (Swedish Web-system for Enhancement and Development of Evidence-based care in Heart disease Evaluated According to Recommended Therapies) [8]. Im landesweiten SWEDEHEART Register werden Charakteristika, Therapiestrategien und klinische Ergebnisse bei allen schwedischen Patienten mit akutem Myokardinfarkt lückenlos dokumentiert und die Entwicklung der Mortalität nach Myokardinfarkt untersucht. Eine Verknüpfung dieses schwedischen Registers u. a. mit dem Swedish National Population Registry stellt eine hilfreiche und infrastrukturelle Voraussetzung für die Studiendurchführung dar.

Die Kommission möchte die notwendigen Voraussetzungen für die Nutzung versorgungsnaher Daten in einem Manual zusammenfassen, um zielgerichtet für verschiedene Fragestellungen aus wissenschaftlicher Sicht Empfehlungen für spezifische Vorgehensweisen aufzuzeigen. Ziel ist es, eine Grundlage für eine wissensgenerierende Vernetzung von Versorgung und Forschung zu schaffen.


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Problematik

In der wissenschaftlichen und auch mittlerweile öffentlichen Diskussion um registerbasierte Studien wird die Nutzung in der Versorgung vorhandener Daten zunehmend postuliert. Das zugehörige, klar strukturierte methodische Vorgehen ist bisher noch unzureichend zusammengeführt und aufbereitet.

Der vom IQWiG erstellte Rapid Report „Konzepte zur Generierung versorgungsnaher Daten und deren Auswertung zum Zwecke der Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach § 35a SGB V“ ist ein wesentlicher Schritt zur Einordnung der Nutzung dieser Daten für Therapieeffekte von Arzneimitteln [1].

Für den Bereich Versorgungsanalysen und Anwendungsbereiche nach § 33a SGB V („Digitale Gesundheitsanwendungen“) sind noch strukturierte Grundlagen und Vorgehensweisen zu erheben und ggf. zu entwickeln. Dies betrifft z. B. chirurgische und komplexe Interventionen in vielen Bereichen der Versorgung von erkrankten Menschen. Für die Bewertung von Interventionseffekten jenseits der Nutzenbewertung von Arzneimitteln nach §35a SGB V soll dabei auf Basis des Rapid Reports des IQWiG geprüft werden, welche Präzisierungen oder Erweiterungen sinnvoll und erforderlich sind.

Relevant für verschiedene Fragestellungen ist zudem, dass die regelhafte Implementierung von Patient Reported Outcomes und Experiences (PROs und PREs) und spezifischen Interventionen bei mangelhafter Lebensqualität bisher nicht gelungen ist, obwohl registerbasierte Studien einen relevanten Informationsgewinn für differenzialtherapeutische Entscheidungen belegen konnten [9]. Auch diesem Thema wird sich die Ad hoc Kommission widmen.


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Vorgehensweise der Ad hoc Kommission

Die Ad hoc Kommission des DNVF führt mit Expert/innen aus den Bereichen wissenschaftliche Methodik, klinischer Versorgung, Qualitätssicherung und IT, die Themenbereiche festlegen, Literaturanalysen durch, zeigt Best Practice Beispiele auf und postuliert v. a. auch die Voraussetzung für die Nutzung von VeDa.

Ein Ziel ist es darüber hinaus, den Aufbau einer Infrastruktur zu fördern und zu unterstützen, die versorgungsnahe Daten für die Evaluation medizinischer Interventionen besser als bisher sichtbar und nutzbar macht.

Im Mittelpunkt stehen hierbei die Themenbereiche Messung von Interventionseffekten (z. B. [10] [11]) und Versorgungsanalysen. Relevante Grundlagen werden die Datenqualität, die Notwendigkeit der Prüfung und Standardisierung (z. B. SOPs, Registerprotokoll u. a.) sein, aber auch datenschutzgerechte Möglichkeiten für ein Datenlinkage mit anderen Datenquellen für bestimmte Fragestellungen und die notwendige Finanzierung der Infrastruktur (Register) und darauf basierender Studien.

Den Themenbereichen gemeinsam ist eine strukturierte Vorgehensweise in der Analyse von der Fragestellung und dem Zweck hin zu einer Auswertung, die letztlich auch konkrete Empfehlungen für die Versorgung enthalten sollte. Das Manual folgt den Prozessschritten ([Abb. 1]) und beschreibt Unterschiede und Gemeinsamkeiten je nach Fragestellung und Themenbereich.

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Abb. 1 Strukturierung der Prozessschritte für die Verwendung von VeDas.

Nachfolgend werden zur Illustration der einzelnen Themenbereiche Beispiele zur Messung von Interventionseffekten (Themenbereich 1) sowie zu Versorgungsanalysen (Themenbereich 2) beschrieben.


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Themenbereich 1: Messung von Interventionseffekten

Der Rapid Report des IQWiG zeigt, dass Evidenzlücken bei der Nutzenbewertung von Orphan Drugs häufig und v. a. in Kontrollgruppen auftreten [1]. Diese Lücke könnte durch Studien mit VeDa behoben werden.

Bei der Nutzung von versorgungsnahen Daten aus Registern spielt die Registerqualität eine entscheidende Rolle. Notwendige gesetzliche Voraussetzungen für zusätzliche Erhebungs- und Nutzungsmöglichkeiten sowie eine ausreichende öffentliche Finanzierung der Register, sind sicherzustellen. Nur so lassen sich bspw. Nutzenbewertungen durch Klinische Krebsregister nach § 65c SGB V durchführen. Die Eignung eines Registers ist je nach Fragestellung spezifisch zu ermitteln. Im Fokus stehen: Datengrundlage, Methodengrundlage für konkrete Fragestellungen, ggf. zusätzlich notwendige Datenerhebung, Datenschutz, Einwilligungserklärung, Finanzierung.

Beispiel: Daten aus klinischen Krebsregistern

Die S3-Leitlinie Kolorektales Karzinom (Leitlinienprogramm Onkologie der Deutschen Krebsgesellschaft [DKG], der Deutschen Krebshilfe [DKH] und der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich medizinischen Fachgesellschaften [AWMF]) aus dem Jahr 2008 empfiehlt nach einer neoadjuvanten Therapie des Rektumkarzinoms in allen Stadien postoperativ eine adjuvante Chemotherapie ([Tab. 1]) [12]. Diese Empfehlung bedeutet eine Therapieverlängerung von 27 auf 43 Wochen und damit eine um 4 Monate verlängerte Chemotherapie mit Nebenwirkungen, 4 Monate länger künstlicher Darmausgang sowie 4 Monate längere Arbeitsunfähigkeit.

Tab. 1 Empfehlungen in S3-Leitlinien 2013 bzw. 2019 zur adjuvanten Chemotherapie bei Rektumkarzinom.

Leitlinie

Stand

Empfehlung

Empfehlungs-grad

Level of Evidence

S3-Leitlinie Kolorektales Karzinom 2013 [12]

2008

Nach neoadjuvanter Radiochemotherapie ist eine adjuvante Chemotherapie unabhängig vom postoperativen Tumorstadium (also auch bei kompletter Remission oder UICC-Stadium I und II) indiziert.

A

1b (starker Konsens)

S3-Leitlinie Kolorektales Karzinom 2019 [13]

2017

Eine Empfehlung für oder gegen eine adjuvante Chemotherapie nach erfolgter neoadjuvanter Radiochemotherapie kann auf Grund der vorhandenen Datenlage beim Rektumkarzinom nicht gegeben werden.

0

5 (Konsens)

Auf Grundlage der beschriebenen Phase III-Daten und Meta-Analysen kann auch in der S3-Leitlinie 2019 (Stand 2017) noch keine eindeutige Empfehlung für oder gegen eine adjuvante Chemotherapie nach erfolgter präoperativer Radio-/Radiochemotherapie gemacht werden und auch keine Subgruppe identifiziert werden, die davon profitiert ([Tab. 1]) [13].

Daher wurden Daten klinischer Krebsregister von der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Tumorzentren (ADT e.V.) zusammengeführt, geprüft, z. T. nacherhoben und auf diese Fragestellung hin analysiert. Im Ergebnis wird sichtbar, dass sich nur für Patient/innen im Stadium I und III pN1 postulieren lässt, dass diese von einer postoperativen Chemotherapie nach neoadjuvanter Radiochemotherapie profitieren ([Abb. 2]) [14].

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Abb. 2 Analyse bundesweiter Daten aus der Datenzusammenführung klinischer Krebsregister zur adjuvanten Chemotherapie beim Rektumkarzinom [14].

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Beispiel: Registerbasierte RCT

Die TASTE-Studie wurde im wesentlichen auf Basis des schwedischen SCAAR-Registers (Swedish Coronary Angiography and Angioplasty Registry) durchgeführt [8]. Das SCAAR-Register ist Teil des oben erwähnten SWEDEHEART Registers.

In der TASTE-Studie wurde der Nutzen der intrakoronaren Thrombusaspiration begleitend zu einer perkutanen koronaren Intervention (PCI) im Vergleich zur alleinigen PCI bei Patientinnen und Patienten mit akutem Myokardinfarkt untersucht. Primärer Endpunkt war die 30-Tage-Mortalität. Insgesamt wurden 7244 Patientinnen und Patienten eingeschlossen. Die Nachbeobachtung war für alle Patientinnen und Patienten vollständig. Die TASTE-Studie zeigt, dass die zusätzliche Thrombusaspiration keinen Zusatznutzen für Patient/innen mit akutem Myokardinfarkt hat [8].

Aufgrund der registergestützten raschen Rekrutierung und Nachverfolgung der Patientinnen und Patienten sowie der Verwendung der bestehenden Dateninfrastruktur lagen die Kosten pro Proband/in nur bei etwa 50 US$ [7].


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Themenbereich 2: Versorgungsanalysen

Im Rahmen der Dekade gegen den Krebs, einem 10 Jahres Programm des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG), steht v. a. für die Arbeitsgruppe 3 „durch Wissen generierte Vernetzung von Versorgung und Forschung“ das Thema Nutzung versorgungsnaher Daten im Mittelpunkt. Empfehlungen im Rahmen von Leitlinien beruhen z. B. häufig nur auf einem Expertenkonsens. In diesem Zusammenhang sind die in allen Bundesländern etablierten Klinischen Krebsregister nach § 65c SGB V besonders relevant, da sie bevölkerungsbezogen die Frage der Leitlinienkonformität der Versorgung und deren Ergebnisqualität beantworten können.

Bei der Anforderung an Primär- und Sekundärdaten kommt es darauf an, nicht beliebige, sondern die passenden bzw. erforderlichen Daten zusammenzubringen. Gerade die Verbindung von Primär- und Sekundärdaten ist oft zu empfehlen, um Fragestellungen detaillierter und mit höherer Qualität beantworten können. Grenzen und Möglichkeiten der Nutzung versorgungsnaher Daten sind nicht nur methodischer Natur, sondern sind auch abhängig von verfügbaren Infrastrukturen, Ressourcen und Kompetenzen und den gesetzlichen Rahmenbedingungen (z. B. Zugang zu Sekundärdaten) [15]. Benötigt werden weiterhin Standardisierung und Interoperabilität und gezielte Datenschutzkonzepte. Die Gründung eines Forschungsdatenzentrums, wie es derzeit nach der Änderung der Datentransparenzverordnung durch das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) geplant ist, ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Beispiel Innovationsfondprojekt „Wirksamkeit zertifizierter Zentren“

Da Tumorerkrankungen die zweithäufigste Todesursache in Deutschland sind und die Zahl der Erkrankten steigt, ist die Frage des Behandlungsortes, des Qualitätsmanagements und der Therapiemöglichkeiten bedeutend. In dieser Versorgungsanalyse wird das Qualitätsmanagement durch Zertifizierung und die Auswirkung auf das Überleben geprüft: Studien zu Brust- und Darmkrebs belegen Assoziationen von höheren Überlebensraten in zertifizierten Häusern.

Das Innovationsfondprojekt „Wirksamkeit zertifizierter Zentren (WiZen)“ ist breit angelegt. Es werden bundesweit primär- und sekundärdatenbasiert AOK-Routinedaten und Daten klinischer Krebsregister genutzt. Daten zu 9 Tumorentitäten werden zusammengeführt und einzeln und verknüpft analysiert. Erste Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Zertifizierung und Therapieergebnissen (z. B. Überleben) wurden beim 34. Deutschen Krebskongress vorgestellt ([Abb. 3]) [16].

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Abb. 3 Zusammenhang zwischen Zertifizierung und Überleben aus dem Innovationsfondprojekt WiZen [16].

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Ausblick

Die vorliegende Publikation beschreibt den Anlass für die Gründung einer Ad hoc Kommission des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung sowie deren Zielsetzung: Wir wollen dazu beitragen, versorgungsnahe Daten (VeDa) für die Wissenssensgenerierung nutzbar zu machen.

Für die einzelnen Themenbereiche werden wir in nachfolgenden Supplements ([Abb. 1]) Voraussetzungen u. a. hinsichtlich Planung, Datenerhebung, Auswertung und Publikation der Ergebnisse für die Forschung mit versorgungsnahen Daten beschreiben. Diese Darlegungen sollen das übergeordnete Ziel medizinischer orschung sinnvoll unterstützen: die Gesundheitsversorgung auch mit VeDa zu analysieren, zu verstehen und zu verbessern.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.


Korrespondenzadresse

Prof. Monika Klinkhammer-Schalke
Institut für Qualitätssicherung und Versorgungsforschung
Tumorzentrum Regensburg
Universität Regensburg
Am Biopark 9
93040 Regensburg
Germany   

Publication History

Article published online:
22 September 2020

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Abb. 1 Strukturierung der Prozessschritte für die Verwendung von VeDas.
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Abb. 2 Analyse bundesweiter Daten aus der Datenzusammenführung klinischer Krebsregister zur adjuvanten Chemotherapie beim Rektumkarzinom [14].
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Abb. 3 Zusammenhang zwischen Zertifizierung und Überleben aus dem Innovationsfondprojekt WiZen [16].