Der Klinikarzt 2020; 49(09): 347
DOI: 10.1055/a-1236-7072
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Berührungsangst

J. Günther
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Publication Date:
19 September 2020 (online)

The mind is like a parachute. It doesn´t work if it´s not open.

(Frank Zappa, 1940-1993)

Die Tierärztliche Hochschule Hannover vermeldete vor kurzem Erstaunliches: Acht Spürhunde der Bundeswehr konnten innerhalb einer Woche darauf trainiert werden, eine Covid-19-Infektion in Speichel oder Tracheobronchialsekret buchstäblich zu erschnüffeln. Und zwar mit einer erstaunlich hohen diagnostischen Sensitivität von fast 83 % und einer Spezifität von gut 96 %.

Hunde also. Und was ist mit Ärztinnen und Ärzten? Wer zufällig keinen trainierten Spürhund zur Seite hat, sollte vielleicht zum Äußersten greifen und Herz und Lunge seiner Patienten auskultieren, nachdem er eine sorgfältige Anamnese erhoben hat. Schließlich erlaubt gerade bei Coronapatienten die Auskultation eine frühzeitige Einschätzung bezüglich Schwergrad einer Pneumonie, kardialer Beteiligung (wie Myokarditis, Perikarditis) oder prognostisch relevanter Komorbiditäten von Herz und Lunge. Dagegen fallen PCR-Tests auf akute Infektionen mit SARS-CoV-2 immer wieder falsch negativ aus. Und auch eine Bildgebung der Lunge zeigt im Frühstadium nicht immer die typischen coronaspezifischen Veränderungen der Lunge (wobei es auch den umgekehrten Fall gibt, dass gravierende, daher prognostisch wichtige radiologische Befunde zunächst nicht von einer entsprechenden Klinik begleitet werden).

Gut denkbar, dass die Angst vor Ansteckung in Coronazeiten eine Entwicklung beschleunigt, die sich seit Jahren abzeichnet: Patienten werden sehr häufig nicht mehr körperlich untersucht. Das Entkleiden ist zeitraubend, ebenso das Betrachten und Betasten des Körpers, die Auskultation, die Perkussion, das Prüfen von Reflexen. Wer auf die körperliche Untersuchung und eine ausführliche Anamnese verzichtet, beraubt sich allerdings nicht nur essenzieller diagnostischer Werkzeuge. Er opfert auch einen ganz wesentlichen Aspekt der Arzt-Patient-Beziehung, die Zuwendung und körperliche Nähe, die für das Vertrauen von Patienten und für die erwünschte Placebowirkung von Ärzten wesentlich ist.

Zweifellos ist die apparative Diagnostik unverzichtbar. Doch sie ist eine Ergänzung, keine Alternative zur körperlichen Untersuchung und zu einer sorgfältigen Anamnese. Eine auf dieser Grundlage formulierte Verdachtsdiagnose ermöglicht erst eine sinnvolle Auswahl weiterer diagnostischer Maßnahmen. Dies erspart dem Patienten überflüssige (und möglicherweise sogar schädliche) Untersuchungen und spart Ressourcen. Erst die Synopsis aller Befunde führt letztendlich zur richtigen Diagnose. Einer Studie aus dem Jahr 1996 zufolge ermöglichte es eine sorgfältige Anamnese in 3 von 4 Fällen, eine zutreffende Hauptdiagnose zu stellen; durch alleinige Bildgebung wurde in dieser Arbeit nur in einem Drittel der Fälle eine eindeutige Diagnose möglich, mithilfe von Laborwerten sogar nur in jedem fünften Fall (allerdings haben sowohl bildgebende Verfahren als auch Laboruntersuchungen seither eine gewaltige Entwicklung durchlaufen).

Doch wieviel körperliche Nähe zu potenziell infektiösen Patienten ist in Zeiten von Covid-19 erlaubt?

Vielleicht haben wir im klinischen Alltag Infektionsrisiken bisher generell unterschätzt und werden nun durch die Pandemie daran erinnert, dass jeder im Umgang mit Patienten auch auf den Selbstschutz achten muss, mit geeigneter Schutzkleidung und häufiger Händedesinfektion. Seit kürzlich nachgewiesen wurde, dass SARS-CoV-2-Viren auch auf glatten Oberflächen wie Edelstahl oder Kunststoff Stunden bis Tage virulent bleiben können, müssen wir auch vermehrt auf die Verhinderung von Kontaktinfektionen achten, auch wenn die Übertragung durch Tröpfchen und Aerosole eine wichtigere Rolle spielt. Das bedeutet: Nach jeder Auskultation muss neben der Händedesinfektion auch die Membran des Stethoskops desinfiziert werden.

Wer allerdings infolge der aktuellen Pandemie jetzt zum ersten Mal über sein Infektionsrisiko nachdenkt, ist spät dran. Schließlich gehört es schon immer zum üblichen Berufsrisiko von Ärztinnen und Ärzten.