Schlüsselwörter
COVID-19 - Pandemie - Gesundheitsversorgung - qualitative Befragung - Qualität
Key words
COVID-19 - Pandemic - Health care - Qualitative survey - Quality
Hintergrund
Ende Januar 2020 wurde der erste deutsche COVID-19-Patient in Bayern erkannt, am 26.
Februar 2020 die ersten Infektionen in Baden-Württemberg und in
Nordrhein-Westfalen bestätigt. Seither hat sich die COVID-19-Pandemie
weltweit rasant ausgebreitet, mit 212.022 bestätigten Infizierten in
Deutschland (Stand 5. August 2020). Zeitgleich zum gesellschaftlichen „Lock
down“ Mitte März 2020 wurden aufgrund der COVID-19-Pandemie
zahlreiche Aufbau-, Umbau- und Schutzmaßnahmen in der Gesundheitsversorgung
implementiert [1]
[2]
[3]. Am 12. März 2020 forderte das
Bundesgesundheitsministerium (BMG) alle deutschen Krankenhäuser auf,
zusätzliches Personal zu gewinnen und zunächst alle planbaren
Operationen und Eingriffe zu verschieben [4].
In der Folge wurden national und regional primär elektive Eingriffe und
Vorsorgeuntersuchungen verschoben oder abgesagt, um Behandlungskapazitäten
zu schaffen [5]
[6]. Durch eine Verordnung des BMG wurde
darüber hinaus die Meldung freier Intensivbetten am 6. April 2020 zur
Pflicht [7]. Zudem wurden stationäre
Behandlungsplätze in infektiologische oder intensivmedizinische Betten
umgewandelt. Schließlich wurden Hygienemaßnahmen verschärft,
Besucherregelungen verändert und Behandlungsangebote sowie -prozesse
angepasst [8]. Die in Hamburg
zuständige Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz
verordnete in der Pandemie eine Vorhaltung von 25% der
Intensivpflegekapazität der Plankrankenhäuser und eine Freihaltung
von 10% der Betten der Normalpflege der Plankrankenhäuser in der
Somatik.
Bislang gab es keine systematische Untersuchung zu Auswirkungen der Pandemie in der
Gesundheitsversorgung in einem universitären Klinikum, v. a. auch in
den Bereichen der Versorgung, die außerhalb der unmittelbaren Behandlung und
Versorgung von COVID-19-Patientinnen und -Patienten eingebunden sind [9]. Die vorliegende Studie hat das Ziel, die
Auswirkungen mit Blick auf Versorgungsbereiche mit und ohne spezifische Versorgung
von COVID-19-Betroffenen aus Sicht aller für die stationäre,
tagesklinische bzw. ambulante Versorgung verantwortlichen Klinikdirektorinnen und
-direktoren am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) zu
beschreiben.
Situation in Hamburg und am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zum
Studienzeitpunkt
Situation in Hamburg und am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zum
Studienzeitpunkt
Das UKE hat als großes Universitätsklinikum mehr als 13 000
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Anzahl der Betten liegt beim UKE bei mehr als
1700 [10]. Im Jahr 2019 hat das UKE insgesamt
mehr als eine halbe Million Patientinnen und Patienten versorgt. Das UKE
verfügt über 13 spezialisierte medizinische Zentren mit 77 Kliniken,
Polikliniken und Instituten [10].
Am 30.4.2020 gab es insgesamt 4877 COVID-19-Fälle in Hamburg, am 12.05.2020
waren es 5001 Fälle [11]. Die Anzahl
der neuen COVID-19-Fälle pro Tag lag im Erhebungszeitraum (30. April bis 12.
Mai 2020) zwischen 0–13 [11]. Die
Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz teilte am 30.04.20 mit,
dass 174 Personen aus Hamburg aufgrund einer Erkrankung mit COVID-19 in
stationärer Behandlung waren, davon wurden 64 Personen intensivmedizinisch
betreut. Am 13.05.20 berichtete die BGV, dass 100 Personen in stationärer
Behandlung waren, davon wurden 40 Personen intensivmedizinisch betreut [12].
Der erste Corona-Patient wurde am 27. Februar 2020 UKE aufgenommen. Im Zuge der
Pandemie wurden am UKE relevante Umstrukturierungen vorgenommen, so wurden vier
COVID-19-Stationen und 2 Quarantänestationen sowie 44 zusätzliche
Intensivbetten (von 128 auf 172 Betten) aufgebaut sowie eine Corona Task Force
gebildet. Im Studienzeitraum waren im UKE durchschnittlich 38–45
Patientinnen und Patienten mit COVID-19 in stationärer Behandlung, von denen
18–24 intensivmedizinisch betreut wurden.
Methodik
Studiendesign, Datenerhebung und -auswertung
Um die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie mit Blick auf Versorgungsbereiche mit
und ohne spezifische Versorgung von COVID-19-Betroffenen zu untersuchen, wurde
eine Querschnittsuntersuchung mittels semistandardisierter Interviews
durchgeführt. Anfang April 2020 wurde der Vorstand des UKE und das
Kollegium, d. h. das Gremium aller Klinik- und Institutsdirektorinnen
und -direktoren, über die Studie informiert. Dabei wurde zugesichert,
dass keine personenbezogenen Daten erfasst werden. Anschließend wurden
alle Klinikdirektorinnen und -direktoren mit klinischer stationärer,
teilstationärer und/oder ambulanter Verantwortung der Bereiche
Innere Medizin (Gastroenterologie, Onkologie, Nephrologie, Kardiologie),
operative Medizin (alle Fächer), Gynäkologie und Geburtshilfe,
Kindermedizin inkl. pädiatrische Onkologie, Anästhesie und
Intensivmedizin, Radiologie inklusive Neuroradiologie und Strahlentherapie,
Neurologie, Psychiatrie (Erwachsene sowie Kinder und Jugendliche) und
Psychosomatik, Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde (inkl. Phoniatrie), Dermatologie und
Augenheilkunde sowie Zahnmedizin per Email zur Interviewstudie eingeladen.
Alle leitenden Ärztinnen und Ärzte erklärten ihre
Bereitschaft zur Teilnahme und wurden telefonisch, per Video oder
persönlich im Zeitraum vom 30. April bis 12. Mai 2020 interviewt. Die
Daten wurden mithilfe eines teilstandardisierten Interviewleitfadens erhoben.
Der Leitfaden enthielt insgesamt 19 bis maximal 28 Fragen (je nach Verantwortung
für die verschiedenen Versorgungsettings), die offen oder geschlossen
beantwortet werden konnten. Sie wurden von vier Interviewern (MH, MS, OvdK, UK)
durchgeführt, wobei jeder Interviewer 9 bis 10 Interviews realisierte.
Die Interviews dauerten zwischen 20–30 Minuten. Der Leitfaden wurde vor
dem Einsatz mit drei Klinikleitern im Hinblick auf die Vollständigkeit
und Verständlichkeit getestet. Die Autoren haben sich für die
Leitfadenerstellung inhaltlich am Framework „Outcomes for Implementation
Research“ von Proctor et al. orientiert (Akzeptanz, Aneignung,
Angemessenheit, Machbarkeit und Kosten von Maßnahmen) [13]. Der Interviewleitfaden adressierte
folgende Themen:
-
Auswirkungen auf die (teil-)stationäre und ambulante Belegung,
Patientenzusammensetzung, klinischen und organisatorischen Prozesse
sowie Behandlungsangebote,
-
Regelungen zur Abdeckung von Prävention, Behandlung und Nachsorge
bei Patientinnen und Patienten und zum Schutz der Mitarbeitenden,
-
Entwicklung neuer Formate für Behandlungsangebote,
-
Auswirkungen auf das Personal und die interdisziplinäre
Zusammenarbeit.
Die standardisierten Antworten wurden deskriptiv analysiert, die Freitexte einer
qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen [14]. Entsprechend wurden die Antworten auf die offenen Fragen je
Frage thematisch zu Kategorien zusammengefasst. Die Kategorien wurden induktiv
abgeleitet. Die konsentierten Kategorien wurden quantitativ im Sinne von
Häufigkeitsauswertungen analysiert. Kategorien, die weniger als 5
Nennungen aufweisen, werden nicht berichtet.
Stichprobe
Es wurden insgesamt 38 Personen befragt, von denen sechs Frauen sind ([Tab. 1]). In der Mehrzahl handelt es sich
um Klinikdirektorinnen und -direktoren bzw. wenige leitende Ärztinnen
und Ärzte (mit Chefarztstatus). Zur besseren Lesbarkeit verwenden wir im
Folgenden den Begriff „leitende Ärztinnen und
Ärzte“. Sie repräsentieren 38 Kliniken, die in 10
unterschiedlichen UKE-Zentren verortet sind und über stationäre
und/oder ambulante Bereiche und/oder eine Tagesklinik
verfügen. 45 bzw. 40% der leitenden Ärztinnen und
Ärzte gab an, derzeit persönlich in die Diagnostik bzw. die
Behandlung von COVID-19-Patientinnen und -Patienten involviert zu sein.
Tab. 1 Stichprobenbeschreibung.
Bereiche und Dimensionen
|
Häufigkeit
|
Prozent
|
Anzahl der Befragten
|
38
|
|
Geschlecht der Befragten
|
|
|
männlich
|
32
|
84,2
|
weiblich
|
6
|
15,8
|
Zentrumszugehörigkeit
|
|
|
Kopf- und Neurozentrum
|
6
|
15,8
|
Universitäres Herz- und
Gefäßzentrum
|
4
|
10,5
|
Zentrum für Anästhesiologie und
Intensivmedizin
|
2
|
5,3
|
Zentrum für Geburtshilfe, Kinder- und
Jugendmedizin
|
4
|
10,5
|
Zentrum für Innere Medizin
|
4
|
10,5
|
Zentrum für Onkologie
|
4
|
10,5
|
Zentrum für Operative Medizin
|
6
|
15,8
|
Zentrum für Psychosoziale Medizin
|
2
|
5,3
|
Zentrum für Radiologie und Endoskopie
|
3
|
7,9
|
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
|
3
|
7,9
|
Setting
|
|
|
stationär
|
34
|
89,5
|
ambulant
|
37
|
97,4
|
Tagesklinik
|
17
|
44,7
|
Persönlich in Diagnostik von COVID-19-Patienten
involviert
|
|
|
ja (inkl. Screening)
|
17
|
44,7
|
nein
|
21
|
55,3
|
Persönlich in Behandlung von COVID-19-Patienten
involviert
|
|
|
ja (inkl. konsiliarischer Tätigkeit)
|
15
|
39,5
|
nein
|
23
|
60,5
|
Ergebnisse
Belegung, Patienten, klinische Prozesse und Versorgung
Belegung
30 von 34 leitenden Ärztinnen und Ärzten, die für
einen stationären Bereich verantwortlich sind, gaben an, dass die
Bettenbelegung in ihren Verantwortungsbereichen deutlich verringert wurde.
Die mittlere Reduktion lag bei ca. 50–60%, sie schwankte
zwischen 20 und 80%. Drei (von 34; 8,8%) Kliniken hatten
ihnen zugeordnete Stationen komplett geschlossen oder an andere Kliniken
abgegeben. Acht (von 34; 23,5%) leitende Ärztinnen und
Ärzte beschrieben, dass elektive Operationen zugunsten der
Fokussierung auf operative Eingriffe von Notfällen und von
Tumorpatientinnen und -patienten verschoben oder abgesagt wurden. Vier (von
34; 11,8%) leitende Ärztinnen und Ärzte gaben an,
dass die Belegung zum Zeitpunkt der Befragung wieder anzusteigen begann bzw.
die Volllast bereits fast wieder erreicht worden ist. Im Gegensatz zu den
oben beschriebenen Veränderungen berichteten leitende
Ärztinnen und Ärzten aus drei (von 34; 8,8%)
Kliniken durchweg „Normalbetrieb“ hinsichtlich der
Belegung.
Mit Blick auf die Auslastung gestaltete sich die Situation in den Ambulanzen
(n=37) sehr ähnlich. In einigen Kliniken kam es zu einer
Reduktion um bis zu 90%. Zum einen sagten Patientinnen und Patienten
aus Sorge vor einer möglichen Ansteckung ambulante Termine ab, zum
anderen verschoben die Ambulanzen nicht-dringliche Termine. Soweit
möglich, wurden Nachsorgetermine telefonisch angeboten bzw.
umgesetzt. Einige leitende Ärztinnen und Ärzte
äußerten die Befürchtung, dass Patientinnen und
Patienten ohne COVID-19-Erkrankung durch die Einschränkungen
vernachlässigt werden könnten. In einigen Ambulanzen
entstanden kumulativ lange Wartelisten. Die aktuelle Situation in den
Tageskliniken (n=17) ähnelt dem beschriebenen Bild.
Patientenzusammensetzung
Die Mehrheit der leitenden Ärztinnen und Ärzte berichtete von
Veränderungen in der Patientenzusammensetzung, die stationär
behandelt wurden (n=27 von 34; 79,4%). In den Kliniken
wurden größtenteils nur noch Notfälle und schwer-
bzw. schwerstkranke Menschen behandelt. Fünf (von 34; 14,7%)
leitende Ärztinnen und Ärzte gaben an, keine
Veränderungen in der Zusammensetzung beobachtet zu haben. Im
ambulanten Bereich sprachen 23 (von 37; 62,2%) von
Veränderungen in der Patientenpopulation. Auch hier wurden fast
ausschließlich Notfälle und schwere Erkrankungen (weiter)
behandelt. Sieben (von 37; 18,9%) Befragte konnten keine
signifikanten Veränderungen feststellen. Acht (von 17;
47,1%) machten für ihre Tageskliniken dazu Angaben,
fünf (von 8; 62,5%) von ihnen sahen keine
Veränderungen. Die übrigen drei (von 8; 37,5%) gaben
an, aktuell lediglich schwer erkrankte Patientinnen und Patienten zu
sehen.
Klinische und organisatorische Prozesse
[Tab. 2] zeigt die Auswirkungen auf
klinische und organisatorische Prozesse im stationären Bereich. Sie
beziehen sich v. a. auf die Kommunikation (z. B. Reduktion
von Besprechungen, Umstellung auf Videokonferenzen), die Organisation des
Personals (z. B. neue Teamstrukturen) und für Patientinnen
und Patienten (v. a. Besuchs- und Hygieneregeln) sowie die
Visitendurchführung und die Umsetzung von notwendigen
Screeningmaßnahmen.
Tab.2 Auswirkungen auf klinische und organisatorische
Prozesse im stationären Bereich.
Kategorien
|
Beispiele
|
Kommunikation (N*=14)
|
Geringere Anzahl von Besprechungen, kleinere
Besprechungsrunden, Umstellung auf Videokonferenzen,
feste Zuteilung von Räumen für Teams,
geringere Einbindung von anderen Disziplinen
|
Personal (N=11)
|
Trennung des Personals in zwei oder mehr (kleinere)
Gruppen (Teams), ein Teil des Personals im Home-Office,
notwendige Umsetzung von
Quarantänemaßnahmen
|
Patientinnen und Patienten (N=10)
|
Besuchsverbot für Angehörige,
Ausgangsbeschränkungen, kürzere
Liegedauer, Verzögerungen bei Entlassung
(erneutes Testen, Weiterbetreuung), aufwändigere
Kommunikation (z. B. bzgl.
Hygiene/Abstand, Sorgen/Ängste
vor Ansteckung)
|
Visiten (N=9)
|
Visiten wurden in kleinerer Gruppe durchgeführt,
Aussetzen der Chefarztvisite, Visiten unter
erhöhten Sicherheitskautelen
|
Einführung von Screenings (N=8)
|
Testung bei Patientinnen und Patienten bei Aufnahme und
im Verlauf bei Bedarf
|
Stationen und Zimmer (N=7)
|
Teilweise Schließung von Stationen, Schaffung von
Einzelzimmern, Umrüsten von Zimmern und
Verteilung von Zimmern über Abteilungen hinweg
(Außenlieger)
|
* N=Anzahl der Nennungen, die in der
Kategorie gemacht wurden.
Auch im ambulanten und tagesklinischen Bereich wurden klinische und
organisatorische Prozesse angepasst. Es wurden z. B. ebenfalls
kleinere Teams gebildet, feste Räume vergeben und Videokonferenzen
durchgeführt. Wartebereiche wurden umgebaut, Wartezeiten
verkürzt und Termine gestreckt, um Abstandsregeln zu beachten und
Kontakte einzuschränken.
Diagnostik und Behandlung
28 von 34 Befragten (82,4%) machten Angaben zu Veränderungen
der diagnostischen und therapeutischen Angebote, wobei 11 (von 34;
32,4%) angaben, dass es im stationären Bereich keine
relevanten Auswirkungen gab. Drei (von 34; 8,8%) Befragte
berichteten von eingeschränkter Diagnostik, zwei (von 34;
5,9%) beschrieben diese als unverändert und eine (von 34;
2,9%) Person nannte eine Steigerung der diagnostischen
Maßnahmen. Darüber hinaus wurde die telefonische Nachsorge
als ein verändertes Behandlungsangebot genannt. Im ambulanten und
tagesklinischen Bereich wurden vereinzelt Jahreskontroll- und
Nachsorgeuntersuchungen, Aufklärungsgespräche und
Diagnosemitteilungen verstärkt telefonisch oder per Video
durchgeführt.
Präventive, therapeutische und Nachsorgebedarfe sowie neue
Behandlungsangebote
Alle leitenden Ärztinnen und Ärzte berichteten, dass Regelungen
und Vorkehrungen getroffen werden mussten, um den Präventions- und
Behandlungs- sowie Nachsorgebedarf der Nicht-Corona-Betroffenen adäquat
abzudecken. Die Befragten berichteten v. a. von Vorkehrungen zur
Kontaktverringerung (35 Nennungen), dem Einsatz von Schutzkleidung (18
Nennungen) sowie der Einführung von Screening-Maßnahmen (12
Nennungen) und einer Verstärkung der Hygienemaßnahmen (5
Nennungen).
44,7% (17 von 38) der Befragten gab an, dass ihre Klinik im Zuge der
Pandemie neue Behandlungsangebote, wie z. B. Tele- oder
Video-Sprechstunden, eingeführt hat. Weitere 21,1% (8 von 38)
berichteten, dass die Klinik bereits bestehende Angebote der digitalen und
Telekommunikation stärker nutzt als vor der Pandemie. Diejenigen, die
neue Angebote eingesetzt haben oder bestehende Angebote stärker nutzen
(n=25; 65,8%), beschrieben deren Akzeptanz bei den Patientinnen
und Patienten größtenteils als „gut“ bis
„sehr gut“ (n=18 von 25; 72%). 15 von 25
(60%) bewerteten den Einsatz dieser als „erfolgreich“
bis „sehr erfolgreich“.
Arbeitsprozesse, Personal und Mitarbeiterschutz sowie
interdisziplinäre Zusammenarbeit
Arbeitsprozesse
Fast alle leitenden Ärztinnen und Ärzte (36 von 38;
94,7%) berichteten von relevanten Auswirkungen auf die
Arbeitsprozesse in ihrer Klinik unter der Pandemie. Dabei nannten die
Befragten v. a. die Themen Kommunikation, Personalangelegenheiten
und den allgemeinen Arbeitsaufwand. Insgesamt hätten die interne
Kommunikation und der Austausch eher abgenommen, die Kommunikationsprozesse
gestalteten sich aufwendiger. Beim Personal gab es insbesondere Hinweise,
wie „fehlende Auslastung“ oder
„Überkapazitäten“, „Einrichtung von
parallelen Teams“ und die „Verlegung von Personal ins
Home-Office“. Einige Befragte beschrieben, dass es einerseits
„weniger Hektik“ und „je nach Bereich weniger
Aufwand“ gegeben habe, andererseits „Mehraufwände
durch Bürokratie“ entstanden seien und dass die
„Arbeit langsamer und zeitaufwändiger“ von statten
ginge sowie der „logistische Aufwand“ gestiegen sei.
Personal und Mitarbeiterschutz
94,7% (36 von 38) der leitenden Ärztinnen und Ärzten
berichtete von Auswirkungen auf das Verhalten und Erleben ihrer
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unter der Pandemie ([Tab. 3]), insbesondere positive wie
negative emotionale Auswirkungen sowie veränderte
Arbeitsaufwände.
Tab. 3 Auswirkungen auf das Personal
Kategorien
|
Subkategorien
|
Negative emotionale Auswirkungen
(N*=25)
|
Verunsicherung, Angst, gedrückte Stimmung,
Gefährdungsgefühl, Wunsch nach
Normalität, Widerstände beim Hochfahren
der Versorgung, Sorgen, Stresserleben, Unsicherheiten
bei Anweisungen
|
Positive emotionale Auswirkungen (N=20)
|
Solidarität, Rücksichtnahme,
Gelassenheit, Optimismus, Teamgeist, hohe Motivation,
Besonnenheit, Pragmatismus
|
Arbeitsaufwände (N=11)
|
Einerseits: Reduktion von Aufwänden und
der Mehrfachbelastung, Abbau von Überstunden,
mehr Zeit für Einarbeitung von neuem Personal,
Freiräume für wissenschaftliches
Arbeiten
|
|
Andererseits: erhöhter
Kommunikationsaufwand, teilweise verlängerte
Schichten bei Ärzten, sehr hohe
Entscheidungsdichte, schlechtere (chirurgische)
Einarbeitung bzw. Weiterbildung
|
Home Office (N=5)
|
Home-Office-Möglichkeit ist erfolgreich,
entspricht verstärktem Wunsch bei
Mitarbeitenden; jedoch auch Einschätzung, dass
Home Office nicht für alle geeignet ist
|
* N=Anzahl der Nennungen, die in der
Kategorie gemacht wurden.
63,2% (24 von 38) der leitenden Ärztinnen und Ärzten
sprachen auch von Defiziten oder Engpässen mit Blick auf die
Schutzmaßnahmen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
v. a. zu Beginn der Krise. Das betraf v. a. Engpässe
beim Schutzmaterial, wie z. B. sichere Masken (FFP-2, FFP-3),
Desinfektionsmittel und Schutzausrüstung im Allgemeinen. Die meisten
Engpässe wurden jedoch als temporär und mittlerweile als
behoben beschrieben.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
86,8% (33 von 37 der leitenden Ärztinnen und Ärzten
beschrieb Veränderungen in der interdisziplinären
Zusammenarbeit in ihrer Klinik. Es gab 18 Nennungen, die positive bis sehr
positive Auswirkungen beschreiben, wie z. B. einen deutlichen
Anstieg an interdisziplinärer Zusammenarbeit, eine effizientere
Gestaltung der Zusammenarbeit (z. B. durch digitale
Lösungen), eine erhöhte Teilnehmerzahl klinikinterner
Besprechungen, eine große Solidarität und ein
gestärktes Zusammengehörigkeitsgefühl. 14 Nennungen
sahen eher problematische bis sehr negative Veränderungen, wie
z. B. weniger Interaktion und Kontakte, das Vermissen
persönlicher Meetings, der Wegfall von Fortbildungen, eine
aufwändigere Kommunikation (via Video u. ä.) bis hin zum
kompletten Verlust der Zusammenarbeit.
Diskussion
Sowohl die COVID-19-Pandemie an sich als auch die Implementierung der dadurch
notwendigen Maßnahmen bedeuteten eine große Anpassungsleistung
für alle Einrichtungen der Gesundheitsversorgung, insbesondere auch
für die Universitätskliniken [9]
[15]
[16].
Die berichteten Ergebnisse dokumentieren, was die von der (Gesundheits-)Politik
vorgegebenen Maßnahmen konkret für einen Maximalversorger bedeuten,
u. a. bezogen auf die Bettenbelegung, die Veränderung des
Operationsgeschehens, personelle und organisatorische Veränderungen
inklusive das Erleben des Personals sowie die Umsetzung präventiver
Maßnahmen. Indirekt davon waren auch zahlreiche Interaktionsprozesse sowie
die Wahrung von Patientenrechten tangiert. Wie gravierend diese Umstellungen
ausfielen, zeigen Ergebnisse bzgl. der Arbeitsaufwände, z. B. durch
die Anpassung von Arbeitsabläufen, die erhöhten
Kommunikationsbedarfe und die Einführung von zusätzlich notwendigen
Hygienemaßnahmen. Besonders zu Beginn der Pandemie führten
Engpässe in der Beschaffung von Schutzkleidung zu stark erhöhten
Zusatzaufwänden. Das Personal ist sowohl durch die Pandemie an sich als auch
durch die damit verbundenen Maßnahmen belastet.
Die umgesetzten Maßnahmen führten in den meisten Bereichen zu einer
geringeren Auslastung des Klinikums. Die dadurch im Jahr 2020 zu erwartenden und
durch Hochrechnungen bestätigten Verluste stehen bisher noch nicht im Fokus
der Diskussion. Es ist aber jetzt schon davon auszugehen, dass die vom BMG
zugesprochenen Ausfallfinanzierungen nicht ausreichen werden, die zusätzlich
entstandenen Bedarfe von Universitätskliniken zu decken. Es bedarf daher in
den nächsten Wochen und Monaten Lösungsmöglichkeiten, die
auf der politischen Ebene gefunden werden müssen.
Wenn man bedenkt, wie schwierig es normalerweise ist, Veränderungsprozesse in
einem großen Klinikum umzusetzen, ist dies insgesamt effizient und
konfliktarm gelungen. Viele der beschriebenen gravierenden Eingriffe in
Arbeitsabläufe, die Ressourcenverteilung oder die Patienten- und
Mitarbeiterrechte waren nur möglich bzw. durchsetzbar, weil die
große Mehrheit der beteiligten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie der
Patientinnen und Patienten die unmittelbare Notwendigkeit mitgetragen hat. Das
Fortbestehen dieser Bereitschaft über längere Zeit kann aber
keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Die
Wiederherstellung der Normalität im UKE könnte vergleichbare
Diskussionsprozesse auslösen, wie wir sie auf gesellschaftlicher Ebene bei
der Aufhebung des „Lockdown“ derzeit erleben.
Auch in dieser Krise sollte die Frage gestellt werden, welche der
„zwangsweise“ eingetretenen Veränderungen neue Chancen
für die Zukunft bieten. Hier sind insbesondere z. B. die
Digitalisierung von Arbeits- und Kommunikationsprozessen, die verstärkte
Nutzung von Home-Office-Möglichkeiten und die Beschleunigung von
Entscheidungs- und administrativen Prozessen zu diskutieren.
Die hier berichteten Ergebnisse beruhen auf einer Studie, die kurzfristig realisiert
werden musste. Die Ergebnisse und ihre Reflektion beziehen sich auf Beobachtungen
eines aktuellen Status quo inmitten der COVID-19-Krise, die längerfristigen
Entwicklungen und Herausforderungen sind erst mittelfristig abzuschätzen und
erfordern weitere Verlaufsuntersuchungen.
Mit der Studie ist aber auch etwas Seltenes gelungen, nämlich eine
vollständige Stichprobe von fachkundigen Expertinnen und Experten zeitnah zu
gewinnen, sodass das gesamte medizinische Spektrum und die Besonderheiten der
unterschiedlichen Fächer eines großen Universitätsklinikums
Berücksichtigung finden konnten. Ein Grund war der Umstand, dass sich die
Ärzte und Ärztinnen Sorge um Patientinnen und Patienten machten,
deren Behandlung deutlich eingeschränkt worden ist. Die Identifikation der
Befragten mit dem UKE, die Unterstützung der Studie durch den UKE-Vorstand
und die Tatsache, dass die vier Interviewer professorale Kollegen sind,
könnten die Ergebnisse ungewollt in Richtung einer positiven
Selbstdarstellung beeinflusst haben.
Da nur eine einzige Klinik und diese noch aus dem speziellen Versorgungsbereich der
Hochschulmedizin Berücksichtigung finden konnte, bleibt die Frage der
Generalisierung der Befunde offen. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen,
dass die Ergebnisse ausschließlich die Perspektive des leitenden
ärztlichen Personals wiedergeben. Einzelne Aspekte könnten sich
z. B. aus der Sicht des Pflegepersonals durchaus anders darstellen.
Nichtsdestotrotz glauben wir, dass die Befragungsergebnisse nicht nur für
den Standort Hamburg, sondern auch für andere Universitätskliniken
und andere Gesundheitseinrichtungen informativ sein können. Es wird
deutlich, dass die Pandemie einen Maximalversorger extrem fordert. Folglich helfen
die Ergebnisse, die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Versorgung,
Arbeitsprozesse und Mitarbeitenden noch besser zu verstehen. Zudem können
sie dabei unterstützen, zukünftig Maßnahmen für
pandemische Krisensituationen besser zu beschreiben und bestehende Regelungen
anzupassen.