Aktuelle Dermatologie 2020; 46(12): 546-550
DOI: 10.1055/a-1205-3180
Fehler und Irrtümer in der Dermatologie

Verspätet erkannte Phlegmone bei diabetischem Fußsyndrom

Delayed Recognition of Phlegmonous Infection in a Patient with Diabetic Foot Syndrome
P. Elsner
1   Klinik für Hautkrankheiten, Universitätsklinikum Jena
,
J. Meyer
2   Schlichtungsstelle für Arzthaftpflichtfragen der norddeutschen Ärztekammern, Hannover
› Author Affiliations
 

Zusammenfassung

Ein Patient mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus Typ II und diabetischer Polyneuropathie entwickelte akut eine vesikulöse Hautveränderung am linken Fuß, die von einem Dermatologen unter der Diagnose eines Herpes simplex antiviral behandelt wurde. Erst mit 14-tägiger Verzögerung erfolgte die Diagnoseänderung als bakterielle Infektion und nach Wundabstrich eine interne Antibiose. Weitere diagnostische oder therapeutische Maßnahmen, außer Verbandswechsel mit lokaler Anwendung von antibakteriellen Kompressen, wurden nicht durchgeführt. Unter zunehmender Verschlechterung des Befundes und der Diagnose Phlegmone Vorfuß links wurde der Patient in eine chirurgische Praxis und dann in eine Klinik für Gefäßchirurgie überwiesen, wo es nach Amputation der 3. Zehe links sowie Nekrektomie mit offener Wundbehandlung und erregerspezifischer Antibiose über mehrere Monate zur Abheilung kam.

Die Schlichtungsstelle stellte einen groben Behandlungsfehler aufgrund des Verkennens der Diagnose, des nicht ausreichenden Einbezuges weiterführender diagnostischer Maßnahmen, einer nicht stadiengerechten Wundtherapie und fehlender Wundkontrollen fest. Nach Einschätzung der Schlichtungsstelle ist von einem schweren Fehler auszugehen. Ein schwerer Behandlungsfehler, der generell geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, führt grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem primären Gesundheitsschaden.

Infektionen auf dem Boden eines diabetischen Fußsyndroms sind mit einer hohen Morbidität und Mortalität behaftet. Da sie klinisch blande verlaufen können, sollten bei jedem Verdacht eine engmaschige Wundkontrolle sowie eine leitliniengerechte Diagnostik und Therapie erfolgen. In der Zusammenarbeit mit pflegerischen Wundmanagern ist zu klären, ob diese in Delegation des Arztes oder in eigenständiger Verantwortung tätig werden können. Für die ärztliche Dokumentation ist bei der Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden der Dermatologe selbst verantwortlich.


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Abstract

A patient with insulin-dependent diabetes mellitus type II and diabetic polyneuropathy acutely developed a vesicular lesion at the left foot, which was treated antivirally by a dermatologist under the diagnosis of herpes simplex. Only after a delay of two weeks, a bacterial infection was diagnosed and, following a wound swab, internal antibiotics were administered. No further diagnostic or therapeutic measures were taken, except dressing changes with local application of antibacterial compresses. With increasing deterioration of the clinical findings and the diagnosis of phlegmonous infection on the left forefoot, the patient was referred to a surgical practice and then to a Department for Vascular Surgery, where healing occurred after amputation of the third toe on the left as well as necrectomy with open wound treatment and pathogen-specific antibiotics over several months.

The Independent Medical Expert Council (IMEC) found a gross treatment error due to misinterpretation of the diagnosis, insufficient consideration of further diagnostic measures, wound therapy not appropriate to the stage of the disease and lack of wound controls. A serious error of treatment that is generally capable of causing damage of the type that has actually occurred may lead to a reversal of the objective burden of proof for the causal relationship between the error of treatment and the primary damage to health.

Infections in patients with a diabetic foot syndrome are associated with a high morbidity and mortality. Since they may be difficult to diagnose clinically, a close wound control and guideline-based diagnosis and therapy should be carried out for every suspected case. In cooperation with nursing wound managers, it should be clarified whether they act as delegates of the physician or on their own responsibility. In the care of patients with chronic wounds, the dermatologist himself is responsible for an appropriate medical documentation.


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Klinischer Fall

Aus den von der Schlichtungsstelle herangezogenen Krankenunterlagen, auch der vor- und nachbehandelnden Ärzte, ergab sich folgender Krankheits- und Behandlungsverlauf:

Seit 19 Jahren war der Patient aufgrund verschiedener dermatologischer und allergologischer Erkrankungen bei einem Dermatologen in fachärztlicher Behandlung. Seit 17 Jahren wurde ein Diabetes mellitus Typ II, seit 15 Jahren insulinpflichtig, sowie nachfolgend eine diabetische Polyneuropathie u. a. internistisch therapiert. Laut Patientenkartei des Dermatologen war ihm dieses seit 2 Jahren bekannt.

Der Patient stellte sich akut mit vesikulösen Veränderungen im Fußbereich links mit scharfbegrenzter Rötung sowie Schwiele des linken Fußballens vor. Der Dermatologe stellte klinisch die Diagnose einer Herpes simplex-Infektion und leitete eine antivirale Therapie sowie antibakterielle Lokaltherapie ein. Aktenkundig ohne klinische Befunddokumentation erfolgte 14 Tage später eine Diagnoseänderung als bakterielle Infektion und nach Wundabstrich die interne Antibiose mittels Doxycyclin bei Nachweis Doxycyclin-sensibler betahämolysierender Streptokokken. Nachfolgend wurde die Behandlung durch die Wundsprechstunde 2-mal wöchentlich in der Praxis durch qualifizierte Wundschwestern fortgeführt. Durch den Dermatologen wurde eine Befundkontrolle durchgeführt. Die Wundschwestern eines Sanitätshauses unternahmen die Befunddokumentation. Laut dem Wundprotokoll beiliegender Fotodokumentation 9 Tage später war keine Befundbesserung nachweisbar. Eine erneute Kontrolle war eine Woche später mit der Diagnose Vorfußphlegmone mit Überweisung in eine chirurgische Facharztpraxis aktenkundig. Im Zeitraum der Behandlung durch den Dermatologen erfolgten keine weiteren diagnostischen bzw. therapeutischen Maßnahmen, außer Verbandswechsel in lokaler Anwendung von antibakteriellen Kompressen in täglicher Anwendung ohne Dokumentation. Nach ambulanter Vorstellung durch die chirurgische Praxis erfolgte unter der Diagnose beginnende Phlegmone Vorfuß links, 2. – 4. Zehe die stationäre Einweisung in eine Klinik für Gefäßchirurgie. Während der stationären Behandlung des diabetischen Fußsyndroms mit gesicherter Phlegmone im Vorfußbereich links und Nekrose der 3. Zehe links wurde die Amputation der 3. Zehe links sowie Nekrektomie mit offener Wundbehandlung und eine erregerspezifische Antibiose vorgenommen. Weitere ambulante Nachbehandlungen liegen für die folgenden 2 Monate mit Nachweis reizloser Wundverhältnisse sowie Angabe zu belastungsbedingter Schwellung des linken Fußes vor.


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Beanstandung der ärztlichen Maßnahmen

Der Patient bemängelte die Behandlung der Hautveränderungen im Bereich des linken Fußes durch den Dermatologen. Er war der Auffassung, dass aufgrund einer fehlerhaften Behandlung sowie Nichtbeachtung eines zunehmend schweren Entzündungszustandes bei einem dem Arzt bekannten diabetischen Fußsyndrom eine Amputation der 3. Zehe links mit langzeitlicher postoperativer Behandlung erforderlich geworden sei.


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Stellungnahme des Dermatologen

Der Dermatologe stellte Behandlungsfehler in Abrede. Er begründete die zunächst antivirale, nachfolgend antibiotische Therapie aufgrund klinisch erstellter Diagnosen. Die Antibiose sei entsprechend des nach Wundabstrich nachweisbaren Resistogramms indikationsgerecht durchgeführt worden. Eine Vorstellung des Patienten beim Chirurgen sei bei nachweisbarer wesentlicher Verschlechterung erfolgt. Die patientenseits genutzte Wundsprechstunde würde von ausgebildeten Wundmanagern seiner Praxis mit Fotodokumentation durchgeführt.


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Beurteilung durch die dermatologische Gutachterin

Die Gutachterin traf nach Darstellung des Sachverhalts folgende Kernaussagen: Zum Zeitpunkt der Erstvorstellung des Patienten seien durch den Dermatologen bei ihm bekanntem diabetischem Fußsyndrom entzündliche bullöse Hautveränderungen im Bereich des linken Vorfußes als retrospektiv nachweisliche Fehldiagnose eines Herpes simplex therapiert worden. Bei einem diabetischen Fußsyndrom seien Hautläsionen besonders sorgfältig zu diagnostizieren und zu behandeln, da aufgrund der diabetischen Schädigung eine schlechte Wundheilungsprognose vorliege. Die Diagnose Herpes simplex sei von vornherein als sehr unwahrscheinlich zu bewerten gewesen, da nahezu immer bakterielle Infektionen zu erwarten seien. Der ärztlichen Dokumentation mit ungenügend zu bewertender Aktenlage seien keine Angaben zu anamnestischen Erhebungen bzw. weiteren diagnostischen Maßnahmen wie arterieller Durchblutungssituation, keine Angabe über eine sorgfältige Wundrevision mit Sondierung der Wundhöhle, keine regelmäßigen antiseptischen Spülungen und Verwendung geeigneter Wundauflagen zu entnehmen. In den Protokollen der Wundsprechstunde seien nur Verbandswechsel mit antibakteriellen Kompressen angegeben. Die frühzeitigere chirurgische Eröffnung der Wundhöhle bzw. ein Wunddebridement seien indiziert gewesen. Nach ärztlichen Angaben sei nicht sicher nachweisbar, inwieweit im Zeitraum der Behandlung durch den Dermatologen trotz Vorstellung in der praxiseigenen Wundsprechstunde eine ärztliche Befunderhebung erfolgt sei. Bereits durch die Fotodokumentation in der Wundsprechstunde 2 Wochen nach Behandlungsbeginn sei eine ausgedehnte Vorfußentzündung mit Ulzeration nachzuweisen gewesen. Aus gutachterlicher Sicht wären zumindest zu diesem Zeitpunkt weitere diagnostische Maßnahmen bzw. Einholung von Ergebnissen bei der diabetologisch betreuenden Praxis indiziert gewesen. Erst nach 4 Wochen sei eine tiefe Wundhöhle erkannt und nach ärztlicher Diagnose einer Vorfußphlegmone eine Überweisung in eine chirurgische Fachpraxis in die Wege geleitet worden. Aufgrund der vorliegenden Befunde und der als mangelhaft zu bewertenden Dokumentation sei zu vermuten, dass die Behandlung nicht mit der notwendigen Sorgfalt durchgeführt und erst verspätet eine chirurgische Wundrevision veranlasst worden sei. Bei früherer spezialisierter chirurgischer Behandlung wäre möglicherweise die Amputation zu verhindern gewesen, da u. a. nachfolgend keine schwere arterielle Durchblutungsstörung nachgewiesen worden sei.


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Stellungnahme zum Gutachten

Der Dermatologe entgegnete, dass durch Zeugenaussagen einer Mitarbeiterin der Wundsprechstunde bestätigt werde, dass bei jeder Vorstellung anamnestische sowie symptombezogene Befragungen erfolgt seien. Eine Wundbefunderhebung sei bei den Vorstellungen ärztlich erfolgt. Entgegen des Gutachtens sei nach 3 Wochen eine deutliche Besserung unter den dargestellten Therapiemaßnahmen eingetreten. Die Eigenbehandlung sei täglich mit einer antibakteriellen Creme und Kompressen mittels erstellten Rezepts erfolgt. Eine PAVK sei durch den niedergelassenen Angiologen bereits 5 Jahre vorher ausgeschlossen worden. Weitere Kontrollen seien nicht erfolgt. Bereits 3 Tage vor Überweisung an den Chirurgen sei eine stationäre Einweisung empfohlen, diese sei jedoch patientenseits abgelehnt worden.


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Beurteilung durch die Schlichtungsstelle

In Würdigung der medizinischen Dokumentation und der Stellungnahme der Beteiligten schloss sich die Schlichtungsstelle dem Gutachten im Ergebnis an.

Der Patient war beim angeschuldigten Hautarzt vorstellig, der aktenkundig eine entzündliche Dermatose im Vorfußbereich links bevorzugt 3. Zehenbereich diagnostizierte. Aufgrund langjähriger Vorbehandlung war dem Dermatologen das Vorliegen eines diabetischen Fußsyndroms bekannt. Auf dem klinischen Befund basierend wurde retrospektiv die als Diagnoseirrtum einzuordnende Diagnose Herpes simplex gestellt und eine interne antivirale Therapie sowie antibiotische Lokaltherapie eingeleitet. Bei allgemeinem Kenntnisstand hätte angesichts der Kenntnis der diabetischen Vorschädigung bei der vorliegenden Foto-Befunddokumentation von einem bakteriellen Infektionsgeschehen ausgegangen werden müssen, sodass bereits zu diesem Zeitpunkt eine entsprechende mikrobiologische Diagnostik angezeigt gewesen wäre. Die Diagnose eines Herpes simplex war fernliegend und ist als fehlerhaft zu bewerten; fehlerbedingt erfolgte keine mikrobiologische Abklärung. Bei laut Wundprotokoll fehlendem Besserungsnachweis, auch unter der nach 14 Tagen eingeleiteten erregersensiblen Antibiose, wäre spätestens zu diesem Zeitpunkt eine subtile Wundbefundung mit Sondierung bzw. Wundrevision nach Fachstandard indiziert gewesen. Diese erforderliche Behandlung ist fehlerhaft unterblieben. Ausweislich der fehlenden ärztlichen Dokumentation ist davon auszugehen, dass bei bekanntem Vorliegen des entzündlichen diabetischen Fußsyndroms der Notwendigkeit der kurzzeitigen Befundkontrollen nicht nachgekommen worden ist. Das Unterbleiben derartiger Kontrollen ist als fehlerhaft zu bewerten. Die nachgereichten schriftlichen Ausführungen der Wundmanager stellen keine zeitnahe Dokumentation dar und können von daher hier nicht als richtig zugrundegelegt werden. Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die Einleitung der internen Antibiose als korrekt zu bewerten ist. Bei entsprechender Befunddokumentation des Entzündungsgeschehens entspricht jedoch die Lokaltherapie nicht dem Fachstandard. Die alleinige Durchführung der dokumentierten Salbentherapie ist als Mazerationsfaktor einzuordnen, der eine Keimausbreitung begünstigen kann. Wundspülungen, wundangepasste Wundauflagen sowie chirurgische Interventionen wurden laut aktenkundigem Wundprotokoll nicht einbezogen. Das Unterbleiben ist als fehlerhaft zu bewerten. Zusammenfassend ist als fehlerhaft festzuhalten: das Verkennen der Diagnose (Erstdiagnose), der nicht ausreichende Einbezug weiterführender diagnostischer Maßnahmen, u. a. Ausschluss einer PAVK bzw. ossärer Beteiligung, die nicht stadiengerechte Wundtherapie und die fehlenden Wundkontrollen. Den zum damaligen Zeitpunkt geltenden Prinzipien der Behandlung des diabetischen Fußsyndroms wurde entsprechend der Dokumentationslage umfangreich nicht nachgekommen. Das im vorliegenden Fall kumulierende Fehlverhalten ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Behandlungsgeschehens unter Berücksichtigung der konkreten Umstände aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabs schlicht nicht nachvollziehbar und völlig unverständlich. Es ist deshalb nach Einschätzung der Schlichtungsstelle von einem schweren Fehler auszugehen. Ein schwerer Behandlungsfehler, der generell geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, führt grundsätzlich zu einer Umkehr der objektiven Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem primären Gesundheitsschaden. Es ist nicht erforderlich, dass der grobe Behandlungsfehler die einzige Ursache für den Schaden ist. Es reicht aus, dass der grobe Behandlungsfehler generell geeignet ist, den eingetretenen primären Schaden zu verursachen; naheliegend oder wahrscheinlich braucht der Eintritt eines solchen Erfolges nicht zu sein (vgl. BGH VersR 2004, 909).


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Gesundheitsschaden

Die Beweislastumkehr bezieht sich im vorliegenden Fall auf folgende primären und sekundären Gesundheitsschäden: massive Verschlechterung des Krankheitsbildes, Amputation der 3. Zehe, langer Behandlungsverlauf.

Bei korrektem Vorgehen wäre nach ärztlicher Erfahrung mit folgendem Verlauf zu rechnen gewesen: Bei ärztlichem Handeln entsprechend der Fachempfehlungen wäre bei der Diagnose eines entzündlichen diabetischen Fußsyndroms spätestens nach 14 Tagen eine zeitnah komplexe interdisziplinäre Behandlung indiziert gewesen, die neben der eingeleiteten Antibiose eine fachchirurgische bzw. fachspezifische Mitbehandlung erforderlich macht. Das Verfahren wäre geeignet gewesen, eine Amputation der 3. Zehe rechts zu vermeiden. Eine verkürzte Gesamtbehandlung wäre zu erwarten gewesen.

Die Schlichtungsstelle hielt Schadensersatzansprüche für begründet und empfahl, die Frage einer außergerichtlichen Regulierung zu prüfen.


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Medizinische und rechtliche Interpretation

Der Diabetes mellitus kann sich in vielfältiger Weise am Hautorgan manifestieren, wobei das diabetische Fußsyndrom (DFS) eine wichtige Entität darstellt, welche bei 15 – 25 % aller Menschen mit Diabetes auftritt [1]. Die Kombination von diabetischer Angiopathie, Neuropathie und mechanischem Trauma spielt eine wichtige Rolle bei seiner Pathogenese. Etwa ein Viertel der Patienten mit DFS entwickelt Komplikationen, darunter Infektionen ([Abb. 1)] und/oder eine Osteomyelitis, die zu einer Amputation führen können [1]. Diese Patienten haben eine erhöhte Mortalität; ca. 50 % versterben innerhalb von 3 Jahren nach einer Amputation [1]. Die Rezidivrate von Fußinfektionen bei Diabetikern ist hoch und beträgt binnen 5 Jahren bis zu 70 % [2].

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Abb. 1 Diabetische Fußinfektion und -gangrän (nicht aktuell vorgestellter Fall).

Die „Nationalen Typ-2-Diabetes-Präventions- und Behandlungsstrategien für Fußkomplikationen“ aus dem Jahr 2010 [3], die leider nicht aktualisiert wurden, empfehlen zur Behandlung von chronischen Wunden beim diabetischen Fuß:

  • Primär soll beim diabetischen Fußulkus ein Debridement avitaler Gewebeanteile erfolgen.

  • Vorhandene Taschenbildungen und Unterminierungen sollen entfernt werden.

  • Außer bei Vorliegen einer trockenen Nekrose sollte eine lokale Wundbehandlung durchgeführt werden.

  • Die Wundoberfläche ist bei jedem Verbandswechsel zu reinigen.

  • Die Auswahl der Wundauflage sollte im individuellen Fall anhand des vorliegenden Wundheilungsstadiums, der Exsudatmenge, dem Vorliegen oder Fehlen von Infektionszeichen, dem Vorliegen eines regelhaften oder pathologischen Heilungsverlaufes sowie anhand von Kosten-Effektivitäts-Kriterien getroffen werden. Eine klinisch nicht infizierte Wunde sollte nicht mit Antibiotika behandelt werden.

  • Bei Patienten mit milden Infektionen sollte eine Antibiotikabehandlung unter Berücksichtigung individueller Risiken erwogen werden.

  • Bei Patienten mit moderater oder schwerer Infektion soll eine Antibiotikabehandlung erfolgen. Bei Verdacht auf eine schwere Infektion soll die Antibiotikabehandlung intravenös begonnen werden.

  • Bei konservativ nicht zur Abheilung zu bringenden Ulzera sollte der Einsatz plastisch-rekonstruktiver Verfahren erwogen werden.

Entsprechend äußern sich dermatologische Standardwerke, die zusätzlich auf die Bedeutung der Beseitigung einer Fehlbelastung (orthopädisches Schuhwerk) und die Besserung der Gefäßsituation (Dilatation von Stenosen, Bypass) hinweisen [4].

Wichtig ist eine frühzeitige Diagnose einer diabetischen Fußinfektion, die schwierig sein kann, da sowohl lokale als auch systemische Entzündungszeichen oft fehlen [2]. Normale Entzündungsparameter schließen eine relevante Infektion nicht sicher aus [5]. Bei Kenntnis des Vorliegens eines diabetischen Fußsyndroms sollte daher ein hohes Suspicium für eine Infektion bei Auftreten neuer Hauterscheinungen bestehen. In diesem Fall sollte stets auch eine aktualisierte Gefäßdiagnostik durchgeführt, eine Osteomyelitis ausgeschlossen und ein mikrobiologischer Erregernachweis versucht werden [2].

Im vorliegenden Fall monierte die Schlichtungsstelle zunächst einen Diagnosefehler mit Verkennung der Blasenbildung im Fußbereich als Herpes simplex-Infektion. Wenngleich Herpes simplex-Infektionen an atypischen Lokalisationen vorkommen und differenzialdiagnostisch bedacht werden sollten [6], war diese Diagnose unwahrscheinlich; der Verdacht hätte nach Facharztstandard durch eine PCR-Diagnostik gesichert werden sollen [6]. Problematisch war jedoch insbesondere die nicht vorliegende zeitnahe ärztliche Befunddokumentation, aufgrund deren Fehlens eine Beweislastumkehr eintrat. Der angeschuldigte Dermatologe bezog sich auf die Befunddokumentation durch Wundmanagerinnen in seiner Wundsprechstunde.

Der Fall zeigt die haftungsrechtliche Problematik des Einsatzes von Wundmanagern eines Sanitätshauses im Rahmen der Betreuung von Patienten mit chronischen Wunden, wie sie vielfach in den letzten Jahren Usus geworden ist. Im Wundmanagement spezialisiert weitergebildete Pflegekräfte haben in den vergangenen Jahrzehnten zu Recht eine zunehmende Bedeutung für die Versorgung chronischer Wunden gewonnen. Deren Zusatzausbildung erfolgt nach deutschen [6] oder europäischen [7] Curricula. Nach § 63 Abs. 3c SGB V können gemäß der „Heilkundeübertragungsrichtlinie“ in Modellvorhaben zertifizierte Wundmanager ärztliche Tätigkeiten bei der Behandlung chronischer Wunden übernehmen; dazu gehören u. a. die „Erfassung des Wundzustands inklusive Wundgröße und Wundinfektion und pathophysiologischer Ursachen sowie relevanter Begleitparameter, tiefe Wundabstriche, Veranlassung von vertragsärztlichen Überweisungen zur weiterführenden Diagnostik (u. a. Konsil)“. Es handelt sich in diesem Fall nicht um eine Delegation ärztlicher Tätigkeiten, für die der Arzt letztlich die Verantwortung behält, sondern um eine eigenverantwortliche Ausführung ärztlicher Tätigkeiten, für die der Wundmanager in vollem Umfang selbst haftet. Sollte ein solches Modellvorhaben jedoch nicht vorliegen, ist in Bezug auf die Frage der Abgrenzbarkeit der ärztlichen und pflegerischen wundbezogenen Tätigkeiten festzuhalten, dass der Arzt nach wie vor die volle Verantwortung für die Wunddiagnose und die darauf beruhende Wundtherapie trägt [8]. Dermatologen sollten diesen haftungsrechtlich bedeutsamen Umstand, bei aller Würdigung der praktischen Erfahrung entsprechend weitergebildeter Pflegekräfte, stets im Blick behalten.

Die kritischen Ausführungen der Schlichtungsstelle zur lokalen antibiotischen Therapie im vorliegenden Fall sind im Licht eines neueren Cochrane-Reviews zur lokalen antimikrobiellen Therapie bei diabetischen Ulzera, wonach die Verwendung eines antimikrobiellen Verbandes anstelle eines nicht antimikrobiellen Verbandes die Zahl der diabetischen Fußulzera, die in einem mittelfristigen Nachbeobachtungszeitraum abheilen, erhöhen kann [9], zwar von eingeschränkter Evidenz, ändern aber nichts an der Gesamtbeurteilung der Behandlung als nicht dem Facharztstandard entsprechend. Die Schlichtungsstelle bejahte in der Gesamtschau einen groben Behandlungsfehler, d. h., dass „der Arzt eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf“ [10]. In diesem Fall tritt eine Beweislastumkehr für die Kausalität der vom Patienten erlittenen Schäden ein; d. h., der Arzt ist beweispflichtig, dass diese nicht auf seine (Fehl-)Behandlung zurückzuführen sind, was regelmäßig nicht gelingen dürfte. Eine Beweislastumkehr beim Vorliegen eines „groben Behandlungsfehlers“ scheidet jedoch dann aus, wenn durch das Verhalten des Patienten eine selbstständige Komponente für die Vereitelung des Heilungserfolgs gesetzt worden ist. Eine etwaige Ablehnung empfohlener weisterer Diagnostik oder spezifischer Therapien, einer Überweisung oder einer Krankenhauseinweisung durch den Patienten sollte daher stets dokumentiert werden.

Take Home Message

Infektionen auf dem Boden eines diabetischen Fußsyndroms sind mit einer hohen Morbidität und Mortalität behaftet. Da sie klinisch blande verlaufen können, sollten bei jedem Verdacht eine engmaschige Wundkontrolle und leitliniengerechte Diagnostik und Therapie erfolgen. In der Zusammenarbeit mit pflegerischen Wundmanagern ist zu klären, ob diese in Delegation des Arztes oder in eigenständiger Verantwortung tätig werden. Für die ärztliche Dokumentation ist bei der Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden letztlich der Dermatologe selbst verantwortlich.


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Interessenkonflikt

Die Autorinnen/Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.


Korrespondenzadresse

Prof. Dr. P. Elsner
Klinik für Hautkrankheiten
Universitätsklinikum Jena
Erfurter Str. 35
07743 Jena
Deutschland   

Publication History

Article published online:
31 July 2020

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Abb. 1 Diabetische Fußinfektion und -gangrän (nicht aktuell vorgestellter Fall).