Gesundheitswesen 2020; 82(08/09): 664-669
DOI: 10.1055/a-1195-2474
Zur Diskussion

Contact-Tracing-Apps als unterstützende Maßnahme bei der Kontaktpersonennachverfolgung von COVID-19

Contact-Tracing Apps in Contact Tracing of COVID-19
1   Abteilung 1: Versorgungsforschung – Department for Health Services Research, Institut für Public Health und Pflegeforschung, Universität Bremen, Bremen
2   Research Cluster Framework Development, Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health, Bremen
,
Sven Kernebeck
3   Lehrstuhl für Didaktik und Bildungsforschung im Gesundheitswesen – Fakultät für Gesundheit, Universität Witten Herdecke, Witten
,
Simone Böbel
4   Institut für Public Health und Pflegeforschung, Abteilung 1: Versorgungsforschung, Universität Bremen, Bremen
,
Benedikt Buchner
5   Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht, Universität Bremen, Universität Bremen, Bremen
6   Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health, Bremen
,
Eva Grill
7   Institut für Medizinische Informationsverarbeitung, Biometrie und Epidemiologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München
,
Sebastian Hinck
8   Deutsche Gesellschaft für Public Health, Deutsche Gesellschaft für Public Health eV, Bochum
,
Robert Ranisch
9   Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, Universität Tübingen Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Tübingen
,
Dietrich Rothenbacher
10   Institut für Epidemiologie und Medizinische Biometrie, Universität Ulm, Ulm
,
Benjamin Schüz
6   Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health, Bremen
11   Institut für Public Health und Pflegeforschung, Abteilung 2: Prävention und Gesundheitsförderung, Universität Bremen, Bremen
,
Dagmar Starke
12   Referentin für Epidemiologie und Gesundheitsberichterstattung, Akademie für Öffentliches Gesundheitswesen, Düsseldorf
,
13   Prävention und Evaluation, Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS GmbH, Bremen
14   Research Cluster Evaluation, Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health, Bremen
,
Hajo Zeeb
6   Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health, Bremen
13   Prävention und Evaluation, Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS GmbH, Bremen
15   Health Sciences Bremen, Universität Bremen, Bremen
,
Ansgar Gerhardus
2   Research Cluster Framework Development, Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health, Bremen
15   Health Sciences Bremen, Universität Bremen, Bremen
16   Department for Health Sciences, Abteilung 1: Versorgungsforschung, Universität Bremen, Bremen
› Institutsangaben
 

Zusammenfassung

Die Kontaktpersonennachverfolgung ist derzeit eine der wirksamsten Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie. Digitales Contact Tracing mittels Smartphones scheint eine sinnvolle zusätzliche Maßnahme zur manuellen Kontaktpersonennachverfolgung zu sein, um Personen zu identifizieren, die nicht bekannt oder nicht erinnerlich sind und um den zeitlichen Verzug beim Melden eines Infektionsfalles und beim Benachrichtigen von Kontaktpersonen so gering wie möglich zu halten. Obwohl erste Modellierungsstudien eine positive Wirkung in Bezug auf eine zeitnahe Kontaktpersonennachverfolgung nahelegen, gibt es bislang keine empirisch belastbaren Daten, weder zum bevölkerungsweiten Nutzen noch zum potenziellen Schaden von Contact-Tracing-Apps. Die Beurteilung der Zweckerfüllung und eine wissenschaftliche interdisziplinäre Begleitforschung sowohl zur Wirksamkeit, Risiken und Nebenwirkungen als auch zu Implementierungsprozessen (z. B. Planung und Einbezug verschiedener Beteiligter) sind wesentliche Bestandteile einer Nutzen-Risiko Bewertung. Dieser Beitrag betrachtet daher den möglichen Public-Health-Nutzen sowie technische, soziale, rechtliche und ethische Aspekte einer Contact-Tracing-App zur Kontaktpersonennachverfolgung im Rahmen der COVID-19-Pandemie. Weiterhin werden Bedingungen für eine möglichst breite Nutzung der App aufgezeigt.


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Abstract

Contact tracing is currently one of the most effective measures to contain the COVID-19 pandemic. In order to identify persons that would otherwise not be known or remembered and to keep the time delay when reporting an infection and when contacting people as short as possible, digital contact tracing using smartphones seems to be a reasonable measure additional to manual contact tracing. Although first modelling studies predicted a positive effect in terms of prompt contact tracing, no empirically reliable data are as yet available, neither on the population-wide benefit nor on the potential risks of contact tracing apps. Risk-benefit assessment of such an app includes investigating whether such an app fulfils its purpose, as also research on the effectiveness, risks and side effects, and implementation processes (e. g. planning and inclusion of different participants). The aim of this article was to give an overview of possible public health benefits as well as technical, social, legal and ethical aspects of a contact-tracing app in the context of the COVID-19 pandemic. Furthermore, conditions for the widest possible use of the app are presented.


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Einleitung

Die Übertragung von SARS-CoV-2 kann bisher nur durch allgemeine Hygieneschutzmaßnahmen und Maßnahmen zur Kontaktreduzierung in der Bevölkerung vermindert werden. Die frühe Identifikation und Isolation von infizierten Personen und die Ermittlung und Nachverfolgung von Kontaktpersonen spielen eine wesentliche Rolle. Die konventionelle Kontaktnachverfolgung ist zeit- und personalintensiv und beruht darauf, dass sich infizierte Personen daran erinnern mit wem sie Kontakt hatten.

Um einen erneuten Anstieg der Infektionszahlen im Zuge der schrittweisen Rückkehr des öffentlichen Lebens möglichst gering zu halten, kommen daher neben der konventionellen Kontaktpersonenermittlung auch sogenannte Contact-Tracing-Apps (auch „Proximity-Tracing-Apps“) unterstützend zum Einsatz [1]. Diese Apps informieren die Nutzer/innen, wenn sie Kontakt mit einer infizierten Person hatten, um weitere Maßnahmen zu ermöglichen. In Österreich wird eine solche Contact-Tracing-App bereits eingesetzt [2], ebenso in weiteren Ländern, wie z. B. Australien [3] oder Singapur [4]. Für Deutschland und die Schweiz werden Contact-Tracing-Apps derzeit entwickelt. Bisher liegen allerdings auch international keine unmittelbar empirischen Daten zur Wirksamkeit von Contact-Tracing-Apps im Kontext von COVID-19 vor. Ziel dieses Beitrags ist es, den möglichen Public-Health-Nutzen sowie technische, soziale, rechtliche und ethische Aspekte einer Contact-Tracing-App zur Kontaktpersonennachverfolgung im Rahmen der COVID-19-Pandemie zu betrachten. Weiterhin werden Bedingungen für eine möglichst breite Nutzung der App aufgezeigt und Hinweise zum Forschungsbedarf gegeben.


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Methoden

Dieser Beitrag basiert auf einer selektiven, nicht-systematischen Literaturrecherche, zu den Voraussetzungen und wissenschaftlichen Belegen für die Wirksamkeit von Contact-Tracing-Apps, die zwischen dem 20. April 2020 und dem 12. Mai 2020 durchgeführt wurde. Aufgrund der Neuartigkeit der digitalen Kontaktnachverfolgung gibt es nur eine sehr begrenzte Menge an wissenschaftlichen Arbeiten zu Contact-Tracing Apps. Es wurden daher sowohl wissenschaftliche Arbeiten aus Fachzeitschriften als auch Nachrichtenmagazine und webbasierte Inhalte aufbereitet. Die Recherche erfolgte in der elektronischen Fachdatenbank PubMed und in Google Scholar. Zudem wurden Presseberichte sowie Stellungnahmen von Nicht-Regierungsorganisationen berücksichtigt, die im Rahmen einer Internetrecherche durch Google identifiziert wurden. Die inhaltliche Gestaltung erfolgte nach ausführlicher Diskussion und Konsensfindung zwischen den Autor/innen.


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Zentrale Gesichtspunkte von Contact-Tracing-Apps

Technische Voraussetzungen

International sind derzeit Bluetooth- und GPS-basierte Systeme für Smartphones im Einsatz und in Entwicklung. Die Datenverarbeitung kann zentral oder dezentral erfolgen [5]. In Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich die Regierungen auf eine dezentrale Lösung auf der Basis von Bluetooth Low Energy (BLE) festgelegt. BLE ist ein energiesparender Modus der Bluetooth-Technologie, welcher seit 2010 auf dem Markt und in den meisten Smartphones verfügbar ist. Gründe für die Entscheidung für eine dezentralen Ansatz mit der Bluetooth-Technologie sind ein besserer Datenschutz und eine bessere Energieeffizienz im Vergleich zu GPS-basierten und zentralen Lösungen [6]. Contact-Tracing-Apps müssen aus den jeweiligen App-Stores auf den Smartphones der Benutzer/innen aktiv heruntergeladen werden.

Bei BLE werden Entfernung, Zeitpunkt und Dauer des Kontakts mit einem anderen Smartphone über eine anonymisierte, zufällig generierte Identifikationsnummer (ID) im eigenen Smartphone aufgezeichnet. Beim dezentralen Modell findet die Prüfung auf einen relevanten Kontakt nur auf dem Handy statt, nachdem ein Nutzer, der infiziert ist, die eigene ID an einen Server übermittelt hat [7]. Sobald sich ein/e Nutzer/in der App als infiziert identifiziert, verfolgt die App anhand gespeicherter IDs und Zeitstempel die Kontakte zu anderen Smartphones zurück und benachrichtigt diese. Um zu vermeiden, dass Personen ohne positives Testergebnis – versehentlich oder absichtlich – eine Benachrichtigung (einen „Fehlalarm“) aussenden können, sollte eine Autorisierung z. B. durch eine TAN oder eines QR-Codes des Gesundheitsamtes die Voraussetzung für das Aussenden der Benachrichtigung sein [8]. Mit der Benachrichtigung können die adressierten Personen entsprechend reagieren (Selbstisolation, Kontaktaufnahme mit Corona-Ambulanz, Gesundheitsamt, Hausarzt zur Abklärung und ggf. Testung). Da ein individuelles „händisches“ Recherchieren und Kontaktieren entfällt, könnte somit im Vergleich zum herkömmlichen Contact-Tracing auch Zeit gewonnen werden.

Eine Reihe von Faktoren kann sich auf die technische Funktionsfähigkeit des Systems auswirken:

  1. Ist die Bluetooth-Verbindung nicht eingeschaltet oder gestört, werden unter Umständen tatsächliche Kontakte nicht protokolliert [9] [10] und im Falle einer Infektion nicht benachrichtigt.

  2. Bluetooth-Signale werden durch die Umgebung beeinflusst. Der Abstand, in dem Kontakte registriert werden, kann je nach Gerät, Einstellung und Umgebungsbedingungen variieren [9]. Beispielsweise kann die App Gesichtsmasken oder Plexiglasscheiben, wie sie zunehmend in Supermärkten eingesetzt werden, nicht erkennen. Obwohl diese Kontakte mit einem geringen Infektionsrisiko einhergehen, würde die App diese Kontakte registrieren und im Falle einer Infektion möglicherweise unnötig informieren.

  3. Gemeinsam nutzbare Schnittstellen (Android/iOS) müssen in der App vorhanden sein. Am 20.Mai 2020 veröffentlichten Apple und Google daher eine Schnittstelle (API), die zum Contact-Tracing für staatliche Gesundheitsbehörden entwickelt wurde [6] [11].


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Epidemiologische und systemische Voraussetzungen

Eine App kann nur dann unterstützen, wenn sie möglichst viele Verdachtsfälle korrekt erkennt (also wenige Falsch-Negative produziert) und möglichst wenig Kontakte anzeigt, die kein Risiko darstellen (also wenige Falsch-Positive produziert). Smartphone-Apps wurden bereits früher im Pandemie-Management eingesetzt [12] [13]. Ob im Zuge der Lockerungen der Kontrollmaßnahmen ein Anstieg der Infektionszahlen mithilfe der App nachhaltig verhindert werden kann, ist bislang jedoch nicht mit empirischen Daten belegbar [14] [15].

Die Effektivität einer App hängt von mehreren Faktoren ab:

  1. Der Anteil der Bevölkerung, der die App korrekt nutzt [1]: Eine Modellierungsstudie aus Großbritannien zeigt, dass nach dem Ende des Lockdowns 56% der Bevölkerung die App installieren und durchgehend nutzen müssten, um die Weitergabe des Virus zu verringern und gleichzeitig die Anzahl der unter Quarantäne gestellten Personen zu minimieren [16]. Niedrigere App-Nutzungsraten würden zu einem erneuten Anstieg der Infektionszahlen und entsprechenden Gegenmaßnahmen führen. Allerdings könnte auch bei geringeren Nutzungsraten das Intervall zwischen den Lockdown-Maßnahmen zumindest etwas vergrößert werden. Dieses Modell basiert auf den Wachstums- und Transmissionsraten kurz nach dem Ausbruch der Epidemie in China [1]. Weil die Wachstumsraten global sehr unterschiedlich ausfallen und die Infektiosität von asymptomatischen, infizierten Personen und die der vorsymptomatischen Übertragung nicht hinreichend bekannt ist, können die Ergebnisse dieser Modellierungsstudien nicht direkt auf andere Situationen bzw. Regionen übertragen werden. In Ländern, die bereits eine Contact-Tracing-App einsetzen, bleibt die Nutzungsrate hinter den Erwartungen zurück. In Singapur bspw. wurde die App „Trace Together“ zwischen der Einführung Ende März bis zum 1. Mai 2020 1,1 mio. Mal heruntergeladen, was bei einer Einwohnerzahl von 5,7 mio. nur ca. einem Fünftel der Bevölkerung entspricht [17]. Ähnliche Datenschutzstandards machen diese App für die Contact-Tracing-App im deutschsprachigen Raum vergleichbar. Der Vergleich mit Apps und anderen digitalen Technologien, die in China und Süd-Korea eingesetzt werden, ist nur begrenzt möglich, da die dortigen Ansätze auf gänzlich anderen Technologien beruhen und mit einem Grad an Überwachung (z. B. zentrale Datenspeicherung, Nutzung der App ist Pflicht) verbunden sind, der in Deutschland, Österreich und der Schweiz mit dem geltenden Datenschutz nicht vereinbar wäre. Der Vorteil der höheren Datensouveränität und -sicherheit des dezentralen Ansatzes [18] bedeutet gleichzeitig, dass die App-Nutzer/innen ihrerseits aktiv werden müssen, und weitere Schritte selbst initiieren müssen (z. B. Selbstisolation oder Kontaktaufnahme mit dem zuständigen Gesundheitsamt). Für die Gesundheitsämter hat das Verfahren außerdem einen Mehraufwand zur Folge. Dafür müssen ausreichende Ressourcen zur Verfügung stehen, z. B. in Form von Containment Scouts, die als mobile Teams den öffentlichen Gesundheitsdienst unterstützen. Weil die App auf die korrekte Benutzung des Smartphones und angemessene Reaktionen der Einzelnen angewiesen ist, liegt ein Großteil der Verantwortung bei den einzelnen Nutzer/innen: Aktivierung Bluetooth, kontinuierliches Mitführen des Smartphones, Verhalten nach Infektion und Benachrichtigung von Kontakten, sowie Einhalten von Quarantäne-Maßnahmen. Deshalb ist es wichtig, dass die Einführung einer Contact-Tracing-App durch Maßnahmen flankiert wird, die dazu beitragen können, dass möglichst viele Personen die App benutzen und funktionstüchtig einrichten. Solche Interventionen können neben den Eigeninteressen auf Empfehlungen zu Altruismus, Solidarität und einem Appell an die individuelle Verantwortung für öffentliche Gesundheit aufbauen [19].

  2. Die Effizienz und Wirksamkeit von Apps hängen stark vom öffentlichen Vertrauen in Wissenschaft und Politik ab. Einen detaillierten Überblick dazu gibt es im Public Health COVID-19 Policy Brief „Contact tracing apps and public trust“ (in Vorbereitung).

  3. Es ist zu berücksichtigen, dass die Einstellung bzw. Konfiguration der App und die Spezifizierung der nachfolgenden Maßnahmen wesentliche Komponenten der jeweiligen digitalen Contact-Tracing Maßnahme sind. Je nachdem, wie im Entscheidungsalgorithmus bspw. Schwellenwerte für Risikowahrscheinlichkeiten festgelegt werden, welche Personen in die nachfolgenden Quarantänemaßnahmen einbezogen werden oder wie lange die Isolationsmaßnahmen aufrecht zu erhalten sind, ergeben sich unterschiedliche Verhältnisse zwischen der Effektivität bezüglich der erwünschten Verbreitungsreduzierung und den unerwünschten Nebenwirkungen durch Isolationsmaßnahmen von nicht infizierten Personen [16]. Es ist geplant diese Abstandsmessungen via Bluetooth in den Testphasen fortlaufend weiter zu kalibrieren, damit die Genauigkeit verbessert werden kann [20].

  4. Die Entscheidungsalgorithmen der App müssen zudem mit den Strukturen des Gesundheitssystems kompatibel sein. Beispielsweise müssen die Strukturen in Form von zusätzlichen Mitarbeiter/innen (sog. Containment Scouts) in den Gesundheitsämtern vorhanden sein, um die von der App benachrichtigten Nutzer/innen zeitnah betreuen und ggf. testen zu können.


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Ethische Voraussetzungen

Aus ethischer Sicht schlagen wir 3 Minimalbedingungen als Voraussetzungen für den akzeptablen Einsatz vor:

  1. Die Nutzung sollte nicht verpflichtend sein (Freiwilligkeit)  Bund und Länder haben am 15. April 2020 mitgeteilt, dass die Verwendung einer Contact-Tracing-App freiwillig sein soll [21]. Zudem schreibt die von Apple und Google entwickelte Schnittstelle vor, dass die Nutzer/innen aktiv um Einverständnis für das Contact-Tracing gefragt werden müssen [11] [22].

  2. Lasten sowie Nutzen müssen möglichst fair verteilt werden (Gerechtigkeit) Es besteht das Risiko, dass der Zugang und die Nutzung von Contact-Tracing-Apps ungleich verteilt sein werden. Insbesondere ältere Menschen, die einem besonders hohen Erkrankungsrisiko ausgesetzt sind, Menschen ohne ausreichende Sprachkenntnisse für die Installationsanleitungen und sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen, die nicht zwangsläufig ein Smartphone besitzen, werden nur erschwerten Zugang zu einer solchen App haben [23] [24]. Es sind Maßnahmen zu ergreifen, um einen möglichst gerechten Zugang zu Technologien oder Alternativen sicherzustellen. Beispielsweise könnte die App Installationshilfen in mehreren Sprachen anbieten.

  3. Die erhoffte positive Gesundheitswirkung für die Bevölkerung müssen stets gegen mögliche Nachteile für Individuen abgewogen werden (Nutzen) Bei der Beurteilung der Wirksamkeit der App als bevölkerungsbezogener Maßnahme dürfen die Folgen für den Einzelnen nicht außer Acht gelassen werden. Die Zahl derjenigen die zu einem Verdachtsfall werden, ohne tatsächlich infiziert zu sein, wird mit der App zunehmen. Es ist zu berücksichtigen, dass durch das digitale Contact-Tracing keine Stigmatisierungs- oder Diskriminierungstendenzen sowie Einschränkungen der Privatheit entstehen. Das Nutzen-Schaden-Verhältnis ist durch kontinuierliche Untersuchung der Wirksamkeit zu überprüfen. Zusätzlich muss das Nutzen-Schaden-Verhältnis durch die Einstellungen der Schwellenwerte der Wahrscheinlichkeiten (z. B. einer Infektion) in der App stets optimiert und der Situation angepasst werden.


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Rechtliche Voraussetzungen

Aus rechtlicher Sicht muss die Entwicklung der App die Umsetzung aller datenschutzrechtlichen Vorgaben gewährleisten („Privacy by Design“) und einen Missbrauch der bereitgestellten Daten verhindern [25]. Wichtige datenschutzrelevante Kriterien sind: dezentrale Datenverarbeitung, Anonymität, Datensparsamkeit, Unverkettbarkeit und Nichtbeobachtbarkeit der Kommunikation [18].

Vor Einwilligung in die Nutzung müssen Bürgerinnen und Bürger so umfassend und transparent wie möglich über den Zweck einer App, deren Einsatz sowie die Verarbeitung der bereitgestellten Daten informiert werden. Neben allgemeinen rechtlichen Grundlagen bedürfen sowohl Datenschutz als auch Datensicherheit einer besonderen Beachtung. Es muss gewährleistet sein, dass die durch die Tracing-App gewonnenen Daten ausschließlich zum Zweck der Kontaktrückverfolgung genutzt werden und die Daten nach Erreichung dieses Zwecks umgehend wieder gelöscht werden [26]. Die App darf zudem stets nur die für die Zwecke der Rückverfolgung unbedingt erforderlichen Daten erheben und muss so weit wie möglich mit anonymisierten Daten arbeiten.

Kernbotschaften
  • Digitales Contact-Tracing mittels Smartphone-Apps hat das Potenzial, die Übertragungsrate von SARS-CoV-2 zu senken, indem sie die herkömmliche Kontaktpersonennachverfolgung unterstützen.

  • Der Nutzen der App hängt von technischen Voraussetzungen und einer hohen Nutzungsrate in der Bevölkerung ab.

  • Voraussetzungen für eine hohe Nutzungsrate sind einfache Handhabung, sehr hohes Vertrauen der Bevölkerung in die Zuverlässigkeit und Wirksamkeit der App und sehr hohes Datenschutzniveau.

  • Um die Akzeptanz zu erhöhen, müssen die Nutzer/innen umfassend und verständlich über den Zweck der App und die Nutzung und Verarbeitung der von ihnen bereitgestellten Daten informiert werden. Die Datenspeicherung erfolgt daher dezentral und der Quellcode wird veröffentlicht.

  • Die Einrichtung eines unabhängigen Aufsichtsgremiums mit Expert/innen aus den Bereichen Epidemiologie, Ethik, Recht, Informatik, Public Health und Politik können das Vertrauen erhöhen.

  • Begleitend zu der Einführung der App müssen den Nutzer/innen Installations- und Bedienanleitung bereitstehen: Aktivierung von Bluetooth, kontinuierliches Mitführen des Smartphones, richtiges Verhalten nach Infektion, Benachrichtigung von Kontakten und Einhalten von Quarantäne-Maßnahmen.

  • Freiwilligkeit und niedrigschwelliger Zugang zu einer Contact-Tracing-App muss für alle, speziell auch für vulnerable Bevölkerungsgruppen, gewährleistet sein.

  • Die App und ihre Funktionsweise müssen mit den Strukturen des Gesundheitssystems kompatibel sein. Es müssen zusätzliches Personal zur Verfügung stehen, das die Gesundheitsämter bei der Ermittlung von Kontaktpersonen unterstützt.

  • Systeme und Daten müssen komplett gelöscht werden, sobald der Zweck der Pandemiekontrolle erreicht ist oder falls die Wirksamkeit der App nicht nachgewiesen werden kann.

  • Zu Nutzung, Nutzen und Risiken einer App zum Contact-Tracing von Personen mit SARS-CoV-2 liegen bisher keine empirischen Daten vor. Bei der Einführung ist eine wissenschaftliche interdisziplinäre Begleitforschung daher zwingend notwendig.

Weiterhin beschloss die Bundesregierung in Deutschland am 6. Mai 2020, dass eine Contact-Tracing-App transparent mit Quellcode bereitgestellt wird [21]. Die Offenlegung des Quellcodes erlaubt es unabhängigen Bürgerrechts- und Forschungsorganisationen, die Contact-Tracing-App zu prüfen. Dies stellt eine grundlegende vertrauensbildende Maßnahme dar, die wesentlich zur Akzeptanz und Nutzung einer solchen App führen kann.


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Notwendigkeit einer unabhängigen, wissenschaftlichen Begleitforschung

Zu Nutzung, Nutzen und Risiken einer App zum Contact-Tracing von Personen mit SARS-CoV-2 liegen bisher keine empirischen Daten vor. Bei der Einführung der App ist daher eine wissenschaftliche Begleitforschung zwingend notwendig. Außerdem müssen die Effekte der App hinsichtlich Akzeptanz, Wirksamkeit oder Gerechtigkeit (z. B. Alters-/geschlechterdifferente Nutzung, Nutzung in Abhängigkeit des sozioökonomischen Status) zeitnah wissenschaftlich begleitet werden, um ggf. informiert nachjustieren zu können. Weiterhin müssen die Wirksamkeitsanforderungen für die Contact-Tracing-App dem erwarteten Nutzen, dem potenziellen Schaden, aber auch den Kosten (z. B. in Form einer Mehrbelastung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes) gegenüber angemessen sein.

Umfassende und konkrete Kriterien für eine sinnvolle Nutzenbewertung einer Contact-Tracing-App für den deutschsprachigen Raum gibt es bislang nicht. Allerdings gibt es bereits eine Klassifikation für die Bewertung der Wirksamkeit und des Mehrwerts digitaler Gesundheitstechnologien für das britische Gesundheits- und Pflegesystem [27]. Diese Klassifikation orientiert sich an den Funktionen von digitalen Angeboten im Gesundheitsbereich und ordnet diesen Funktionen verschiedene Anforderungen an die Nutzenbewertung zu. Für die Bewertung der Contact-Tracing-App sind bspw. Belege für die Akzeptanz, Nutzungsraten, Gerechtigkeit und den Mehrwert gegenüber anderen Methoden der Kontaktnachverfolgung zu erbringen. Zudem müssen konkrete Wirksamkeitskriterien vor der Einführung der App festgelegt und geeignete Daten kontinuierlich erhoben werden. Die Bewertungskriterien aus diesem Katalog und die vorgeschlagene Methodik könnten die Grundlage für die Nutzenbewertung der Contact-Tracing-App darstellen.

Fazit

Kontaktpersonennachverfolgung ist derzeit eine der wirksamsten Strategien zur Eindämmung der SARS-CoV-2 Pandemie. In der Regel übernehmen Mitarbeiter/innen des Öffentlichen Gesundheitsdienstes die Nachverfolgung, Ermittlung und Kontaktierung von Kontaktpersonen von infizierten Personen. Dieses Vorgehen führt dazu, dass Personen mit Kontakt übersehen werden können, an die sich die infizierte Person nicht erinnert bzw. die sie nicht kennt. Weiterhin kann es zeitlichen Verzug beim Melden eines Infektionsfalles und im Benachrichtigen von Kontaktpersonen zur Folge haben. Als bevölkerungsbezogene Maßnahme erscheint der Einsatz einer Contact-Tracing-App als integrativer Baustein einer Gesamtstrategie zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie sinnvoll. Nutzen und Schaden sind auf Basis der verfügbaren Daten jedoch aktuell noch nicht zu beurteilen, empirische Studien für die derzeit eingesetzten (Österreich) bzw. geplanten (Deutschland, Schweiz) Technologien liegen nicht vor. Sicher ist, dass ein bevölkerungsweiter Nutzen nur dann erreicht werden kann, wenn ein möglichst großer Anteil der Bevölkerung die Apps nutzt und sich gleichzeitig an Verhaltensempfehlungen im Fall des Kontakts mit infizierten Personen hält. Zur Erhöhung der Akzeptanz und der Nutzung ist neben der Sicherstellung der technischen und nicht-technischen Funktionalität und dem allgemeinen Zugang für alle Bevölkerungsgruppen insbesondere das öffentliche Vertrauen, die Freiwilligkeit der Nutzung und ein transparentes Design mit dezentraler Datenspeicherung zum Schutz der persönlichen Daten notwendig. Mögliche Maßnahmen zur Erhöhung von Benutzungsraten müssen sich dabei in einem akzeptablen rechtlichen und ethischen Rahmen bewegen. Eine wissenschaftliche, interdisziplinäre Begleitforschung sowohl zur Wirksamkeit, Risiken und Nebenwirkungen als auch zu Implementierungsprozessen (z. B. Planung und Einbezug verschiedener Beteiligter) ist daher unerlässlich. Auch sollten Kriterien festgelegt werden, welche über die Deaktivierung der App im Falle einer unzureichenden Zweckerfüllung bestimmen.


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Danksagung

Wir bedanken uns für die Unterstützung durch den Leibniz-WissenschaftsCampus Digital Public Health Bremen (lsc-diph.de), der gemeinsam von der Leibniz-Gemeinschaft (W4/2018), der Freien Hansestadt Bremen und dem Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie - BIPS gefördert wird.


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Interessenkonflikt

EG war vom 14.04.2020 bis zum 25.04.2020 Mitglied des Beraterteams zur Entwicklung der epidemiologischen Spezifikationen der PEPP-PT App. Alle anderen Autor/innen geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.


Korrespondenzadresse

Tina Jahnel
Institut für Public Health und Pflegeforschung,
Abteilung 1: Versorgungsforschung
Universität Bremen
Grazer Straße 4 (Raum A3100)
28359 Bremen

Publikationsverlauf

Artikel online veröffentlicht:
21. Juli 2020

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