Nervenheilkunde 2020; 39(12): 801-809
DOI: 10.1055/a-1193-8827
Übersichtsarbeit

Martha Ulrich und Toni Schmidt-Kraepelin

Pionierinnen der deutschen NervenheilkundeMartha Ulrich and Toni Schmidt-KraepelinFemale pioneers of German neuropsychiatry
Jana Prokop
1   Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uniklinik Köln, Medizinische Fakultät der Universität zu Köln
,
Axel Karenberg
1   Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Uniklinik Köln, Medizinische Fakultät der Universität zu Köln
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ZUSAMMENFASSUNG

Gegenstand und Ziel Mithilfe von 2 exemplarischen Biografien sollen die berufliche Laufbahn und Lebensumstände von Nervenärztinnen zwischen 1900 und 1950 beleuchtet werden. Dabei stehen Hochschulzugang, Medizinstudium, Forschung sowie Tätigkeit in Klinik und Praxis vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik im Mittelpunkt.

Material und Methoden Schlüssige Kriterien führten zu einer klaren Definition des Begriffs „Pionierin“. Die Rekonstruktion der Lebensläufe gelang durch die Analyse von umfangreichem Archivmaterial und Originalpublikationen. Mittels Auswertung relevanter Sekundärliteratur konnten die bioergografischen Vignetten in den Kontext der Zeit eingeordnet werden.

Ergebnisse Beide Nervenärztinnen begannen ihr Studium in den 1900er-Jahren, traten zur Weiterbildung in Universitäts- kliniken ein und waren viele Jahre als „Specialisten“ bzw.niedergelassene Fachärztinnen gemäß der Bremer Richtlinie von 1924 tätig. Beide publizierten wissenschaftliche Arbeiten, ohne aufgrund zeitgenössischer Hürden die Chance einer akademischen Karriere zu haben. Während Ulrich unverheiratet und kinderlos blieb, lebte Schmidt-Kraepelin die gesellschaftlich neue Doppelrolle von Hausfrau/Mutter und berufstätiger Medizinerin. Letztere war zudem als Assistenzärztin einer „Sammelanstalt“ in die NS-„Euthanasie“ involviert und wurde nach 1945 mit Vorwürfen konfrontiert.

Schlussfolgerungen Anschaulich dargestellte Lebensgeschichten bilden einen hervorragenden Zugang, um historische Sachverhalte wie Anfänge des Frauenstudiums, berufliche (Nicht-)Optionen von Nervenärztinnen und deren moralische Herausforderungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachvollziehbar zu machen. Weitere Fallstudien sind wünschenswert, um aktuelle Kontroversen in den Fächern Neurologie/Psychiatrie um eine historische Tiefendimension zu erweitern.

ABSTRACT

Objective Based on two exemplary biographies, this paper explores the professional careers and personal circumstances of women neurologists/psychiatrists between 1900 and 1950. Main topics are university admission for female students, research by women as well as their standing at a hospital or in a medical office.

Material and methods Consistent criteria made for a precise definition of the term “female pioneer”. The biographies were reconstructed by analyzing vast archival material and original publications.

Results Both neuropsychiatrists began their studies in the 1900 s, before they took up a specialty training at university hospitals. Later on they worked for many years as resident medical specialists. Both of them published scholarly papers but had no chance to launch an academic career due to contemporary barriers. Whereas Ulrich remained unmarried and childless Schmidt-Kraepelin lived the dual role of wife/mother and practicing physician. In her function as intern in a psychiatric institution she was involved in Nazi “euthanasia”, and had to face up to accusations after 1945.

Conclusion Biographies provide an excellent access to historical developments such as the beginnings of women’s studies, professional (non-)options of female neurologists/psychiatrists and their moral challenges in the first half of the 20th century. Further case studies will add historical depth to current controversies in neurology/psychiatry.



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Article published online:
14 December 2020

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