Ausnahmezustand: Pflichten, Recht und Ethik
Die aktuelle Pandemie stellt einen Ausnahmezustand dar und wirft nicht nur versorgungspraktische,
sondern auch rechtliche Fragen auf, die jenseits der juristischen Routine liegen.
Der Beitrag geht der Frage nach, welche rechtlichen Rahmenbedingungen für die Zuweisung
von Intensivkapazitäten bei Versorgungsengpässen gelten. Zudem versteht er sich auch
als Ergänzung und Kommentierung der aktuell (am 25. 03. 2020) vorgelegten klinisch-ethischen
Empfehlungen über die „Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und Intensivmedizin
im Kontext der COVID-19-Pandemie“ [1].
Behandlungspflicht
Behandlungspflichten betreffen Krankenhäuser und einzelne Ärzte.
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Im Rahmen der im Krankenhausplan vorgesehenen Versorgungsaufgaben haben Krankenhäuser
die Pflicht, alle zu versorgen, die nach Art und Schwere der Erkrankung ihre Leistungen
benötigen (z. B. § 2 Abs. 1 Krankenhausgestaltungsgesetz NRW).
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Im Verhältnis zum Patienten sind Krankenhäuser zum Abschluss eines Behandlungsvertrags
verpflichtet, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalls eine monopolartige Stellung
haben (sog. Kontrahierungszwang). Dies ist der Fall, wenn der Patient im Fall der
Ablehnung ärztlicher Behandlung ohne die rechtzeitige notwendige Hilfe bliebe [2].
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Für einzelne Ärzte ergibt sich eine berufsrechtliche Verpflichtung zur Behandlung
in Notfällen aus § 7 Abs. Satz 1 MBO-Ä.
Die genannten Bestimmungen gehen weit über die allgemeine strafrechtlich sanktionierte
Pflicht zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not gemäß § 323c
StGB hinaus.
Der Inhalt der Behandlungspflicht ergibt sich – soweit nichts anderes vereinbart ist
– aus dem zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen
Standard (§ 630a Abs. 2 BGB). Dazu zählt alles, was nach dem jeweiligen Stand der
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der ärztlichen Erfahrung zum Erreichen des
Behandlungsziels geeignet und erforderlich ist [3]. Dabei kann das Behandlungsziel bei fehlender Heilungsmöglichkeit auch die Lebensverlängerung
oder die reine Symptomkontrolle sein. Damit ist im Grundsatz von der Verpflichtung
auszugehen, dass jeder Patient, der nach allgemeinen Regeln einer ärztlichen Diagnostik
und/oder Therapie bedarf, gemäß den Standards zu versorgen ist – es sei denn, die
rechtzeitige Behandlung durch einen anderen, ebenso leistungsfähigen Versorger ist
gewährleistet.
Rechtfertigender Notstand und rechtfertigende Pflichtenkollision
Doch was bedeutet dieser Grundsatz, wenn der Versorgungsbedarf vieler Patienten die
verfügbaren Ressourcen übersteigt? Die rasche Ausbreitung des Coronavirus wird wahrscheinlich
dazu führen, dass die Zahl der intensivpflichtigen Patienten die Kapazitäten nicht
nur auf Ebene einzelner Krankenhäuser, sondern im gesamten Bereich der stationären
Versorgung übersteigt. In einer solchen Situation werden Entscheidungen notwendig,
die sehr konkret das Leben eines Menschen zugunsten des Lebens eines anderen opfern.
Welche Konsequenzen hat das für den Behandler?
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Bei gegebener Pflicht, beide zu behandeln, verwirklicht die Nichtbehandlung (konkret
etwa das Vorenthalten einer Beatmung, wenn sie den Tod des Patienten zur Folge hat)
den objektiven Tatbestand einer Tötung durch Unterlassen (§ 212 i. V. mit § 13 StGB).
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Sieht derjenige, der diese Entscheidung triff, den tödlichen Ausgang als sicher voraus
(sog. direkter Vorsatz) oder rechnet er zumindest damit und nimmt ihn billigend in
Kauf (sog. bedingter Vorsatz), ist auch der subjektive Tatbestand erfüllt.
Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) kommt nur in Betracht,
wenn die Abwägung der beteiligten Rechtsgüter zu einer klaren Handlungspriorität führt.
Konkret müsste das Interesse an der Rettung des einen das Interesse an der Rettung
des anderen „eindeutig überwiegen“. Eine solche (am Maßstab der Rechtsordnung auszurichtende)
Wertung lässt § 34 StGB nach allgemeiner Meinung aber nicht zu. Das menschliche Leben
genießt rechtlich höchsten Schutz und darf im Rahmen des rechtfertigenden Notstands
niemals zur Rettung anderer, auch gleichwertiger Interessen geopfert werden.
Nach der grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist es
daher sogar dem Gesetzgeber verboten, den Abschuss eines Flugzeugs, das von Terroristen
zum Angriff auf Menschen eingesetzt wird, zu erlauben, wenn in diesem Flugzeug auch
tatunbeteiligte Menschen sitzen (Urteil vom 15. 02. 2006, Az. 1 BvR 357/05. Im Internet:
https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2006/02/rs20060215_1bvr035705.html). Das BVerfG leitet dies aus der Unantastbarkeit der Menschenwürde ab.
Es ist wichtig zu erkennen, dass die vom BVerfG bewertete Notsituation eine andere
ist als diejenige, die sich aus dem Mangel von Intensivbetten ergibt. Wer auf den
Abschuss eines als Waffe eingesetzten Flugzeugs verzichtet, verletzt keine Handlungspflicht.
Der Arzt, der zur Behandlung zweier Patienten verpflichtet ist, aber nur einen behandeln
kann, befindet sich demgegenüber juristisch in einem Dilemma: Es ist offensichtlich
nicht möglich, dass er beide Rechtspflichten erfüllt. Da das Recht aber nichts Unmögliches
verlangen kann („Ultra posse nemo obligatur“), wurde für solche Fälle die rechtfertigende
Pflichtenkollision als übergesetzlicher Rechtfertigungsgrund entwickelt.
Rechtfertigende Pflichtenkollision bedeutet: Kollidieren 2 gleichwertige Handlungspflichten
miteinander, so ist die Vernachlässigung der einen rechtlich nicht zu beanstanden,
wenn die andere erfüllt wird.
Entsprechendes gilt, wenn mehr als 2 gleichwertige Handlungspflichten konkurrieren.
Das Recht verlangt, dass möglichst viele von ihnen erfüllt werden; wenn dies geschieht,
ist die Vernachlässigung der übrigen nicht rechtswidrig [4].
Dringlichkeit und Erfolgsaussichten der Behandlung
Was einleuchtend klingt, wirft in der praktischen Umsetzung erhebliche Schwierigkeiten
auf. Welche Gesichtspunkte müssen oder dürfen berücksichtigt werden, wenn die konkurrierenden
Handlungspflichten sich auf die Rettung verschiedener Menschenleben beziehen? Rechtsprechung
gibt es zu dieser Frage kaum, weil entsprechende Konstellationen die Gerichte bislang
nicht beschäftigt haben.
Prototypisch für eine Situation, in der knappe Behandlungsressourcen zu harter Rationierung
zwingen, ist der Massenanfall von Verletzten (MANV). Im „Leitfaden für die ärztliche
Versorgung im Katastrophenfall“ heißt es dazu: „Der Rang der Pflichten richtet sich
nach der Dringlichkeit der Behandlung, gemessen am Grad der Gefahr und an den Erfolgsaussichten
für den Patienten“ [5].
Von der Dringlichkeit der Behandlung kann im hier interessierenden Kontext der Zuteilung
intensivmedizinischer Ressourcen ausgegangen werden. Insoweit konsequent stellen auch
die jetzt veröffentlichen Empfehlungen das Kriterium der „Erfolgsaussichten“ in den
Vordergrund. Die Relevanz ergibt sich unmittelbar aus dem Gebot, mit den verfügbaren
Ressourcen möglichst viele Menschenleben zu retten – oder mit den Worten der Empfehlungen:
„möglichst vielen Patienten eine nutzbringende Teilhabe an der medizinischen Versorgung
unter Krisenbedingungen zu ermöglichen“ [1].
Medizinische Kriterien
Entscheidend für die Erfolgsaussichten der Behandlung von COVID-19-Patienten sind
laut den Empfehlungen die allgemeinen Kriterien
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Schweregrad der Erkrankung,
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Komorbiditäten und
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allgemeiner Gesundheitsstatus (Gebrechlichkeit, z. B. anhand Clinical Frailty Scale).
Eine aktuelle Arbeit von Zhou et al. über prognostisch relevante Faktoren speziell
bei COVID-19 nennt insbesondere
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höheres Alter (Odds Ratio 1,10 pro Lebensjahr),
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höherer SOFA-Score und
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erhöhte D-Dimer-Konzentration bei Aufnahme [6].
Utilitaristische Kriterien
Eine ethisch überaus herausfordernde Frage ist, ob neben rein medizinischen auch andere
Kriterien die Zuweisung von begrenzten Versorgungsressourcen beeinflussen dürfen.
Im Zusammenhang mit der Triage wird dies regelmäßig verneint [7] oder gar nicht erst thematisiert [5]. So knapp und apodiktisch diese Verbote im katastrophenmedizinischen Kontext geäußert
werden, so wenig selbstverständlich sind sie.
„Sozialer Beitrag“
In einer qualitativen Untersuchung zum Thema „Ärztliches Handeln bei Mittelknappheit“
wurden von den interviewten Ärzten
als praxisrelevante Priorisierungskriterien genannt [8]. Ein Befragter äußerte: „Ein Patient, der im sozialen Umfeld auch eine Aufgabe hat,
sollte sicherlich eine gewisse Bevorzugung genießen.“ In diesem Sinne wäre es sicher
gerechtfertigt, die verwitwete Mutter von 3 kleinen Kindern vorrangig gegenüber einer
anderen Person mit sonst gleichen Merkmalen zu behandeln. Besondere berufliche Verantwortung
könnte insbesondere dann beachtlich sein, wenn sie gerade im Hinblick auf die Bewältigung
der Notlage besteht.
Wenn etwa ein Arzt/Krankenpfleger und ein Angehöriger nichtmedizinischer Berufsgruppen
um ein Intensivbett „konkurrieren“, ist es unter utilitaristischem Gesichtspunkt sehr
plausibel, das medizinische Personal als systemrelevant zu bevorzugen [9].
Dergleichen wird allgemein gebilligt, wenn knapper Impfstoff zuzuteilen ist. Wenn
zukünftig ein Impfstoff gegen das SARS-CoV-2-Virus zur Verfügung steht, wird das nicht
anders sein.
Alter
Sehr diffizil ist die Frage, ob das Alter der Patienten die Priorisierung beeinflussen
darf. Zur Vermeidung von Missverständnissen: Die Berücksichtigung des Alters ist geboten,
insoweit es um die Abschätzung der Erfolgsaussichten geht. Hier geht es demgegenüber
um die Frage, ob die Rettung eines jüngeren Menschen gegenüber der Rettung eines Älteren
– bei gleichen Erfolgsaussichten – prinzipiell Priorität verdient. Aus utilitaristischer
Perspektive liegt es nahe, den jüngeren Patienten zu bevorzugen, da bei erfolgreicher
Behandlung mehr Lebenszeit gewonnen wird [9]. In der allgemeinen Debatte um Priorisierung in der Medizin wird darin allerdings
zum Teil eine kritische Altersdiskriminierung gesehen [10]
[11].
Explizit geht die Zentrale Ethikkommission (ZEK) davon aus, dass das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
(AGG), welches die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie umsetzt, eine Differenzierung
nach dem Alter ausschließt [12].
Dabei werden jedoch 2 Aspekte nicht hinreichend beachtet:
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Erstens verweist das AGG gerade im Hinblick auf Leistungen der Sozialversicherungen
auf das speziellere Benachteiligungsverbot des § 33c SGB I: Diese Regelung verbietet
Ungleichbehandlungen aus Gründen der Rasse, wegen der ethnischen Herkunft oder einer
Behinderung, nicht jedoch wegen Alters. § 33a SGB I geht umgekehrt sogar davon aus,
dass es „altersabhängige Rechte und Pflichten“ gibt.
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Zweitens verbietet auch das AGG Ungleichbehandlungen wegen Alters nicht absolut, sondern
erlaubt sie, wenn sie durch berufliche Anforderungen (§ 8 AGG) oder ein sonstiges
legitimes Ziel (§ 10 AGG) gerechtfertigt sind. Dies entspricht der allgemeinen Gleichbehandlungsdogmatik.
Damit stellt sich zunächst die Frage, ob Nutzenmaximierung in einem utilitaristischen
Sinne überhaupt ein legitimes Ziel sein darf im Rahmen der Priorisierung von Versorgungsaufgaben.
Dies ist trotz aller Zweifel, wie der Nutzen denn konkret zu bestimmen ist, im Grundsatz
anerkannt. Die Zentrale Ethikkommission stellt in Übereinstimmung mit den Prioritätenkommissionen
anderer Länder fest, dass unter der Bedingung insgesamt begrenzter Mittel die Kosteneffektivität
der verfügbaren Maßnahmen zu berücksichtigen ist [12]. Dabei soll die Größe des gesundheitlichen Effekts am Zugewinn an Lebenszeit und
Lebensqualität zu messen sein.
Laut ZEK ermöglicht das Vorenthalten von Leistungen mit besonders ungünstigem Kosten-Nutzen-Profil,
freiwerdende Ressourcen anderen Patienten mit einem größeren erwartbaren Nutzen zugutekommen
zu lassen.
Auch in der wissenschaftlichen Literatur wird festgestellt, dass eine Differenzierung
nach Alter nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist [13].
Lebenswertindifferenz
Aber gilt letzter Satz auch dann, wenn Entscheidungen über Leben und Tod anstehen?
Scharf formuliert impliziert die Bevorzugung Jüngerer bei der Vergabe von Intensivbetten,
dass man das Leben der Älteren als „weniger erhaltenswert“ beurteilt [10]. Dies gerät in Konflikt zum Prinzip der Lebenswertindifferenz.
Prinzip der Lebenswertindifferenz
Es besagt mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Jedes menschliche Leben ist
gleich wertvoll und kann deswegen keiner irgendwie gearteten unterschiedlichen Bewertung
oder gar zahlenmäßigen Abwägung unterworfen werden.“ (Urteil vom 25. 02. 1975, Az.
1 BvF 1/74, 1 BvF 2/74, 1 BvF 3/74, u. a.).
Demnach ist jeder hoheitliche Akt (in Form eines Gesetzes, einer Einzelverfügung oder
als Anwendung unmittelbaren Zwangs), der bestimmte Personen oder Personengruppen von
lebenserhaltenden Leistungen ausschließt und dies mit dem geringeren Nutzen des Lebenserhalts
begründet, verfassungswidrig. Dies würde auch die Bevorzugung jüngerer Menschen oder
von Menschen mit besonderer sozialer Verantwortung verbieten.
Bindung der ärztlichen Tätigkeit an das Prinzip der Lebenswertindifferenz?
Nun üben Ärzte, die über die Zuweisung von Intensivbetten entscheiden, allerdings
keine hoheitlichen Funktionen aus. Sie sind zunächst Rechtsunterworfene, deren Handeln
den allgemeinen straf- und zivilrechtlichen Grenzen unterliegt. Nach den allgemeinen
Regeln der rechtfertigenden Pflichtenkollision dürften sie sich sogar von höchst unethischen
Motiven leiten lassen, wenn sie sich für die eine oder andere der kollidierenden Handlungspflichten
entscheiden.
Horribile dictu: Der Rassist, der an eine Unfallstelle kommt, auf 2 Schwerverletzte
unterschiedlicher Ethnizität trifft, von denen er nur einen retten kann, darf sich
aus Gesinnungsgründen für den hellhäutigen entscheiden und den Tod des anderen gutheißen
[14]. Der Grund dafür ist, dass die Motivation ein Internum ist, dessen Kausalität nach
außen hin nicht erkennbar wird. Seine rechtliche Ächtung würde dem Grundsatz widersprechen,
dass unser Strafrecht kein Gesinnungsunrecht kennt.
Auf professionell handelnde Ärzte ist diese Argumentation nicht ohne Weiteres übertragbar.
Ihre besondere Vertrauensstellung gegenüber Patienten und der Gesellschaft gebietet,
dass sie ihre Handlungsmaximen offenlegen. Übergeordneter Maßstab ihrer Berufsausübung
sind ihr Gewissen, die Gebote der ärztlichen Ethik und der Menschlichkeit (§ 2 Abs. 1
MBO-Ä 1997).
Ein medizinisch-ethischer Konsens, der das Verhältnis des Prinzips der Lebenswertindifferenz
zu utilitaristischen Prinzipien in einer Notsituation wie der Corona-Pandemie klärt,
ist in der facettenreichen Literatur nicht erkennbar. Dieser Konsens müsste Antworten
für 2 Konstellationen geben:
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Dürfen bei der Zuweisung lebensrettender Ressourcen die soziale Funktion und/oder
das Lebensalter der Patienten den Ausschlag geben, wenn sich aus medizinischen Gründen
(Dringlichkeit/Erfolgsaussichten) keine Priorisierung ergibt?
– Mit anderen Worten: Sind utilitaristische Kriterien als (im Verhältnis zu medizinischen)
nachrangige Kriterien bei Priorisierungsentscheidungen zulässig?
Wenn dies bejaht wird:
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Dürfen bei der Zuweisung lebensrettender Ressourcen die soziale Funktion und/oder
das Lebensalter der Patienten in der Weise berücksichtigt werden, dass sie eine ausschließlich
an medizinischen Kriterien (Dringlichkeit/Erfolgsaussichten) orientierte Allokation
umlenken können?
– Mit anderen Worten: Dürfen utilitaristische Kriterien gleichberechtigt neben rein
medizinischen Kriterien beachtet werden?
Die jüngst vorgelegten Empfehlungen zur Ressourcenzuteilung äußern sich zu diesen
Fragen zurückhaltend.
Sie erklären – unter Verzicht auf die hier vorgeschlagene Differenzierung (Fragen
1 und 2) – eine Priorisierung „allein aufgrund des kalendarischen Alters oder aufgrund sozialer Kriterien“ (Hervorhebung
im Original) für unzulässig [1]. Da die Erfolgsaussichten der Therapie aber jedenfalls zentrales Priorisierungskriterium
sind, drückt der Wortlaut der Formulierung im engeren Sinne nur eine Selbstverständlichkeit
aus. Eine für die Praxis hilfreiche Bedeutung hätte nur der positive Umkehrschluss,
nämlich dass die genannten Kriterien berücksichtigt werden können. Der Verzicht auf
eine entsprechende Aussage ist angesichts ihrer sozialen Sprengkraft nachvollziehbar.
Es ist jedoch unübersehbar, dass diese Zurückhaltung der Forderung nach „transparente(n),
medizinisch und ethisch gut begründete(n) Kriterien für die […] notwendige Priorisierung“
[1] nicht gerecht wird. Die Tragik des Dilemmas bleibt.
Therapieabbruch oder -einschränkung aus Gründen der Priorisierung?
In der zu erwartenden Krise wird sich auch die Frage stellen, ob eine bereits initiierte
Therapie bei bestimmten Patienten abgebrochen werden darf, um andere behandeln zu
können. Diese Situation wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur anders beurteilt
als die Situation, in der über die Zuweisung freier Behandlungskapazitäten zu entscheiden
ist. Die herrschende (aber nicht unbestrittene) Meinung privilegiert denjenigen, der
bereits behandelt wird. Damit wird das Vertrauen der Patienten und ihrer Angehörigen
geschützt, dass eine eingeleitete Therapie (der Status quo) fortgesetzt wird. Wann
die Privilegierung bereits eingeleiteter Rettungsmaßnahmen endet, wird im rechtswissenschaftlichen
Schrifttum unterschiedlich beurteilt. Zum Teil wird angenommen,
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dass dies bereits dann der Fall ist, wenn die Kapazität für jemanden benötigt wird,
dessen Überlebensaussichten besser sind [14],
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nach anderer Meinung erst dann, wenn die Fortführung der bereits eingeleiteten Behandlung
„absolut aussichtslos“ ist [15].
Fazit
Trotz der aktuellen klinisch-ethischen Empfehlungen bleiben Ärzte bei wichtigen Fragen
der Priorisierung im Kontext der COVID-19-Pandemie auf sich gestellt. Angemessene
Antwort des Rechts auf diese emotional belastende Unsicherheit ist die Zubilligung
eines Ermessenspielraums, der nach Maßgabe des Gewissens auch die Anwendung nicht
ausschließlich medizinischer Kriterien erlaubt. Eine Vertiefung des ethischen Diskurses
mit Fokus auf die hier skizzierten offenen Fragen ist für alle Beteiligten dringend
wünschenswert.
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Ein Arzt, der bei Vergabe knapper Intensivbetten ausschließlich die Erfolgsaussichten
der Behandlung berücksichtigt, handelt rechtmäßig.
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Ein Arzt, der zusätzlich – ob gleichberechtigt oder nachrangig – Lebensalter oder
soziale Verantwortung eines Patienten berücksichtigt, handelt in der gegebenen Ausnahmesituation
ebenfalls rechtmäßig, sofern er in Übereinstimmung mit § 2 Abs. 1 MBO-Ä 1997 hierfür
nachvollziehbare Gewissensgründe geltend machen kann.
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Größte Zurückhaltung ist aus Rechtsgründen geboten, wenn eine bereits initiierte Therapie
zugunsten eines anderen beendet werden soll.
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Im Übrigen gilt, dass ein Arzt, der – in der unübersichtlichen Rechtslage – unvermeidbar
annimmt, in Übereinstimmung mit dem Recht zu handeln, wegen fehlenden Verschuldens
nicht bestraft wird (Verbotsirrtum i. S. d. § 17 StGB).