Der Arzt und Philosoph Karl Jaspers (1883 – 1969) ([Abb. 1]) war 86, als er starb. Er erreichte ein Alter, mit dem er selbst am wenigsten gerechnet
hatte. Seit seiner Kindheit an Bronchiektasen leidend, ging er, nachdem die Krankheit
diagnostiziert worden war, von einer weit geringeren Lebenserwartung aus [1]. Lange glaubte er, lediglich 30, höchstens 40 Jahre alt zu werden. Dass er mit der
Zeit die Krankheit in den Griff bekam, änderte an seiner skeptischen Grundhaltung
wenig. Trotz allmählicher Stabilisierung bestanden die krankheitsbedingten Einschränkungen
unvermindert fort. Treppensteigen, längeres Stehen, selbst einfache Fußwege führten
zu Kurzatmigkeit und Erschöpfung. Sprechen bei Wind oder Aufenthalt an zugigen Orten
waren gefährlich. Größere Reisen, aber auch die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben
mussten sorgfältig geplant werden. Darüber hinaus wurde Jaspers durch die äußeren
Umstände, etwa die in der Folge zweier Weltkriege auftretenden Versorgungsengpässe,
immer wieder an die grundsätzliche Gefährdung seines Daseins erinnert. Auch psychische
Belastungen gingen nicht spurlos an ihm vorüber. Als Gertrud Jaspers (1879 – 1974),
seine jüdische Frau, am Ende der NS-Herrschaft zunehmend von einer Deportation bedroht
war und mehrmals versteckt werden musste [2], verschlechterte sich sein Gesundheitszustand erheblich.
Abb. 1 Karl Jaspers auf Norderney, 1930 (Foto: Deutsches Literaturarchiv Marbach).
Vor diesem Hintergrund ist umso beachtlicher, was Jaspers in seinem langen Leben geleistet
hat. Obwohl er täglich nur wenige Stunden konzentriert arbeiten konnte, schuf er ein
umfangreiches medizinisches und philosophisches Werk. Seine Publikationstätigkeit
erstreckte sich über 6 Jahrzehnte, von der Dissertation Heimweh und Verbrechen (1909) [3] bis zu dem Interviewband Provokationen (1969) [4], und umfasst, Neubearbeitungen, Wiederauflagen und Übersetzungen mit eingerechnet,
mehrere Tausend Titel [5]. Obwohl die Allgemeine Psychopathologie
[6], mit der er sich 1913 an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg
für Psychologie habilitiert hatte, seinen Abschied von der Medizin bedeutete, vertiefte
er sich von Sommer 1941 bis Sommer 1942 noch einmal in die seit damals zu diesem Themenkomplex
erschienene wissenschaftliche Literatur, um das Werk für eine 4. Auflage auf den neuesten
Stand der Forschung zu bringen. Als es 1946 erscheinen konnte, war es fast dreimal
so umfangreich wie die Erstausgabe.
Kraftakte wie dieser wurden möglich, weil Jaspers 1937 wegen seiner Ehe mit einer
Jüdin in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden war. Von allen Lehrverpflichtungen
entbunden, hatte er Zeit zu schreiben. Neben der Neubearbeitung der Allgemeinen Psychopathologie entstanden in diesen Jahren noch 2 weitere stattliche Werke: Von der Wahrheit, der erste, über 1000 Seiten umfassende Band einer Philosophischen Logik
[7], sowie Grundsätze des Philosophierens, eine gut 550 Seiten umfassende Schrift, die Jaspers allerdings nicht veröffentlichte
und die erst Jahrzehnte später aus dem Nachlass publiziert worden ist [8]. Durch den verordneten Rückzug ins Private verbesserte sich zunächst auch sein Gesundheitszustand;
nicht mehr zur studentischen Jugend sprechen zu können, schmerzte ihn zwar, brachte
ihm aber auch körperliche Schonung. Es spricht für Jaspers, dass er diese lange ungefährdete,
zuletzt glücklich überstandene Auszeit nicht einfach als gegeben nahm, sondern daraus
eine Aufgabe für die Zukunft ableitete. Nach der Befreiung von der NS-Diktatur setzte
er sich mit ganzer Kraft für die Neugründung der Universität Heidelberg sowie die
Aufarbeitung der unmittelbaren deutschen Vergangenheit ein. Aus seiner Vorlesung „Die
geistige Situation in Deutschland“ ging die Schrift Die Schuldfrage
[9] hervor. Als er 1948 einen Ruf nach Basel annahm und Deutschland verließ, bedeutete
das nur einen vorübergehenden Rückzug aus der Öffentlichkeit. Seit 1958, als er den
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt [10], äußerte er sich vermehrt und mit zunehmender Leidenschaft zu Fragen der deutschen
Politik [11]
[12]. Als politischer Schriftsteller und öffentlicher, in Rundfunk und Fernsehen präsenter
Intellektueller sprach er unbequeme Tatsachen aus und nahm dafür in Kauf, jahrelang
mit persönlichen Anfeindungen überhäuft zu werden [13]. Dieses Engagement des letzten Lebensjahrzehnts war der Krankheit regelrecht abgerungen.
So sehr ein hohes Lebensalter menschlichem Wollen und Planen entzogen ist, zumal bei
chronischer Krankheit, so wichtig sind doch bestimmte Faktoren, die es begünstigen.
In dieser Hinsicht war Jaspers reich gesegnet. Er hatte das Glück, in eine wohlhabende
großbürgerliche Familie geboren zu werden, die ihn bis zu seiner Verbeamtung 1920
und darüber hinaus mit einer jährlichen Leibrente finanziell unterstützte. Außerdem
war es ihm vergönnt, an den richtigen Arzt zu geraten. Über familiäre Kontakte lernte
er 1901 Albert Fraenkel [14] kennen, eine Begegnung, die für sein Leben entscheidend wurde. Fraenkel war es,
der die Krankheit diagnostizierte und die notwendigen Schritte zur Behandlung einleitete
[1]. Schließlich fand Jaspers in Gertrud Mayer [15] eine Frau, die ihn zeitlebens umsorgte, ihn bei der Arbeit unterstützte, indem sie
seine Manuskripte abtippte, und, wenn es sein musste, ihn vor Besuchern abschirmte.
Alle diese günstigen Faktoren wären jedoch wirkungslos verpufft, hätte Jaspers nicht
ein Leben lang strenge Selbstdisziplin geübt. Bevor wir seinen Umgang mit der Krankheit
genauer in den Blick nehmen, sei das Krankheitsbild Bronchiektasen differenzialdiagnostisch
präzisiert.
Bronchiektasen: Eine Differenzialdiagnose aus heutiger Sicht
Bronchiektasen: Eine Differenzialdiagnose aus heutiger Sicht
Bereits in der Kindheit litt Jaspers vermehrt an bronchopulmonalen Infektionen, die
seine körperliche Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigten und immer wieder zu
Therapieepisoden führten. Es wurden im Verlauf radiologisch Bronchiektasen diagnostiziert
und als angeborene Bronchiektasen klassifiziert [1].
Unter Bronchiektasen versteht man eine krankhafte Erweiterung der Bronchien. Die dauerhafte
Aussackung führt dazu, dass der Selbstreinigungsmechanismus der Lunge in diesen Arealen
eingeschränkt ist, es kommt zur Mukusretention [16]. Da der nicht abfließende Schleim einen idealen Nährboden für Krankheitserreger
bildet, finden wiederholt Infektionen statt. Die rezidivierenden Entzündungen führen
zur erneuten Schädigung der Bronchialwände, die Bronchiektasie weitet sich aus. Dieser
unumkehrbare Prozess kann nur bei konsequentem Sekretmanagement stabil gehalten werden
[16].
Hauptsymptom sind Mengen schleimigen Auswurfs. Kommt es zur Infektion, spricht man
von einer sog. 3-Schichtigkeit des Sputums (schaumige Oberschicht, mittlere Schleimschicht
und zäher, eher eitriger Bodensatz).
Die Ursachen der Bronchiektasen sind mannigfach, man unterscheidet angeborene und
erworbene Krankheitsursachen [17]. Häufigste erworbene Ursache, insbesondere unter Berücksichtigung der Situation
im beginnenden 20. Jahrhundert, sind wiederkehrende Infekte in der Kindheit, die dann
über die Entzündung zu einer Bronchialwandzerstörung führen. Dagegen ist die häufigste
angeborene Ursache nach wie vor die Mukoviszidose, eine Erberkrankung, bei der der
zähe Schleim für die Bildung der Bronchiektasen verantwortlich ist. Auch beim Alpha-1-Antitrypsinmangelsyndrom,
ebenfalls eine Generkrankung, kommt es zu Bronchiektasenbildung. Darüber hinaus gibt
es sehr seltene angeborene Ursachen wie die Hypogammaglobulinämie, das primäre Ziliendyskinesie-Syndrom,
das Young-Syndrom und das Yellow-Nail-Syndrom. Ebenso kann es auch bei interstitiellen
Lungenerkrankungen zur Ausbildung von Bronchiektasen kommen.
Betrachtet man nun die Differenzialdiagnose der Bronchiektasenerkrankung bei Jaspers,
können einige Ursachen ausgeschlossen werden. Mykobakterien, die zur Tuberkulose („Schwindsucht“)
führen, gelten als unwahrscheinlich, da diese Erkrankung damals nur mit langen Liegekuren
zu behandeln war. Auch seltene Pilzerkrankungen, die durch Reisen z. B. nach Südafrika
oder in asiatische Länder hervorgerufen werden, sind eher nicht anzunehmen, denn Jaspers
hat Europa nie verlassen. Des Weiteren gilt als Ursache für die Bronchiektasie eine
sog. allergische pulmonale Aspergillose. Hierzu muss ein Asthma bronchiale begleitend
bestehen. In der ganzen Krankengeschichte von Jaspers findet sich jedoch kein Hinweis
auf ein Asthma, sodass auch diese Differenzialdiagnose als sehr unwahrscheinlich gilt.
Eigentliche Lungenerkrankungen als Ursachen können weitgehend ausgeschlossen werden,
da die Erkrankung schon in frühester Kindheit aufgetreten ist. Bronchialtumore, interstitielle
Lungenerkrankungen oder Systemerkrankungen im Sinne einer Kollagenose sind klinisch
sehr unwahrscheinlich, hier spricht Jaspers’ hohes Lebensalter dagegen. Betrachtet
man die kongenitalen Symptome, ist ein Alpha-1-Antitrypsinmangel auszuschließen, da
es für diese Erkrankung im damaligen Zeitalter keine effektive Therapie gab und betroffene
Patienten nie ein Lebensalter erreicht hätten, wie es Karl Jaspers erreicht hat. Ebenso
kann die Mukoviszidose aus den gleichen Gründen ausgeschlossen werden. Seltene Syndrome
wie das Young-Syndrom gehen mit der Beteiligung der Nasennebenhöhlen einher, die in
der Krankengeschichte von Jaspers nicht beschrieben wird. Auch ein Yellow-Nail-Syndrom,
welches mit einem Lymphödem, Pleuraergüssen und dystrophischen, gelb verfärbten Fingernägeln
einhergeht, muss von der Krankengeschichte her als eher unwahrscheinlich gelten.
Bleiben 2 sehr seltene angeborene Syndrome, zum einen die Hypogammaglobulinämie, eine
Erkrankung, die mit einem Antikörpermangel einhergeht und als häufige Immundefekterkrankung
gilt. Hier treten erst im Verlauf der Erkrankung Bronchiektasen auf, und es kommt
auch immer wieder zu Infektionen im Magen-Darm-Trakt. Da bereits aus der Kindheit
Bronchiektasen bekannt sind und in Jaspers’ Krankengeschichte nie regelmäßige Magenbeschwerden
beschrieben werden, muss auch dieses Krankheitsbild als eher unwahrscheinlich angesehen
werden.
Es bleibt somit das primäre Ziliendyskinesie-Syndrom (PCD). Bei dem Ziliendyskinesie-Syndrom
kommt es zur Funktionseinschränkung der zilientragenden Zellen, was zu einer deutlichen
Reduktion der mukoziliären Clearance führt. Die Dyskinesie beruht in den meisten Fällen
auf einer fehlenden Untereinheit des Motorproteins Dynein [18]. Die meisten Defekte, die zu diesen Veränderungen führen, sind autosomal-rezessiv
vererbt. Bei männlichen Patienten besteht neben Bronchiektasen auch eine Infertilität.
Heutzutage wird die Erkrankung durch elektromikroskopische Untersuchung von Bürstenabstrichen
oder Biopsien der betroffenen Schleimhäute nachgewiesen, die zu Jaspers’ Zeit nicht
zur Verfügung standen. Nach wie vor ist eine kausale Therapie nicht möglich, die Krankheitsmanifestation
wird symptomatisch behandelt. Da dies in der Regel die Atemwege sind, bedarf es hier
einer konsequenten Lebensweise sowie regelmäßiger atemphysikalischer Maßnahmen. Als
Sonderform des primären Ziliendyskinesie-Dysfunktionssyndroms kann es zum Kartagener-Syndrom
kommen, bei dem zusätzlich ein Situs inversus besteht. Da die zur Verfügung stehenden
beschreibenden Röntgenbilder dies nicht aufweisen, ist am ehesten davon auszugehen,
dass Jaspers an einem primären Ziliendyskinesie-Dysfunktionssyndrom litt und die Erkrankung
auch mit hoher Selbstdisziplin stabil hielt.
Dieser Befund wird dadurch erhärtet, dass die 1910 geschlossene Ehe zwischen Karl
und Gertrud Jaspers kinderlos blieb. Der damals vorherrschenden Denkweise entsprechend,
wurde die Ursache für die Kinderlosigkeit primär bei Gertrud Jaspers gesucht, zumal
man 1912 bei ihr Myome entdeckte. Nach langer Diskussion entschied sich das Paar für
die risikoreichere operative Entfernung. Die alternative Bestrahlung wurde zwar diskutiert,
wegen der daraus resultierenden Unfruchtbarkeit jedoch verworfen. Obwohl die Operation
komplikationslos erfolgte, blieb der Kinderwunsch des Paars weiterhin unerfüllt. Auf
die Idee, dass die Kinderlosigkeit auf die Grunderkrankung des Mannes zurückzuführen
sein könnte, kam man damals nicht.
Mit der Krankheit leben
Als Fraenkel 1901 die Diagnose stellte, ergaben sich für Jaspers 3 Grundsätze der
Behandlung: „Regelmäßig expektorieren, Erkältungen vermeiden, das Herz nicht überanstrengen“
([1], S. 121). Darunter war der erstgenannte Grundsatz bei weitem der wichtigste. Weil
der nicht abfließende Schleim die Infektionsgefahr erhöhte, kam es darauf an, für
eine rechtzeitige Entleerung der Bronchien zu sorgen, und das mehrmals täglich, in
kritischen Phasen sogar stündlich. Jaspers durfte nicht warten, bis sich so viel Schleim
angesammelt hatte, dass die Bronchien von sich aus, etwa durch Hustenreiz, zu einer
Absonderung drängten. Doch die rechtzeitige Entleerung war nicht einfach, sie erforderte
eine aktiv herbeigeführte, methodisch geleitete Expektoration, um die sich Jaspers
seit seiner Studienzeit bemühte. Dass sie ihm erst 1924 gelang und seitdem zu einer
kontinuierlich geübten Praxis wurde, lag nicht zuletzt an einer Veränderung der Wohnsituation.
Ende 1919 wurde Jaspers zum etatmäßigen Extraordinarius für Philosophie der Universität
Heidelberg berufen und mit Wirkung auf den 1. April 1920 verbeamtet. Mit dieser finanziellen
Absicherung stieg allerdings auch sein Lehrdeputat. Das stellte für ihn, den längeres
Sprechen anstrengte, eine erhöhte körperliche Belastung dar, zumal er durch die allgemeine
Not der Nachkriegszeit zusätzlich geschwächt war und seine Erkrankung kaum verbergen
konnte. So schrieb er am 11. Dezember 1919 voller Dankbarkeit, aber auch in großer
Ungewissheit den Eltern: „Ihr werdet wie ich bei solcher Gelegenheit Euch zurückrufen,
wie wenig ich im Leben zu hoffen hatte, wie viel Sorgen Ihr um mich gehabt habt, und
dass ich als geldverdienender Beamter überhaupt nicht in Frage kam. Dass ich krank
bin und wie sehr ich es bin, ist gottseidank nicht recht bekannt. […] Ich werde weiter
nach aussen als Gesunder auftreten, wenn es auch immer schwerer wird, da ich nun alle
halbe Stunde husten muss. Das Leben wird streng eingeteilt und geregelt werden müssen,
damit ich die nun täglichen Vorlesungen aushalte. Aber ich freue mich darauf. Denn
es ist schön, wenn man sich etwas abzwingen kann“ [19]. Täglich musste Jaspers zwar nicht lesen, aber öfter als bisher schon. Da er, um
eine Stunde unbeschwert sprechen zu können, vor jeder Vorlesung seine Bronchien entleeren
musste, sah er sich gezwungen, regelmäßiger, aber auch gründlicher zu expektorieren.
Dadurch nahm die Krankheit noch mehr Raum in seinem Leben ein. Als zunehmend problematisch
erwies sich nun auch der weite Weg von der Handschuhsheimer Landstraße 38, wo er seit
1913 wohnte, zur Universität in der Altstadt auf der anderen Neckarseite. Obwohl er
die Straßenbahn benutzte, die damals noch durch die Hauptstraße fuhr [20], war die zeitliche Differenz zwischen Expektoration und Vorlesung relativ groß,
was den gewünschten Effekt minderte. Auf die Dauer war diese Situation unhaltbar.
Eine spürbare Verbesserung trat ein, als Jaspers im Januar 1923, wenige Monate nach
seiner Berufung zum Ordinarius, eine Wohnung in der Plöck 66 bezog. Die unmittelbare
Nähe zur Universität spielte bei dieser Wahl eine entscheidende Rolle. Jaspers war
nun nicht mehr auf die Straßenbahn angewiesen, in der er unter Umständen keinen Sitzplatz
fand oder, besonders im Winter, immer Gefahr lief, sich anzustecken. Auch die Sorge,
die Straßenbahn könnte angesichts des rapiden Wertverfalls des Geldes durch die Inflation
ihren Dienst einstellen ([21], S. 39), war damit vom Tisch. Zwar blieb die allgemeine Situation weiterhin besorgniserregend,
doch gesundheitlich standen die Zeichen gut. Die neue Wohnung gab Anlass zur Hoffnung.
Am 10. Januar, der Umzug war schon in vollem Gang, schrieb Jaspers den Eltern: „Wenn
ich daran denke, dass wir wirklich in der schönen Plöckwohnung um die Ecke an der
Universität wohnen, habe ich das Gefühl, halb gesund zu werden.“ Und eine Woche später,
am 17. Januar, der Umzug war gerade abgeschlossen, bekräftigte er noch einmal: „Ich
bin sehr befriedigt in dem Gefühl, nun die Universität um die Ecke zu haben. Es ist, als ob
ich gesünder und leistungsfähiger geworden sei. Was wir alle noch für ein Schicksal
erfahren, wissen wir nicht. Solange die Universität besteht und ich überhaupt lesen
kann, wird mir durch räumliche Entfernung kein Hindernis mehr in den Weg gelegt“ [19].
Die neue Wohnsituation bewirkte eine nachhaltige Entspannung des Alltags. Durch die
unmittelbare Nähe zur Universität konnte Jaspers ohne Zeitdruck expektorieren, ein
Faktor, der für die Ausbildung der richtigen Methode wesentlich wurde: „Die Prozedur
erfordert Ruhe. Jede Eile, seelische Okkupiertheit, Spannung […] verhindern die Sekretion.
Es ist dann, als ob kein Sekret da wäre. Bei jeder Erregung tritt Sekretarmut ein,
wie etwa der trockene Hals bei Affekten“ ([1], S. 122). Seine Vorlesungen empfand Jaspers nun als weniger anstrengend. Zur Erleichterung
trug nicht zuletzt auch das Bewusstsein bei, nach der Veranstaltung gleich zu Hause
zu sein, während er bisher im Dozentenzimmer ausruhen musste, bevor er den langen
Heimweg antreten konnte.
Doch nicht nur die unmittelbare Nähe zur Universität, auch die Wohnung selbst hatte
ihren Anteil daran, dass sich Jaspers’ Zustand allmählich stabilisierte. Zu ihr gehörten
2 Mansardenzimmer, das eine für Gäste, das andere für das Hausmädchen. Die bisherige
Wohnung in der Handschuhsheimer Landstraße hatte dagegen nur ein Mansardenzimmer besessen,
das überdies nicht dauerhaft genutzt werden durfte. Baupolizeiliche Bestimmungen sahen
lediglich eine vorübergehende Nutzung als Gästezimmer vor, weshalb das Hausmädchen
auf der Etage mitwohnte. Was die räumliche Trennung hygienisch bedeutete, wurde Jaspers
bewusst, als das Hausmädchen wenige Wochen nach dem Umzug in die Plöck erkrankte.
„Heute morgen legte sich Maria mit Grippe zu Bett. Sie liegt gut in der schönen Mansarde.
Hier ist die Ansteckungsgefahr viel geringer als in der früheren Wohnung“, teilte
Jaspers am 11. Februar seinen Eltern mit [19]. Kein Wunder also, dass er hier bis zu seinem Umzug nach Basel wohnen blieb, insgesamt
25 Jahre.
Krankheit und Philosophie
Krankheit und Philosophie
Jaspers hat es lange vermieden, zwischen seiner Krankheit und seiner Philosophie einen
Zusammenhang herzustellen. Die 1938 verfasste „Krankheitsgeschichte“ [1] hielt er 3 Jahrzehnte zurück. In dem Aufsatz „Über meine Philosophie“ [22], 1941 für die italienische Ausgabe der Zeitschrift Logos geschrieben, wurde die Krankheit mit keinem Wort erwähnt, in dem 1951 gesendeten
Radiovortrag „Mein Weg zur Philosophie“ [23] wurde sie in beiläufigen Formulierungen wie „mangelnde Kraft des nie gesunden Körpers“
oder „ständige Anfälligkeit meines körperlichen Daseins“ zumindest angedeutet ([23], S. 324 u. 325). Erst die „Philosophische Autobiographie“ [24], 1953 entstanden und 1957 publiziert, stellte bewusst einen Zusammenhang her ([24], S. 4 – 5).
Das heißt freilich nicht, dass die Krankheit in Jaspers’ Philosophie keinen Niederschlag
gefunden hätte. Ganz im Gegenteil: Das Leben mit der Krankheit und seine Stabilisierung
durch die verbesserte Wohnsituation seit 1923 spiegelt sich im veränderten Stellenwert,
den Jaspers dem Begriff des Leidens gab.
In der Psychologie der Weltanschauungen von 1919 [25], jenem Buch, dem er letztlich seine Ernennung zum etatmäßigen Extraordinarius für
Philosophie verdankte, unterschied Jaspers verschiedene Grenzsituationen des menschlichen
Daseins wie Kampf, Tod, Zufall oder Schuld und sah deren Gemeinsamkeit darin, dass
sie Leiden bedingen ([25], S. 235 – 263). Das Leiden ist etwas Letztes und dem Menschen Wesenhaftes. Es betrifft
nicht nur den Kranken, sondern auch den Gesunden, denn unter der Unbarmherzigkeit
des Daseinskampfes, der Angst vor dem Tod, der Sinnlosigkeit des Zufalls und der Unausweichlichkeit
der Daseinsschuld leiden beide. Während aber der Gesunde dieses existenzielle Leiden
erfolgreich verdrängt, ist es dem Kranken, der durch seine Krankheit täglich daran
erinnert wird, viel stärker gegenwärtig. Jaspers war es so präsent, dass es ihm persönlich
zur Grundstimmung seines Lebens, philosophisch zur Grundsituation des Menschen wurde.
In der dreibändigen Philosophie von 1932 [26], seinem Hauptwerk, an dem er von 1924 bis 1931 gearbeitet hatte, machte Jaspers
die Grenzsituationen erneut zum Thema. Wieder griff er einzelne davon heraus, sprach
von Kampf, Tod, Zufall und Schuld, doch diesmal zählte er auch das Leiden dazu ([26], Bd. 2, S. 230 – 233). Das Leiden war nun nicht mehr das Gemeinsame aller Grenzsituationen,
sondern lediglich eine Grenzsituation unter anderen. Es trat in den Hintergrund und
hörte auf, Grundstimmung seines Lebens bzw. Grundsituation des Menschen zu sein. Die
an den Umzug in die Plöck geknüpften Hoffnungen hatten sich offenbar erfüllt. Jaspers
war tatsächlich „gesünder und leistungsfähiger“ geworden – die Zurückstufung des Leidens
belegt das eindrucksvoll.