manuelletherapie 2020; 24(02): 49
DOI: 10.1055/a-1106-7719
Editorial

Nicht im Blick!

Sebastian Klien

Der Schultergürtel weist durch seine anatomische Lage eine große Flexibilität auf, um den großen Bewegungsradius der Arme zu ermöglichen. Dennoch muss genügend Stabilität vorhanden sein, damit wir Gewichte tragen oder unseren Körper stützen können. Diese ambivalente Fähigkeit hat die Natur mit dem skapulothorakalen Gelenk patent gelöst. Durch seine exponierte Lage und seine muskuläre Sicherung ist es aber anfällig für Veränderungen der „muskulären Rekrutierungen“, die durch evolutionäre Veränderungen der Menschen bedingte einseitige Bewegungsabläufe oder -reduktionen mit sich bringen.

Erschwerend kommt hinzu, dass wir von Natur aus unsere eigenen Schulterblätter nur schwer sehen können: Wir haben sie nicht im Blick! Das führt dazu, dass Patienten häufig erstaunt sind, wenn wir mittels Videodarstellung aufzeigen, welche „ungewöhnlichen“ Bahnen ihre Schulterblätter bei simplen Armbewegungen schon ohne Gewicht ziehen.

In der klinischen Untersuchung zeigen sich zahlreiche Variationen: Von „starker Auffälligkeit“ bis hin zu „dezent versteckt“. Wir müssen also genau hinsehen, um ein mögliche Abweichung von der „Norm“ zu identifizieren. Das macht eine Einschätzung als „therapierelevanten Befund“ nicht immer leicht. Somit stellt die Beurteilung einer „korrekten“ Schulterblattbewegung uns Therapeuten vor eine anspruchsvolle Aufgabe, die Fragen aufwirft: Gibt es nur eine „richtige“ Bewegung? Gibt es die „richtige Ruheposition“ und wie ist eine Skapuladyskinesie im Zusammenhang mit Nackenbeschwerden einzuschätzen? Ist das HWS-Problem Folge oder Ursache?

Wenn wir dann meinen, im auffälligen Bewegungsablauf einen beitragenden Faktor für das Patientenproblem identifiziert zu haben, können wir eine bessere Bewegungskontrolle vermitteln. Das wiederum geht am besten mit Biofeedback. Dies stellt jedoch eine weitere Herausforderung dar, da wir aufgrund der anatomischen Lage nur eine schlechte bis keine optische Kontrolle haben. Wir haben sie ja nicht im Blick!

Erfahren Sie in diesem Heft von drei Experten auf diesem Gebiet, was Skapuladyskinesie meint und wieso eine Bewegungsveränderung kein „einfacher“ Schritt ist. Lassen Sie sich von Beate Stindt erläutern, was sie unter dem Begriff „Bewegungsgesundheit“ versteht. Wie Sie bei all den Variationen eine Dyskinesie erkennen und mit den Patienten verlorengegangene Bewegungsmuster wieder einüben können, zeigt Ihnen Thomas Karlinger. Schließlich erfahren Sie, wie Anina Gunti und Bastian Rossel dieses Problem am Fallbeispiel eines 27-jährigen Thaiboxers angehen.

Ich hoffe, wir haben mit dieser Ausgabe den richtigen „Fokus“ gefunden, und Sie können die Skapula mit ihren zahlreichen Facetten „mit einem anderen Blickwinkel“ beurteilen. Für uns Therapeuten gilt nämlich bei allen Beschwerden im oberen Quadranten: Behalten Sie die Skapula immer im Blick!

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!
Sebastian Klien



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Article published online:
18 May 2020

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