Schlüsselwörter Hypothesenbildung - hypothetisch-deduktives Denken - Clinical Reasoning - beobachtende
Ganganalyse - Think Aloud
Key words hypothesis develoment - hypothetic-deductive reasoning - clinical reasoning - observational
gait analysis - think aloud
Einleitung
In der Physiotherapie wird davon ausgegangen, dass die Hypothesenbildung eine Grundlage
für physiotherapeutisches Handeln ist [1 ]
[2 ]
[3 ]. Nach dem Prinzip des hypothetisch-deduktiven Reasonings werden innerhalb der Untersuchung
von Patienten verschiedene Daten und Informationen erfasst, um in einem weiteren Schritt
darauf aufbauend erste Hypothesen zu generieren [2 ]. Auf Basis dessen, was ein Patient selbst an Vorerfahrungen und Hypothesen angibt,
werden Hypothesen entwickelt, bis es zur Diagnosestellung und anschließenden Behandlung
kommt. Der weitere Verlauf des Untersuchungsprozesses wird als „collaborative process
between physiotherapists an patients“ beschrieben [2 ]. Neben einem hypothetisch-deduktiven Vorgehen wird auch einem interpretativen, narrativ
orientierten Vorgehen unter Einbezug des Patienten eine Rolle eingeräumt [2 ]. Die Bildung von Hypothesen im Untersuchungsprozess wurde bereits für Handlungsfelder
wie z. B. der Neurologie, Orthopädie und mit verschiedener Klientel untersucht [2 ]
[3 ]
[4 ]. Diese Studien bestätigen das Grundmodell des hypothetisch-deduktiven Reasonings
und spezifizieren einzelne Schritte der Hypothesenbildung, die von Physiotherapeuten
vorgenommen werden (Hypothesenformulierung, Prüfung, Bewertung) [2 ]
[3 ]
[4 ]. Hypothesen werden zudem in sogenannte Hypothesenkategorien sortiert, um das Wissen
zu strukturieren [1 ]
[5 ]. Hypothesenkategorien sind z. B. Ursache der Symptome, Aktivität und Partizipation
oder beitragende Faktoren zu einem Problem [1 ]
[5 ]. Das heißt, dass zunächst jede Information und Wahrnehmung des Physiotherapeuten
als Hypothese kategorisiert werden kann. Dabei werden keine festen Definitionen oder
Kriterien für die Form von Hypothesen benannt. Eine in der physiotherapeutischen Untersuchung
formulierte Hypothese lautet z. B. „mechanische Ursache des Problems“ und könnte in
die Hypothesenkategorie „Ursache der Symptome“ einsortiert werden [3 ]
[6 ]. Die Formulierung steht zunächst als Nebensatz für sich, für die Form oder inhaltliche
Reichweite der Hypothese gibt es keine konkreten Angaben.
Begriffserläuterung
Der Begriff Hypothese nimmt in der empirischen Forschung die Form einer Annahme an,
die eine Aussage über Erkenntnisgegenstände in Form von Sätzen ausdrückt [7 ]. In einem positivistischen Erkenntnisparadigma werden Hypothesen zu Beginn eines
Forschungsprozesses aufgestellt und im Rahmen eines deduktiven Vorgehens überprüft
[8 ]. Angelehnt an ein interpretatives Erkenntnisparadigma sind Hypothesen nicht vorab
formuliert, sondern resultieren am Ende eines Forschungsprozesses im Sinne von neuen
Erkenntnissen [8 ]. Bei wissenschaftlichen Hypothesen handelt es sich vorwiegend um Zusammenhangshypothesen,
welche in diverse Untergruppen sortiert werden können [9 ]
[10 ]
[11 ]. Darüber hinaus werden bestimmte Kriterien wie Logik und Widerspruchsfreiheit, eine
bestimmte Formstruktur (oftmals die eines Konditionalsatzes), Überprüfbarkeit sowie
Falsifizierbarkeit für Hypothesen formuliert [9 ]
[10 ].
Im Zuge eines interpretativen Erkenntnisparadigmas spielen anstelle von Hypothesen
Heuristiken zu Beginn des Forschungsprozesses eine Rolle [12 ]
[13 ]. Heuristiken ermöglichen es, das Vorwissen zu strukturieren und den Gegenstandsbereich
zu bestimmen [12 ]
[13 ]. Der Begriff Heuristik wird definitorisch in der Psychologie als Vorgehensweise
bei der Lösung von Problemen bzw. als Erfindungskunst und Anleitung zum Gewinn neuer
Erkenntnisse beschrieben [14 ]. So wird ein bestimmter Bereich vereinfacht und der Erkenntnisgewinn ermöglicht
[15 ]. Dafür wird nicht mit fest definierten Hypothesen gearbeitet, sondern mit Vorannahmen
und Generalisierungen [15 ]. Heuristiken werden ebenfalls als Vorform einer Hypothese beschrieben [9 ]. Als „Hilfskonstruktion“ [9 ] zeigt eine Heuristik auf, dass in einer Annahme ein Zusammenhang zwischen zwei Variablen
besteht, welcher jedoch noch nicht genau bestimmt ist (z. B., dass Ursache und Folge
noch nicht festgelegt sind) [9 ].
Hypothesenbildung in der beobachtenden Ganganalyse
Für die Untersuchung der Hypothesenbildung in der Physiotherapie ist neben den bereits
untersuchten Handlungsfeldern die beobachtende Ganganalyse ein weiteres mögliches
Feld. Die Ganganalyse ist ein Untersuchungsinstrument, bei dem auf Grundlage von Beobachtungen
anhand spezifischer Gangkriterien die Identifikation von strukturellen und aktivitätsbedingten
Limitationen vorgenommen wird und die Interventionsplanung sowie Effektivitätsprüfung
der Intervention folgt [16 ]
[17 ]
[18 ]
[19 ]. Es ist davon auszugehen, dass im Kontext des hypothetisch-deduktiven Reasonings
als Grundlage für therapeutisches Handeln auch während der beobachtenden Ganganalyse
Hypothesen gebildet werden. Die Hypothesenbildung bei der beobachtenden Ganganalyse
wird jedoch nur in wenigen Studien beleuchtet [20 ]. In den Studien von Watelain et al. [20 ] wurden Ganganalysestrategien von Physiotherapeuten auf Basis der verwendeten Gangkriterien
erforscht. Dabei wurden unter Anwendung eines qualitativen Forschungszuganges Kategorien
gebildet, die in „beschreibenden“ oder „interpretativen“ Ganganalysestrategien resultieren,
allerdings ohne Hypothesen im Rahmen dieser Strategien zu definieren [20 ].
Das Ziel der Forschungsarbeit ist es, den Prozess der Hypothesenbildung am Beispiel
der beobachtenden Ganganalyse zu untersuchen. Die Hypothesenbildung ist für die Formulierung
einer physiotherapeutischen Diagnose grundlegend. Daher wird die Frage geklärt, inwieweit
Hypothesen am Beispiel der beobachtenden Ganganalyse Hypothesen im wissenschaftlichen
Sinn entsprechen und ob sie von Heuristiken abzugrenzen sind. Die Ergebnisse können
im herausfordernden Prozess des Interpretierens von Beobachtungen für Physiotherapeuten
von Nutzen sein und ein präziseres Handeln im Hinblick auf weitere Untersuchungsschritte
anleiten. Diese Arbeit behandelt dabei nicht den Abgleich bzw. die Einordnung von
Clinical Reasoning mit Problemlösemodellen oder Handlungstheorien, sondern zieht als
Grundlage das hypothetisch-deduktive Reasoning heran.
Methode
Um das Forschungsziel zu erreichen, wird der qualitative Forschungsansatz Think Aloud
(TA) genutzt und der Beobachtungsprozess während der beobachtenden Ganganalyse auf
einer ablauforientierten und formalen Ebene erfasst. Die ablauforientierte Ebene betrifft
die einzelnen Phasen der Beobachtung und adressiert Forschungsfrage 1: Welche Vorgehensweisen
wenden Physiotherapeuten innerhalb der beobachtenden Ganganalyse an? Die formale Ebene
bezieht sich auf die Beschreibungsweise der Beobachtungen und die gebildeten Hypothesen.
Die Forschungsfrage 2 lautet: Welche Formen von Hypothesen entstehen während der beobachtenden
Ganganalyse?
Die empirischen Daten für die vorliegende Forschungsarbeit wurden mit der Think-Aloud-Methode
(Methode des Lauten Denkens) erhoben. Das grundsätzliche Ziel ist, Vorgänge des menschlichen
Bewusstseins zu externalisieren indem alle Gedanken, die beim Bearbeiten einer Problemstellung
oder Lösen einer Fragestellung entstehen, verbalisiert werden [21 ]
[22 ]. In verschiedenen Studien hat Think Aloud bereits Anwendung gefunden, um Gedanken-
und Entscheidungsprozesse von Physiotherapeuten während der Untersuchung und Behandlung
abzubilden [20 ]
[23 ]
[24 ]
[25 ]. Dabei konnte durch die Think-Aloud-Methode ein hypothetisch-deduktives Reasoning
durch die Bildung von Hypothesen generell bestätigt [23 ]
[24 ]
[25 ] werden. Es zeigte sich, dass bei der Beobachtung von Patienten bestimmte Analysestrategien
verwendet werden [20 ]. Da diese Studien unter Anwendung der Methode anschauliche Ergebnisse erbrachten,
befürworten diese die Anwendung von Think Aloud für die vorliegende Forschungsarbeit.
Die ethischen Grundsätze der aktuellen Fassung der Deklaration von Helsinki wurden
dabei berücksichtigt.
Samplebeschreibung und Datenerhebung
Für die Datenerhebung standen acht Physiotherapeuten zur Verfügung. Sechs Physiotherapeuten
hatten Fortbildungen nach dem Funktionelle-Bewegungslehre-Konzept (FBL) nach Klein-Vogelbach,
zwei Physiotherapeuten Fortbildungen im Gehen-Verstehen-Konzept nach Götz-Neumann
bzw. in der Ganganalyse nach Jacqueline Perry absolviert [16 ]
[27 ]. Die ausgewählten Physiotherapeuten sind aufgrund ihrer Fortbildungen und Berufserfahrung
Experten in der Ganganalyse und daher für die Forschungsarbeit besonders geeignet.
Eine Übersicht zum Sample bietet [Tab. 1 ].
Tab. 1
Übersicht des Samples: Physiotherapeuten 1–8 mit Angaben zu Berufserfahrung, Ganganalysefortbildung
und Dauer Think Aloud.
ID
Berufserfahrung
[Jahre]
Ganganalysefortbildung
Dauer Think Aloud
[Minuten]
P1
28
FBL
32
P2
45
FBL
20
P3
35
FBL
32
P4
32
FBL
28
P5
30
FBL
55
P6
37
FBL
39
P7
36
Ganganalyse nach Perry [26 ]
20
P8
18
Gehen-Verstehen-Konzept nach Götz-Neumann [16 ]
97
FBL = Funktionelle Bewegungslehre nach Klein-Vogelbach, P = Physiotherapeut.
Die Datenerhebung gliederte sich in die Phasen Vorbereitung, Aufwärmübung, Ganganalyse
und Nachbesprechung. Im Vorfeld wurden zur Erprobung der Datenerhebung zwei Pilottestungen
durchgeführt und ein Leitfaden erstellt, der nach den Testungen angepasst wurde. Die
Teilnehmenden wurden über den Ablauf und die Methode informiert und gaben eine informierte
Einwilligung zur Teilnahme. Daraufhin wurde die Beobachtung eines neutralen Videos
vorgenommen. Die Ganganalyse wurde anhand von zwei Gangvideos von Patienten, die Beschwerden
beim Gehen vorweisen, durchgeführt. Die Aufgabe der Physiotherapeuten bestand in der
Analyse der Videos und lautete: „Führen Sie einen Befund durch“. Während der Videoanalyse
wurden die Physiotherapeuten aufgefordert, laut zu denken. Das gesprochene Wort wurde
digital aufgezeichnet. In der Nachbesprechung wurden vertiefende Fragen über empfundene
Herausforderungen und weitere benötigte Informationen gestellt.
Datenauswertung
Innerhalb der Datenauswertung wurde das gesprochene Wort transkribiert und mithilfe
des Computerprogrammes f4 in ein verbales Protokoll überführt [21 ]
[28 ]. Daraufhin wurden die Segmentierung und Kodierung des Think-Aloud-Protokolls vorgenommen.
Innerhalb der Segmentierung fand die Unterteilung des Protokolls in Abschnitte statt.
Daraufhin erfolgte das Kodieren, angelehnt an die Grounded Theory [29 ]. Nach der Grounded Theory wird aus dem qualitativen Datenmaterial eine Theorie gebildet,
wobei die Auswertung in Verbindung mit dem Kontextwissen des Forschers und basierend
auf Kodierungen stattfindet [30 ]. In der vorliegenden Forschungsarbeit gliederte sich die Datenauswertung in drei
Schritte und zielte insgesamt auf eine induktive Kategorienbildung bzw. Phasenbestimmung
ab. In Schritt (1) wurde das offene Kodieren, indem alle Konzepte bzw. Vokabeln identifiziert
wurden, vorgenommen [29 ]. Die Konzepte bzw. Vokabeln repräsentieren Phänomene, die in der Analyseeinheit
vorhanden sind. Auf die Forschungsarbeit bezogen wurden in diesem Schritt Kriterien,
die von den Physiotherapeuten bei der Ganganalyse herangezogen wurden, beschrieben
und kategorisiert. In Schritt (2) erfolgte durch den Forscher die Rekonstruktion von
Beziehungen und Verbindungen zwischen den gefundenen Konzepten [28 ]. Auf das Datenmaterial bezogen wurden im Rahmen der Verbindung der Konzepte die
Beobachtungsprozesse der acht Physiotherapeuten auf einer ablauforientierten Ebene
konstatiert. Die ablauforientierte Ebene umfasst die einzelnen Phasen der Beobachtung.
Die Einteilung in diese Phasen wurde durch sprachliche Übergänge und inhaltliche Überschneidungen
bzw. Unterschiede vorgenommen. Das Datenmaterial wurde dahingehend untersucht, ob
sich individuelle oder kollektive Vorgehensweisen der Physiotherapeuten während der
Beobachtung zeigten. Abschließend folgte in Schritt (3), der Auswertung, die Beschreibung
übergeordneter Gedankenprozesse [28 ]. Die Gedankenprozesse der untersuchten Physiotherapeuten wurden in diesem Analyseschritt
in Form von generierten Hypothesen auf formaler Ebene beschrieben.
Ergebnisse
Zur Strukturierung wird zunächst der Beobachtungsprozess der Ganganalyse, der basierend
auf den Think-Aloud-Protokollen extrahiert wurde und als Orientierung für die Einordnung
der Hypothesen dient, auf der ablauforientierten Ebene beschrieben. Anschließend folgt
die Typisierung der Hypothesen auf formaler Ebene.
Beobachtungsprozess der Physiotherapeuten
Der Beobachtungsprozess aller untersuchten Physiotherapeuten gliederte sich in sechs
Beobachtungsphasen ([Abb. 1 ]). Die erste Phase ist die „Orientierung“, in der sich die Physiotherapeuten in die
Beobachtungssituation einfinden. Die Einteilung in diese Phase erfolgt zunächst auf
inhaltlicher Ebene. Ein- und Ausstieg in bzw. aus dieser Phase werden darüber hinaus
sprachlich markiert. Die Probanden sprachen teilweise selbst von einem „ersten Eindruck“
oder „zuerst das Gesamtbild“ (z. B. P3, P4). Darauf folgt die Phase der „Spezifikation“,
in der die Kriterien der Ganganalyse oder Auffälligkeiten im Rahmen der Beobachtung
genannt werden. Die Phase der Spezifikation ist durch sprachliche Marker wie „jetzt“
oder „also“ und durch das Nennen eines Kriteriums markiert (P1, P8). Inhaltlich beziehen
sich die Gangkriterien und Auffälligkeiten z. B. auf Gangphasen, Gelenkstellungen
oder mögliche Beschwerden des Patienten beim Gehen.
Abb. 1 Zusammenhang von Beobachtungsprozess und Hypothesentypen während der beobachtenden
Ganganalyse. (Quelle: V. Gers; graf. Umsetzung: Thieme Gruppe)
In der nächsten Beobachtungsphase „Prüfung“ werden die Gangkriterien oder Auffälligkeiten
durch wiederholte, genaue Beobachtung oder das Abspielen des Videos in verlangsamter
Geschwindigkeit geprüft und mit bestimmten Definitionen oder Erwartungswerten abgeglichen.
Sprachliche Marker, die diese Phase markieren, sind z. B. „da muss ich noch ein bisschen
genauer schauen“ oder „jetzt habe ich es nochmals kontrolliert“ (P3, P8). Ziel dieser
Phase ist, zu einer Bewertung des Gangkriteriums oder der Auffälligkeit zu gelangen.
Nach einer anfänglichen Spezifikation („Ich finde, dass er vielleicht wenig Dorsalextension
in den Zehen zeigt“ (P8)) kann bei Probanden bereits eine Prüfung erfolgen („Ich gucke
mir den nächsten Schritt noch einmal an, ob man das da besser sieht“ (P8)). Die Probanden
denken über die beobachteten Auffälligkeiten genauer nach und bestätigten bzw. verwerfen
ihre Annahmen als Ergebnis dieser Prüfung. Daher ist die „Prüfung“ eng mit der Phase
„Bewertung“ verknüpft.
In der Phase „Bewertung“ wird das Gangkriterium bzw. die Auffälligkeit durch die Hinzunahme
von Adjektiven oder Adverbien bewertet: „Er hat hier eine relativ gute Zehenextension“
(P8). Es ist möglich, dass Probanden in dieser Phase bereits Sicherheit in ihren Bewertungen
erlangen und eine Beobachtung bestätigen oder verwerfen. Wenn sie noch unsicher sind,
durchlaufen sie in einer iterativen Schleife die Phasen „Spezifizieren“ oder „Prüfung“.
Die folgende Phase „Interpretation“ beinhaltet, dass weiterführende Annahmen zu Beobachtungen
und Bewertungen formuliert und mit Erfahrungswissen angereichert werden. Die Annahmen
gehen dabei über die reine Beobachtung hinaus und können verschiedene Bereiche wie
z. B. Ursachen für Abweichungen, Problemorte oder Beschwerden adressieren. Proband
P7 interpretiert z. B. die Annahme eines erhöhten Tonus im Schulterbereich als mögliche
Folge oder Ursache eines auffälligen Ganges so: „Was […] auf einen Hypertonus im Schulterbereich
schließt“ (P7). Eine Annahme lässt sich jedoch allein durch Beobachtung nicht prüfen
oder bestätigen.
Zum Abschluss der Beobachtung wird eine beobachtungsbezogene Schlussfolgerung vorgenommen.
Diese ist entweder ein allgemeines oder spezifisches Resümee der gesammelten Informationen
auf Basis aller Beobachtungsdaten. Sprachlich zeigen sich diese Resümees z. B. durch
Aussagen wie „ich komme zu dem Resultat“ oder „die Hauptabweichung ist“ (P1, P8).
Wenn die Probanden in der Abschlussphase der Beobachtung kein Resümee vornehmen können,
ist eine erneute Iteration des Beobachtungsprozesses möglich.
Hypothesentypen: Formen von Annahmen während der Hypothesenbildung
Innerhalb des Beobachtungsprozesses lassen sich drei verschiedene Formen von Annahmen
ableiten, die als Hypothesentypen in [Tab. 2 ] dargestellt werden. Eine Hypothese kann grundsätzlich als Annahme verstanden werden,
die in unterschiedlichen Phasen des Beobachtungsprozesses, mit unterschiedlichem Inhalt,
in einer unterschiedlichen Form und mit unterschiedlichem Generalisierungsgrad formuliert
wird. Die Hypothesenbildung ist durch die Aktivitäten Spezifizieren, Prüfen, Bewerten,
Interpretieren und Schlussfolgern geprägt.
Tab. 2
Typen von Hypothesen.
Typ 1: zu bewertende Annahme
Typ 2: zu interpretierende Annahme
Typ 3: zu bewertende und konditionale Annahme
Inhalt
Bewertung einer vorausgehenden Annahme
über die Beobachtung hinausgehende Annahme
Bedingungszusammenhang zweier oder mehrerer Annahmen, Begründung
Form, Struktur
Satz im Indikativ
Satz im Konjunktiv
Finalsatz/Konditionalsatz
Beispiele
„Der Übergang von Mid Stance zum Terminal Stance auf dem rechten Bein findet bei der
Probandin verkürzt statt“ (P7).
„Die Muskulatur in der Wade könnte in ihrer Dehnfähigkeit vermindert sein“ (P8).
„Der Proband weist einen größeren Armpendel auf, um das Bein zu entlasten“ (P 1).
Generalisierung vs. Spezifizierung
spezifische Bewertung
generalisiertes Kommentieren eines Aspektes, die Prüfung dieses Aspektes ist noch
offen.
Ein Zusammenhang wird bestimmt, welcher spezifischer oder generalisierter formuliert
wird.
Implikation
therapeutischer Handlungsbedarf zur Bestätigung, Verwerfung, Weiterentwicklung
P = Physiotherapeut.
Typ 1 (zu bewertende Annahme) zeichnet sich durch eine Aussage im Indikativ aus, die
eine Wertung bzw. eine Beurteilung aufgrund der vorgenommenen Beobachtung beinhaltet.
Diese Annahme kann durch einen oder mehrere Prüfvorgänge bestätigt oder widerlegt
werden. Zum Beispiel wird vermutet, dass die Spurbreite des Patienten auffällig ist:
„Ich würde sagen, dass die Spur rechts verbreitert ist, etwas mehr von der rechten
Seite wie von der linken“ (P5). Nach einem weiteren Prüfvorgang wird diese Annahme
als Bewertung bestätigt und gilt als zu bewertende Annahme: „Ja, er geht mit dem rechten
Fuß ein bisschen mehr zur Seite“ (P5). Bei diesem Beispiel wird eine Auffälligkeit
spezifisch benannt und bewertet, es ist vorstellbar, dass der Proband diese im weiteren
Untersuchungsprozess weiterverfolgen wird.
Typ 2 (zu interpretierende Annahme) zeichnet sich durch weiterführende Interpretationen
aus und wird durch das Verknüpfen von Informationen und Heranziehen von zusätzlichem
Wissen geprägt. Dabei wird die Form eines Konjunktivsatzes gewählt. Dieser formuliert
bestimmte Zusammenhänge oder Ursachen als Mutmaßungen. Am Beispiel „Der Proband könnte
Probleme oder Beschwerden mit der Schulter haben“ (P6) wird deutlich, dass die Interpretation
über die Beobachtung hinausgeht. Es handelt sich eher um eine generalisierte Annahme
über einen bestimmten Aspekt, die im weiteren Untersuchungsprozess überprüft werden
müsste.
Typ 3 (zu bewertende und konditionale Annahme) ist in einen komplexeren Satz gebettet.
Dieser zeigt einen hergestellten Zusammenhang zwischen zwei oder mehreren Aspekten,
die in einem Bedingungs- bzw. Begründungsverhältnis stehen. Ein Beispiel: „Der Proband
weist einen größeren Armpendel auf, um das Bein zu entlasten“ (P1). Typ 3 ist durch
Konjunktionen wie „weil“ und „um“ oder sprachliche Markierungen wie „dazu führen“
oder „bedingen“ gekennzeichnet und bildet einen Finalsatz bzw. Konditionalsatz. Dabei
wird ein Zusammenhang zwischen zwei spezifischen Aspekten, die in einem Bedingungsverhältnis
stehen oder deren Beziehung (z. B. Ursache und Folge) noch nicht genau zugeordnet
ist, bestimmt.
Insgesamt zeigen Annahmen als Implikation einen weiteren Handlungsbedarf an. Durch
weitere Methoden und Untersuchungen müssten sie überprüft und weiterentwickelt werden,
damit Physiotherapeuten sie annehmen oder verwerfen können.
Die drei Typen von Hypothesen werden in den Phasen des Beobachtungsprozesses gebildet
und sind in [Abb. 1 ] im Zusammenhang mit diesem dargestellt. Typ 3 ist in seiner formalen Struktur am
komplexesten und wird durch die Phasen Prüfung, Bewertung und Interpretation gebildet.
Er ist dadurch gekennzeichnet, dass Physiotherapeuten die genannten Phasen präzise
und inhaltlich ausgedehnt vornehmen. Typ 1 und Typ 2 sind in ihrer formalen Struktur
weniger komplex sind in der Regel dadurch gekennzeichnet, dass Physiotherapeuten die
einzelnen Phasen im Beobachtungsprozess mit geringer inhaltlicher Tiefe oder weniger
ausgedehnt als bei Typ 3 gestalten. Bezogen auf die Generalisierung bzw. Spezifizierung
der verschiedenen Annahmen können sowohl spezifischere Zusammenhänge, die bereits
in Bedingungszusammenhängen stehen, als auch generalisierte Annahmen, die als erste
Orientierung dienen und in weiteren Untersuchungen spezifiziert werden müssen, formuliert
werden. Auf diese Weise entsteht eine sich bedingende Beziehung der einzelnen Phasen
des Beobachtungsprozesses mit der Hypothesenbildung. Die Beziehung ergibt sich einerseits
durch die inhaltliche Tiefe sowie die Präzision, mit der die einzelnen Phasen im Beobachtungsprozess
durchlaufen werden, wodurch unterschiedliche Hypothesentypen gebildet werden. Andererseits
können formulierte Hypothesen einzelne Phasen des Beobachtungsprozesses und somit
die Hypothesenbildung anregen, indem z. B. erneute Prüfvorgänge oder Spezifikationen
vorgenommen werden.
Diskussion
Die vorliegende Forschungsarbeit hatte zum Ziel, die Hypothesenbildung von Physiotherapeuten,
die eine beobachtende Ganganalyse durchführen, auf einer ablauforientierten und formalen
Ebene zu erfassen. Angelehnt an Edwards und Jones [1 ]
[2 ] wurde die Begrifflichkeit „Hypothese“ aufgenommen und verwendet, jedoch differenziert
betrachtet.
Methode und Limitationen des Studiendesigns
Das Think Aloud erwies sich als geeignete Methode zur Extrahierung von Gedankenprozessen.
Als Herausforderung zeigte sich, dass ein Gelingen von der Fähigkeit des Physiotherapeuten
abhängig ist, tatsächlich laut zu denken. Zentral hierfür ist, dass die Gedanken ungefiltert
im Moment des Denkens ausgesprochen und nicht als sprachliche Reflexion geäußert werden.
Zieht man als Grundlage für das Funktionieren des lauten Aussprechens von Gedanken
während einer Aufgabenausführung die Systematik von Wissensformen nach Polanyi heran,
kann davon ausgegangen werden, dass für die Aufgabenstellung der Bewegungsanalyse
anwendbares, praktisches Wissen benötigt wird [31 ]. Wenn der Beobachtungs- und Analyseprozess intuitiv abläuft, können einzelne Schritte
oder Strategien, obwohl das Wissen präsent ist, nicht zwingend verbalisiert werden
und bleiben implizit [31 ]. Dies stellt eine Limitation der Methode dar. Eine weitere Limitation ergibt sich
aus dem künstlichen Umfeld. Die Physiotherapeuten sollten anhand eines Videos und
ohne die Patienten vorher zu kennen den Befund vornehmen. Dieses Setting stellt einen
reduzierten Rahmen dar, in dem keine vollumfängliche Befundung und Diagnosestellung
möglich ist. Das Setting wurde bewusst gewählt, um sich durch Reduzierung der Komplexität
anzunähern. Wenn Physiotherapeuten Schwierigkeiten mit der Methode des lauten Denkens
haben oder normalerweise mit anderen Patienten arbeiten als in den Videos gezeigten,
besteht die Möglichkeit, dass Think Alouds zeitlich kürzer ausfallen.
Hypothesen von Physiotherapeuten beim Clinical Reasoning
Die beschriebenen Hypothesentypen sind denen von Jones beschriebenen initialen, globalen
Hypothesen, die im Untersuchungsprozess von Physiotherapeuten gebildet werden [1 ]
[5 ], ähnlich. Der Schritt der Hypothesenbildung kann durch die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit
differenziert werden. Hypothesen in Form von Annahmen werden schon während des Sammelns
von Informationen in mehreren Iterationen geprüft und angepasst. Am Ende eines Untersuchungsschrittes
(z. B. der beobachtenden Ganganalyse) kommt es zu beobachtungsbasierten Annahmen,
die sich in einfachen, aber auch komplexen Zusammenhängen zeigen. Nach Edwards und
Jones werden innerhalb des hypothetisch-deduktiven Vorgehens zunächst Hypothesen entwickelt
und diese in einem nächsten Schritt durch Hinzunahme von weiteren Informationen (welche
durch weitere, sich anschließende Untersuchungsmethoden generiert werden) evaluiert
[2 ]
[32 ]. Als Differenzierung des Schrittes der Hypothesenbildung nach Edwards und Jones
werden Hypothesen, wie diese Forschungsarbeit aufzeigt, in iterativen Schritten schon
innerhalb der Beobachtung selbst überprüft, angepasst, bestätigt und verworfen. Dieser
Prozess geschieht, ohne dass neue Informationen z. B. durch andere Untersuchungsmethoden
hinzukommen.
Bearbeitungsstände von Hypothesen
Die Typen von Hypothesen, die das Sample zeigt, sind den Bearbeitungsständen von Hypothesen
im Wissenschaftsverständnis nach Häder ähnlich [10 ]. Es gibt demnach zu Beginn eines Arbeitsprozesses anstelle von Hypothesen eher Vermutungen,
die noch keine Überprüfung erfahren haben [10 ]. Nach einem Prüfprozess werden Hypothesen als Prüfhypothesen bezeichnet [10 ]. Nach der Prüfung kann eine Hypothese eine bestätigte oder widerlegte Hypothese
sein [10 ]. Die vorliegende Forschungsarbeit zeigt ebenfalls Annahmen auf, die durch Prüfungsvorgänge
eine Bewertung erhalten und angenommen oder verworfen werden. In Anlehnung an die
Systematik von Häder muss eine Annahme überprüfbar sein und aus ihrer Prüfung eine
Bestätigung oder Widerlegung resultieren, damit Annahmen auch als Hypothese bezeichnet
werden können.
Hypothesen in Abgrenzung zu Heuristiken
Einerseits werden bei den Hypothesentypen von den Physiotherapeuten Zusammenhänge
zwischen Aspekten formuliert, die in einem Konditionalsatz stehen und auf diese Weise
Hypothesen in der empirischen Forschung ähneln. Andererseits werden Annahmen über
Aspekte geäußert, die eher zur Orientierung dienen und zunächst in einem generalisierten
Rahmen stehen, der die Möglichkeit von Prüfung und Weiterverfolgung offenlässt. Daher
sind in diesem Stadium der Untersuchung vermehrt Heuristiken zu finden. Es handelt
sich noch nicht um echte Hypothesen im wissenschaftlichen Sinn.
Wenn Hypothesentyp 3 mit der von Bortz und Döring beschriebenen „Wenn-dann-Heuristik“
verglichen wird [9 ], ergibt sich folgende Parallele. Hier werden Bedingungszusammenhänge von mehreren
Aspekten formuliert. Es gibt also einen Zusammenhang, gleichzeitig bleibt offen, welcher
Aspekt als Ursache und welcher Aspekt als Folge betrachtet wird. Ein Physiotherapeut
formuliert z. B.: „Die Besonderheit ist am Fuß, dass er eigentlich nach außen geht
[…]. Und meine Vermutung zumindest ist, dass das dazu führt, dass auch der Oberschenkel
nach außen rotiert wird, was aber auch, wie gesagt andersherum eingeleitet werden
könnte. (Unv.), das kann ich noch nicht ganz einordnen“ (P8). Der Zusammenhang der
beiden Aspekte erscheint logisch und sinnvoll und stellt eine Kausalhypothese dar.
Es ist aber ebenfalls möglich, dass die Drehung des Oberschenkels eine Folge der Stellung
des Fußes (Ursache) ist. Dieser Annahme hat eher den Charakter einer Heuristik als
einer Hypothese, da die Teile des Konditionalsatzes austauschbar sind [9 ]. Solange diese austauschbar sind, stellen sie im strengeren Sinn keine Hypothese
dar. Daher verdichten sich im Rahmen dieser Forschungsarbeit die Hinweise, dass innerhalb
des physiotherapeutisch hypothetisch-deduktiven Reasonings im Anfangsstadium einer
Untersuchung eher Heuristiken verwendet werden, die sich zu Hypothesen formieren können
[9 ]. Präzisere Hypothesen entstehen womöglich erst durch weitere Untersuchungen, durch
die Verknüpfung mit Wissen und durch die Zusammenarbeit mit dem Patienten. Sie werden
in einem weiteren Ausreifungsgrad gegen Ende des Untersuchungsprozesses bzw. der Befundaufnahme
mit Aufstellen der physiotherapeutischen Diagnose formuliert [33 ]
[34 ]
[35 ].
Schlussfolgerungen
Durch die Befragung der acht physiotherapeutischen Experten der Ganganalyse konnte
gezeigt werden, dass sich der Hypothesenbildungsprozess in der Physiotherapie dadurch
auszeichnet, dass aufgrund von Beobachtungen Annahmen formuliert, geprüft, bestätigt
oder verworfen werden, indem sie mit Bewertungen versehen und mit eigenem Wissen angereichert
und verknüpft werden. Gebildete Hypothesen, welche in drei Typen (zu bewertende, zu
interpretierende und zu bewertende und konditionale Annahme) gebildet werden, zeigen
sich in allen Phasen des Beobachtungsprozesses der Ganganalyse und können in mehreren
Iterationen gebildet werden. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen deutlich, dass die
Begriffe Hypothese und Hypothesenbildung derzeit in der Physiotherapie ungenau benutzt
werden. Hypothesen ähneln in ihrer anfänglichen Stufe eher Heuristiken und bilden
für Physiotherapeuten einen generalisierten Orientierungsrahmen, der weiteres Handeln
bedingt und weitere Untersuchungsschritte einleitet. Erst, wenn Annahmen formuliert,
geprüft, bewertet und somit gedanklich weiterverfolgt und entwickelt werden, können
sie einen Hypothesenstatus erreichen. Somit wäre nicht jede Annahme, die angestellt,
aber nicht weiterverarbeitet wird, als Hypothese, wie sie in der empirischen Forschung
als wissenschaftliche Hypothese definiert wird, zu bezeichnen. Durch die aufgezeigten
Schritte können aus Heuristiken präzisere Hypothesen, die gerichtete Zusammenhänge
(z. B. Ursache-Folge-Beziehungen) beschreiben, gebildet werden.
Es ist zu vermuten, dass auch auf anderen Gebieten, in denen die beobachtende Bewegungsanalyse
angewendet wird, ähnliche oder abgewandelte Formen von Hypothesen generiert werden.
Dies muss durch weiterführende Arbeiten erforscht werden. Zur weiteren Einordnung
und Beschreibung von Hypothesen sind überdies Studien notwendig, die sich mit der
Theorie des Begriffes „Hypothese“ beschäftigen und Definitionen sowie Systematiken
zur Hypothesenbildung in der Physiotherapie herausbilden. Studien können die Hypothesenbildung
und Hypothesenkategorien im Interventionsprozess auch für verschiedene Patientengruppen
fokussieren. Hier könnten die in der Forschungsarbeit gefundenen Typen und Merkmale
unter unterschiedlichen Bedingungen untersucht und weiterentwickelt werden.