Die Physiotherapeuten Clara und Ludwig diskutieren darüber, wer eigentlich das Problem
ihrer Patienten löst. Sie selbst oder die Patienten (DIALOG S. 31)? Wer ist letztlich
dafür verantwortlich, dass es besser wird? In der abgebildeten Diskussion wird klar:
Die eine richtige Meinung dazu gibt es nicht. Vielmehr haben beide recht, und sie
können voneinander lernen.
Therapeutische Rolle definieren
Therapeutische Rolle definieren
Ludwig und Clara vertreten gegensätzliche Positionen – und haben beide recht mit ihren
Argumenten. Die Wahrheit liegt, wie so oft, in der Mitte und muss für jeden Patienten
anders bewertet werden – pauschal geht dies sicher nicht. Aber selbstverständlich
tragen Patienten ein großes Stück der Verantwortung selbst.
Abhängig von der Rolle, die der Therapeut einnimmt, kann er im Patientenumgang verschiedene
Techniken und Fertigkeiten nutzen. In der Rolle des Problemlösers, wie Clara sie verkörpert,
verfügt er aus Aus- und Weiterbildung über ein breites Portfolio an Techniken und
Interventionen. Doch wie sieht es aus, wenn der Patient das Säckchen trägt? Wie sieht
therapeutische Unterstützung aus? Ludwigs Herangehensweise findet in den letzten Jahren
immer mehr Beachtung, deshalb lohnt sich ein Blick darauf.
Ressourcen des Patienten aktivieren
Ressourcen des Patienten aktivieren
Ist der Patient selbst Problemlöser, so ist es die Aufgabe des Therapeuten, gemeinsam
mit ihm auf seine Möglichkeiten und Ressourcen zu schauen. Dabei gilt es den Alltag
des Patienten, die Bedürfnisse, Gedanken und Emotionen ebenso zu berücksichtigen wie
Krankheitsbild und Symptome. Im Laufe der Zeit haben sich hierfür verschiedene Modelle
entwickelt. Eines ist das Motivational Interviewing (MI) bzw. die Motivierende Gesprächsführung
(ZUM VERTIEFEN). MI ist heute in zahlreiche Berufskontexte etabliert, wenn es darum
geht, Menschen bei einer Veränderung zu unterstützen [1], [2]. Doch Vorsicht, mit „Motivational“ ist nicht gemeint, den Patienten für etwas zu
motivieren, ihn argumentativ zu einer Veränderung zu führen oder vielleicht sogar
zu überreden. Die Urheber William Miller und Stephen Rollnick sehen den motivationalen
Charakter des Ansatzes darin, dass Therapeut und Patient die Motivation für Veränderung
im Gespräch gemeinsam suchen und finden. Voraussetzung ist, dass Ressourcen, Motivatoren
und Beweggründe für Änderungsprozesse grundsätzlich vorhanden sind. Patienten sind
häufig nicht unmotiviert, sie stehen einer Änderung entweder ambivalent gegenüber
oder benötigen eine Alternative, die ihrem Lebenskonzept (besser) entspricht. Ziel
ist es, Möglichkeiten und Kräfte des Patienten zu aktivieren. Auch das „Interviewing“
hat mit dem klassischen Interview nicht viel gemeinsam. Der Ansatz fokussiert nicht
darauf, Fragen aneinanderzureihen, die dem Interviewer Erkenntnisse oder Neuigkeiten
bringen sollen und die der Befragte zu beantworten hat. Vielmehr kann man den Begriff
aus dem lateinischen Wortstamm inter und vedere ableiten, was so viel wie „in etwas
hineinschauen“ bedeutet [2]. In der Physiotherapie blicken Therapeut und Patient gemeinsam auf Erkrankung, Symptomatik
und vor allem auf die dem Patienten zugrunde liegenden Möglichkeiten, die seine Gesundheit
unterstützen.
Abb.: contrastwerkstatt/stock.adobe.com (Symbolbild)
Clara: Ich finde, wir Therapeuten sind es, die die Probleme unserer Patienten lösen. Schließlich
kommen sie ja deshalb zu uns.
Ludwig: Sicher, aber wir haben ja nur begrenzt Zeit. Nach der Behandlungsserie stehen die
Patienten dann allein da. Ich finde deshalb, dass es vor allem auf sie ankommt.
Clara: Klar, aber zuerst haben wir ja unsere Behandlung, die greift. Die Patienten brauchen
doch unsere Expertise, damit sie überhaupt wissen, was sie danach machen können.
Ludwig: Meiner Erfahrung nach setzen Patienten nur das um, was in ihren Alltag passt. Ich
habe schon oft etwas empfohlen, was im Nachhinein nicht praktikabel war. Uns sehe
ich eher als Unterstützer.
Clara: Unterstützer? Das ist mir irgendwie zu wenig. Wir haben schließlich eine fundierte
Ausbildung und zahlreiche Fortbildungen. Meine Expertise möchte ich gerne einbringen.
Ludwig: Kannst du ja, aber letztlich haben wir ja nur wenig Zeit mit dem Patienten, und zwischen
den Behandlungen liegen mehrere Tage. Da passiert mir einfach zu viel. Ich glaube,
dass unsere Patienten mehr Einfluss haben, als wir glauben. Ich sehe mich als Begleiter
und möchte Patienten helfen, ihr Problem nachhaltig zu lösen.
Clara: Und das soll in so kurzer Zeit funktionieren? Ich erfahre fast täglich, dass ich
meinen Patienten zwar sage, was sie tun sollen, sie es aber nur selten umsetzen. Wenn
sich was bessern soll, dann braucht es den Therapeuten und die therapeutische Kompetenz.
Ludwig: Nein, ich will doch auch nicht, dass mir ständig jemand sagt, was ich tun soll. Egal
wer. Mich wundert es nicht, dass unser Vorgehen manchmal scheitert. Stattdessen bin
ich überzeugt, dass viele meiner Patienten gute Ideen haben, auf die ich gar nicht
kommen würde. Ist es nicht unsere Aufgabe, diese Ressourcen mitzunehmen? Denn irgendwann
sind wir als Unterstützer ja nicht mehr da.
Clara: Aber ich kann doch die Verantwortung nicht einfach auf den Patienten abwälzen. Schon
gar nicht, wenn er medizinischer Laie ist.
Ludwig: Und ich will nicht die ganze Verantwortung tragen. Ich kann einfach nicht immer wissen,
was meine Patienten im Alltag so machen.
Therapeutische Haltung überdenken
Therapeutische Haltung überdenken
Grundlage von MI ist die Haltung, die der Therapeut einnimmt, und die Art und Weise,
wie Interaktion und therapeutische Beziehung gelebt werden. Diese Haltung, auch Spirit
genannt, ist charakterisiert durch Aspekte wie Partnerschaftlichkeit, Akzeptanz, Hervorlocken
und Anteilnahme. Eine ausführliche Definition dieser Begriffe findet sich im Artikel
„Partnerschaftlicher Umgang mit Patienten“ in PHYSIOPRAXIS 3/15 ab Seite 46 (ZUM VERTIEFEN).
Die Haltung, die der Therapeut einnimmt, wird durch folgende implizite Botschaft deutlich:
„Sie haben das, was Sie brauchen, und wir werden gemeinsam danach suchen“ und nicht
„Ich suche, was Ihnen fehlt, und gebe Ihnen, was Sie brauchen“ [2].
Informationen sparsam verwenden
Informationen sparsam verwenden
Neben dem Spirit gibt es bei MI einzelne Kommunikationstechniken, die dazu dienen,
die Gesprächsführung umzusetzen. Im therapeutischen Dialog sind vor allem die folgenden
drei Techniken für den Therapeuten hilfreich ([TAB]).
TAB Auswirkungen der Techniken des Motivational Interviewing auf Patient und Therapeut
[2]
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Bedeutung für den Therapeuten
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Wirkung beim Patienten
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Der Therapeut …
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Der Patient …
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Offene Fragen
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spürt das Interesse an seiner Person
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fühlt sich eingeladen, sich mitzuteilen
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kann seine Gedanken frei äußern und traut sich auch, das zu tun
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merkt, dass es um ihn geht
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Aktives Zuhören
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unterstützt das weitere Befunden
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erhält mehr Informationen
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erreicht mehr Klarheit über das Gesagte
-
prüft, ob seine Interpretation korrekt ist
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hat das Gefühl, dass ihm zugehört wird
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spürt das Interesse des Therapeuten
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erlangt mehr Klarheit über die eigenen Gedanken und Emotionen
-
erfährt Wertschätzung und Empathie
-
sieht eigene Motivatoren und Ressourcen
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Informieren und Rat anbieten (mit Wahlfreiheit)
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bekommt ein Gefühl, welche Information für den Patienten wichtig ist
-
erfährt weniger Widerstand und mehr Offenheit
-
geht vorsichtiger und demütiger mit der eigenen Expertise um
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kann Informationen und Ratschläge einordnen
-
fühlt sich weniger gedrängt durch Vorschläge
-
kann die Ratschläge besser annehmen
-
hat mehr Sicherheit, unpassende Ratschläge auch abzulehnen
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Ob ein Therapeut die Techniken in der Praxis umsetzt, kann er mithilfe eines Codierungsverfahrens,
dem Motivational Interviewing Treatment Integrity Code, analysieren und evaluieren
[3]. Für die konkrete Umsetzung können folgende Empfehlungen gegeben werden:
-
Stellen Sie mehr offene Fragen als geschlossene.
-
Hören Sie mehr zu, als dass Sie Fragen stellen.
-
Hören Sie mehr komplex als einfach zu.
-
Geben Sie Informationen und Ratschläge sparsam und überlegen Sie gut, ob diese wirklich
nötig sind.
-
Reden Sie weniger als Ihr Patient.
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Offene Fragen regen den Patienten zur Reflexion an, machen Inneres sichtbar und bringen
oftmals neue, überraschende Erkenntnisse hervor, da Antwortvorgaben auch nicht implizit
gegeben sind. Mit geschlossenen Fragen ist das nicht möglich, da der Befragte auf
die Ja- oder Nein-Perspektive fokussiert ist. Dabei gehen mitunter Details verloren.
Der Therapeut läuft Gefahr, durch die schnelle Taktung einen Verhörcharakter zu erwecken
und den Patienten im Dialog zu verlieren. Offene Fragen hingegen laden den Patienten
ein, zu erzählen und seinen Blick auf die Dinge zu offenbaren.
Noch wichtiger als die korrekte Frage ist das aktive Zuhören. Dabei reflektiert der
Therapeut wahrgenommene Äußerungen und Empfindungen des Patienten. Diese Reflexionen
stellt er dem Patienten dann zur weiteren Exploration zur Verfügung. Der Patient wird
so seinen Gedanken weiter fortführen, und es entsteht bestenfalls ein begleitetes
Selbstgespräch mit klärendem Charakter. Die Technik geht weit über das umgangssprachliche
Spiegeln hinaus. Der Patient erhält so eine implizite Rückmeldung und verspürt die
Aufmerksamkeit, das Interesse und die Empathie des Therapeuten.
Eine weitere Technik ist die des Informierens. Natürlich haben Therapeuten einen Wissensvorsprung,
und Informationen und Ratschläge sind in der Therapie unverzichtbar. Die Kernfrage
ist, wie der Therapeut Informationen auf Augenhöhe vermittelt, ohne die Expertise
des Patienten zu beschneiden. Denn grundsätzlich hat jeder Ratschlag auch das Potenzial,
anmaßend oder kränkend zu wirken, und stellt möglicherweise die Autonomie in Frage.
Demzufolge sind Informationen bei MI vom Therapeuten sparsam zu verwenden, sodass
es dem Patienten auch gelingt, diese zu verarbeiten [4].
Therapie besser abstimmen
Therapie besser abstimmen
Zurück zum Dialog zwischen Clara und Ludwig. Man kann festhalten, dass MI helfen kann,
wenn der Patient sein Problem selbst lösen kann oder maßgeblich an der Lösung beteiligt
sein kann und will. Durch die Art der Gesprächsführung und seine Haltung können Therapeuten
wie Ludwig ihre Patienten nicht nur einladen, sich selbst einzubringen, sondern sie
können auch bei der Suche nach Möglichkeiten und Ressourcen unterstützend zur Seite
stehen. Wenn es dem Therapeuten gelingt, seine Haltung authentisch zu verkörpern,
dann wird der Patient auch offener sein und sich mehr einbringen bzw. Verantwortung
übernehmen. So kann aus der Behandlung Handlungsfähigkeit generiert werden, und beide
können zusammen Gesundheit gestalten.
Auch Therapeuten wie Clara, die sich selbst als Problemlöser definieren, können von
MI profitieren. Schließlich kommuniziert sie ebenfalls intensiv mit ihren Patienten.
Aus Umfragen ist bekannt, dass Patienten in medizinischen Settings vor allem wünschen,
dass man ihnen zuhört. Søren Kierkegaard, der dänische Philosoph, brachte es vor vielen
Jahren auf den Punkt: „Wenn ich wirklich einem anderen helfen will, muss ich mehr
verstehen als er, aber zuallererst muss ich begreifen, was er verstanden hat. Sonst
wird mein Mehrwissen ihm keine Hilfe sein“ [5]. In der Befunderhebung und Behandlung erfährt Clara mithilfe von MI mehr über die
Gedanken des Patienten und kann so ihre Therapie besser abstimmen. Sie kann beeinflussen,
dass sie und ihr Patient gemeinsam in einem Boot sitzen und in die gleiche Richtung
rudern. Clara muss nur aufpassen, dass sie auf Augenhöhe bleibt und die Expertise
des Patienten respektiert. Denn möglicherweise schwingt das Pendel bald um, und es
tritt der Fall ein, dass der Patient zum Problemlöser wird. MI kann also auch für
Clara die Therapie entscheidend beeinflussen.
Jeder profitiert
Der Psychologe Carl Rogers hat betont, wie bedeutsam die Kongruenz des Therapeuten
für die Entwicklungsprozesse des Patienten ist [6]. Der Therapeut steht dem Patienten als ganze Person authentisch gegenüber. Haltung
kann und sollte nicht gewechselt werden wie ein Hemd. Das heißt, dass der Therapeut
nicht heute die Verantwortung therapeutisch übernehmen kann und vorgeben kann, was
getan wird, und morgen Eigeninitiative einfordert. Es gilt so mit dem Menschen zu
arbeiten, dass beides möglich ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Therapeut
und Patient oft gemeinsam verantwortlich sind. Dennoch scheint es sinnvoll, in der
Therapie klarzumachen, wer wofür verantwortlich ist. MI kann für die Physiotherapie
ein großer Gewinn sein, unabhängig davon, wer das Problem letztlich löst. Die Haltung
und die Techniken lassen sich sehr gut in die Praxis integrieren. Für weitere sinnvolle
Werkzeuge lohnt sich beispielsweise ein Blick in das Buch „Motivierende Gesprächsführung“
von William R. Miller und Stephen Rollnick und natürlich ganz viel Übung. Denn am
Ende des Tages sind die Fähigkeiten und die konkrete Anwendung entscheidend. Oder
wie Moshé Feldenkrais anführte: „Du kannst nur tun, was du willst, wenn du weißt,
was du tust.“
Zum Vertiefen – physiopraxis-Artikel 3/15
Zum Vertiefen – physiopraxis-Artikel 3/15
Sie möchten mehr zu Motivational Interviewing erfahren? Sie sind neugierig geworden,
wie es sich in Ihre tägliche Praxis integrieren lässt? Mit Hintergrundinfos aus dem
Artikel „Partnerschaftlicher Umgang mit Patienten“ aus physiopraxis 3/15 wird Ihnen
der Transfer in die Praxis gelingen. Einfach unter
www.thieme-connect.de/products/physiopraxis
> „Ausgabe 11-12/19“ herunterladen.