Osteologie 2020; 29(02): 106-107
DOI: 10.1055/a-0976-2845
Editorial

Interaktion zwischen Muskel und Knochen

Muscle and Bone Interaction
Franz Jakob
Universität Würzburg, Bernhard-Heine-Centrum für Bewegungsforschung, Klinische und Experimentelle Osteologie
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Das Organ, das am intensivsten mit dem Knochen interagiert, ist die Muskulatur. Es ist praktisch eine Alltagserfahrung, dass Bewegung und Training eine Muskelhypertrophie verursachen. Der Einsatz körperlicher Kraft bewirkt indes als Allererstes eine Einwirkung physikalischer Kräfte auf den eigenen Organismus und hier besonders auf den Knochen und die Sehnen und Bänder als unmittelbare Bestandteile der muskulo-skelettalen Funktionseinheit.

Schon lange ging man davon aus, dass die Entwicklung großer Muskelkraft bzw. die Einwirkung physikalischer Kräfte auf den Knochen auch eine Formveränderung, oft eine Hypertrophie des Knochens bewirken würde. Das 1892 veröffentlichte Wolff’sche Gesetz (Julius Wolff, Gesetz der Transformation der Knochen) fasste diese Arbeitshypothese in einer wissenschaftlichen Schrift zusammen. Das Gesetz hat sehr viel zu tun mit dem amerikanischen Leitsatz des Designs „form follows function“, der wiederum erstmals bereits 1852 von dem amerikanischen Bildhauer Horatio Greenough geprägt wurde. Auch der amerikanische Architekt Louis Sullivan, der als „Vater der Hochhäuser“ bezeichnet wird und Ende des 19. Jahrhunderts großen Einfluss auf die damalige Architektur in den Staaten ausübte, hat diesen Satz noch weiter ausgebaut und über die Architektur hinaus beinahe auf alle Gebiete des Lebens angewendet.

In unserem Gebiet der Lebenswissenschaften und der Interaktion zwischen den lebenden „Materialien“ Muskel und Knochen gewinnt das Gesetz noch zusätzlich eine dynamische Facette, da die Adaptations- und Regenerationsfähigkeit der Gewebe eine Anpassung an sich ändernde Umgebungsbedingungen erlauben. Die molekularen Mechanismen der dynamischen Anpassung sind erst in den letzten 2–3 Dekaden wirklich tiefergehend aufgeklärt worden. Das scheinbar sehr inerte „Material“ Knochen ist damit plötzlich zum Leben erwacht, und die dynamischen Anpassungsvorgänge sind beispielsweise in der Raumfahrtforschung durch simulierte Mikrogravitation intensiv untersucht worden. Mit zunehmender Alterung unserer Gesellschaften und mit zunehmend immobiler Lebensweise gewinnt das vermeintlich exotische Problem des Knochen- und Muskelmasse-Verlusts durch Mangel an Bewegung und Einwirkung physikalischer Kräfte nun die Dimension eines gesellschaftsweiten Problems. Spätestens jetzt muss man die Muskulatur selbst in die Untersuchungen mit einbeziehen, da deren intrinsische Funktionsstörungen durch Atrophie und Erkrankungen geeignet scheinen, sich negativ auf die Erhaltung der Knochenmasse und der Frakturresistenz auszuwirken. Wir haben dafür aber nur ungenügende alltagstaugliche Messmethoden, und zudem sind die Bezugsgrößen und die Schwellendefinition für die Diagnose einer Sarkopenie noch in ständiger Diskussion. Funktion und Masse korrelieren bei der Muskulatur noch viel weniger miteinander als beim Knochen, sodass wir dringend neue Strukturanalysen und Messmethoden brauchen, um qualitative und funktionelle Veränderungen der Muskulatur besser beschreiben zu können.

In diesem Themenheft beschäftigen wir uns erneut ausführlich mit den molekularen Mechanismen der Interaktion zwischen Muskel und Knochen, mit den Auswirkungen der Entlastung und der Immobilisation, mit potenziell aussichtsreichen Methoden der bildgebenden Darstellung der Muskulatur und mit der Frage „Wie damit umgehen im klinischen Alltag?“, wenn uns schwammige Begrifflichkeiten eine zu geringe Hilfestellung geben. Wir möchten Sie zum Stand der Wissenschaft informieren und gleichzeitig Entwicklungen aufzeigen, die Hoffnung machen, unser Arsenal für das Management der Osteoporose in all seinen Facetten immer effektiver kennenzulernen und anzuwenden. In diesem Sinne wünschen wir allen unseren Leserinnen und Lesern viel Freude an diesem Heft – trotz schwieriger Zeiten.



Publication History

Article published online:
02 June 2020

© Georg Thieme Verlag KG
Stuttgart · New York