physiopraxis 2020; 18(01): 10-13
DOI: 10.1055/a-0975-1768
Profession
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Zwischen zwei Polen – Evidence-based Practice versus erfahrungsbasierte Therapie

Jakob Tiebel
,
Martin Huber
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Publikationsdatum:
20. Dezember 2019 (online)

 

Therapeuten sollen heute nicht mehr nach Intuition und Gefühl behandeln. Vielmehr sollen sie sich an klinischen Leitlinien orientieren. Wird klinische Entscheidungsfindung damit zu einem rationalen Denkprozess stilisiert? Schließen Vernunft und Gefühle einander aus? Für vernünftige Entscheidungen, so heißt es, braucht es einen kühlen Kopf. Doch stimmt das wirklich?


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Jakob Tiebel

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Jakob Tiebel ist Ergotherapeut, studiert Psychologie und ist leitender Produktmanager in der Medizintechnik.

Martin Huber

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Martin Huber, MSc (Neurorehabilitation), ist Physiotherapeut, er lehrt an der ZHAW in Winterthur und an der Physiotherapieschule Konstanz.

1982 betrat ein außergewöhnlicher Patient das Behandlungszimmer des portugiesischen Neurologen Antonio Damasio. Sein Name war Elliot, dem einige Monate zuvor aufgrund eines Tumors ein Teil des präfrontalen Kortex entfernt werden musste. Elliot zeigte weder sensomotorische noch kognitive Störungen, und dennoch hatte sich sein Leben radikal verändert. Er wies eine empfindliche Störung seiner Entscheidungsfähigkeit auf und konnte unermüdlich darüber nachdenken, ob nun das eine oder das andere richtig ist. Nur zu einem Entschluss kam er nie [1].

Während Elliot ständig Entscheidungen gegeneinander abwog, war in einem anderen Fall das rasche Urteil lebensnotwendig: Einen schnellen Entschluss musste Chesley Sullenberger am 15. Januar 2009 fassen. An diesem Tag startet der Inlandflug 1549 vom New Yorker Flughafen La Guardia. Kurz nach dem Start kollidiert ein Schwarm Gänse mit der Maschine. Beide Triebwerke fallen aus. Eine Rückkehr zum Flughafen? Einen Absturz mitten in New York riskieren? Entgegen aller Routinen entscheidet sich der erfahrene Pilot gegen La Guardia – und für eine Notwasserung auf dem Hudson River. Das Manöver gelingt. Pilot Sullenberger verhindert die Absturzkatastrophe inmitten von New York und rettet allen Passagieren, der Crew und sich selbst das Leben [2].

Zwei Beispiele, in denen es um Entscheidungen geht. Auch Physiotherapeuten treffen täglich Dutzende Entscheidungen – aber wie gelangen sie zu diesen? Seit einigen Jahren definiert die Physiotherapie ihr Handlungsfeld in Theorie und Praxis neu. Geprägt von wissenschaftlicher Emanzipation und Professionalisierung [3] verläuft dieser Prozess naturgemäß nicht reibungslos [4]. Stammt die traditionelle Physiotherapie doch aus einer Zeit, in der niemand Anspruch auf evidenzbasierte Behandlungen erhoben hat [5]. Die Erprobung im individuellen Praxisalltag und die „guten Erfahrungen“ reichten als Beleg vollkommen aus. Doch diese Konzepte werden vor dem Hintergrund zunehmender Evidenzbasierung hinsichtlich Aktualität und Wirksamkeit kritisch hinterfragt [6], [7]. Wenn eine junge Profession wie die Physiotherapie allerdings plötzlich mit ihren eigenen Traditionen bricht und unter Anwendung moderner Behandlungsmethoden den Anspruch erhebt, bessere Ergebnisse zu erzielen, dann gerät sie unweigerlich in Widerstreit mit ihrer eigenen Vergangenheit.

Unangenehmer Spannungszustand

Kaum verwunderlich, dass die meisten Therapeuten – trotz des guten Vorsatzes, evidenzbasiert zu arbeiten – ihre Entscheidungen weiterhin auf Grundlage persönlicher Erfahrungen treffen [8]. Scheinbar fühlt sich die Evidence-based Practice (EBP) am Ende doch nicht ganz so gut an. Was aber macht die Umsetzung in die Praxis so schwer? Wie entsteht die Diskrepanz zwischen offen bekundetem Interesse an der EBP und ihrer tatsächlichen Ausführung?

Die Physiotherapie steht hier keineswegs vor einer ungewöhnlichen Herausforderung. In vielen Situationen, die Veränderung betreffen, verhalten sich Menschen entgegen ihren Überzeugungen und zuvor geäußerter Einstellungen [9]. Der Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten ist nüchtern betrachtet gering [10]. In der Theorie der kognitiven Dissonanz beschreibt der US-amerikanische Sozialpsychologe Leon Festinger sogar, wie Menschen dazu neigen, erst auf bestimmte Weise zu handeln, um anschließend ihre Einstellung an das gezeigte Verhalten anzupassen [11].

Was macht die Umsetzung von EBP in die Praxis so schwer?

Dissonanzen zwischen Überzeugungen, Gefühlen und Werten auf der einen und Entscheidungen, Handlungen und Informationen auf der anderen Seite erzeugen innere Spannungszustände, die wir als unangenehm empfinden ([Abb. 1]). Sie bringen unser eigentlich stabiles positives Selbstkonstrukt ins Wanken. Das kann dazu führen, dass wir unser Verhalten unbewusst so stark verändern, dass es sogar als Ausrede bzw. Rechtfertigung dienen kann. Beispielsweise wenn uns bewusst wird, dass eine begonnene Sache anstrengender oder unangenehmer wird als erwartet [12], [13]. Man spricht dabei vom sogenannten Self-Handicapping [14]–[18].

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ABB. 1 Kognitive Dissonanz – ein als unangenehm empfundener Gefühlszustand, den auch Therapeuten kennen. Der Zustand entsteht durch unvereinbare Kognitionen (Gefühle und Werte versus Information und Handlung), die Konflikte (Dissonanzen) produzieren können. Häufig bedienen wir uns hierbei Mechanismen der Abwehr und Vermeidung. Abb.: Thieme Gruppe

Was heißt das im Fall der EBP? Typische Reaktionen auf den gescheiterten Praxistransfer sind:

  • Ich würde ja evidenzbasiert arbeiten. Aber ich habe nicht einmal Zugriff auf die wissenschaftliche Literatur und im Alltag keine Zeit, mich damit zu beschäftigen.

  • Ich sehe doch, dass sich der Zustand meiner Patienten verbessert. Dazu benötige ich keine wissenschaftlichen Untersuchungen.

  • In den Studien wird nicht die eigentliche physiotherapeutische Denkweise abgebildet.

Dem entgegen stehen Aussagen wie:

  • Es wird noch zu viel intuitiv und nach Gefühl gearbeitet.

  • Patienten gehen zur Physiotherapie, um nach dem besten Stand des Wissens behandelt und nicht, um von einem Künstler beglückt zu werden.

  • Es sollten nur noch Methoden angewandt werden, die wissenschaftlich untersucht wurden. Das ist notwendig, um den Wildwuchs an Therapien zu verhindern.

Langfristig wird aus diesen Rechtfertigungen eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Als Menschen glauben wir an die Vorhersage und agieren so, dass sie sich erfüllt. Was als Placebo-Effekt in der Medizin genutzt wird, äußert sich in der Auseinandersetzung mit EBP häufig als Nocebo-Effekt: Skepsis, Unsicherheit, schlechte Erfahrungen und Ängstlichkeit führen dazu, dass EBP per se ein schlechter Einfluss und mangelnde Umsetzbarkeit unterstellt wird [19], [20].

Wie in der Geschichte vom Fuchs und den Trauben des griechischen Fabeldichters Äsop [21], die den unehrlichen Umgang mit der Niederlage beschreibt: Der Fuchs verspürt den Wunsch nach süßen Trauben, bemerkt aber, dass diese für ihn unerreichbar hoch hängen. Da sagt er sich: „Sie sind mir noch nicht reif genug, ich mag keine sauren Trauben.“ Mit erhobenem Haupt stolziert er in den Wald zurück. Um sich nicht eingestehen zu müssen, dass die Anwendung der EBP nicht ganz trivial ist, entschließt sich mancher Therapeut, sie lieber gar nicht erst anzuwenden. In der Psychologie wird ein solches Schönreden eines Versagens auch als Rationalisierung, Kognitive-Dissonanz-Reduktion bzw. Reaktanz bezeichnet [13], [22]–[24].


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Suche nach Orientierung

Bleibt die EBP am Ende doch nur praxisbasierte Evidenz? Eins ist klar: Für viele Therapeuten tritt im Zuge des Paradigmenwechsels eine Suche nach Orientierung ein. Gewohnte, gelernte und als richtig empfundene Vorgehensweisen in der Behandlung werden plötzlich aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse infrage gestellt [4], [25]. Und so endet mancher wissenschaftliche Diskurs in einem inneren Konflikt, der zu Verzweiflung, Resistenz und „Ablehnung aus Selbstschutz“ führt ([abb. 2], S. 12) [11], [26], [27].

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ABB. 2 Zwingen neue Studienerkenntnisse Therapeuten dazu, mit ihren Gewohnheiten zu brechen, folgen häufig Abwehr und Vermeidung – selbst wenn der Kopf weiß, dass es sinnvoll wäre. Ausreden sind schnell gefunden. Abb.: Thieme Gruppe

Auf den Paradigmenwechsel folgt die Suche nach Orientierung.

In der Auseinandersetzung mit der EBP entfachen zwischen Therapeuten Glaubenskriege, die in Verbitterung, Herablassung und Spaltung anstatt in gegenseitiger Würdigung enden. Die Scheltenden versuchen dabei, in evidenzbasierter „Political Correctness“ glaubhaft zu machen, sie seien Gutmenschen. Sie wähnen sich ideologiefrei. Dabei sind sie als strenge Verfechter ihrer Überzeugungen doch selbst einer gewissen Ideologie verhaftet [28], [29]. Die Taktik der Gescholtenen: Introjektion. Durch das Einverleiben äußerer Einflüsse wie durch Imitation wissenschaftlicher Denkweisen werden Anschauungen, Normen oder Werte in die eigene Identität integriert, um das Gegenüber nicht mehr als Bedrohung erleben zu müssen [30], [31].


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Zwischen zwei Stühlen

Hält die Auseinandersetzung mit der EBP überhaupt ausreichend praktisch relevante Implikationen bereit? Wie steht es um den Austausch zwischen Empirie und Wissenschaft? Wie gestaltet sich der Transfer neuer Theorien in die klinische Praxis? Wie viel Theorie braucht die evidenzbasierte Physiotherapie überhaupt, um praktisch gut zu sein? Wie viel therapeutische Denkweise steckt in Studien? Hinsichtlich dieser Fragen divergieren die Meinungen stark. Der Blick auf die Extrempositionen zeichnet ein Bild völliger Abgrenzung [32]. Zahlreiche Praktiker nehmen die eigene berufliche Wirklichkeit bis heute als so komplex wahr, dass es für sie keine Theorie gibt, die ihrem Erleben auch nur annähernd gerecht wird. Genauso gibt es Theoretiker, für die der Sinn und Zweck der Forschung mehr in der Theorie selbst und weniger im Transfergedanken zu liegen scheint. Während den einen Übertragungen aus der Theorie in die Praxis nur in vollkommen unzureichendem Maße Genüge tun, liegt den anderen der Glaube fern, Erfahrungen aus der Praxis könnten auch Implikationen für die Theorie bereithalten [4], [25], [32].


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Keine Entscheidung ohne Gefühl

Als sich Elliot 1982 in Damasios Praxis vorstellte, ahnte der erfahrene Neurologe nicht, dass ihm eine bahnbrechende Erkenntnis bevorstand. Er unterzog Elliot Tests, führte Gespräche mit ihm, befragte seine Angehörigen und kam zu einem Schluss: Elliot war emotional erkaltet. „In den vielen Stunden des Gesprächs mit ihm sah ich nie den Hauch einer Emotion“, berichtet Damasio später. Elliot konnte keine Entscheidungen mehr treffen, weil ihm das Gefühl dafür fehlte. Damasio forschte weiter und fand ähnliche Fälle, in denen Menschen ihr Fühlen verloren hatten – und damit offensichtlich auch ihre Fähigkeit, zu entscheiden [1], [33]–[35].

Von der Antike bis ins 20. Jahrhundert war sich die Wissenschaft einig darüber, dass menschliches Entscheiden rational ist. Damasios Patienten bewiesen jedoch das Gegenteil. Der Zusammenhang zwischen Gefühl und Entscheidungsunfähigkeit führte den Wissenschaftler zur Theorie der somatischen Marker, in der er den Verstand ohne das Gefühl als hilflos erklärte. Anhand empirischer Befunde schaffte es Damasio, die Haltung unter den Forschern zugunsten der Gefühle zu kippen [1], [33]–[35].


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Gefühl allein nicht ausreichend

Sollten wir den Verstand also besser ausschalten und nach Gefühl entscheiden? Liegt der Schlüssel zu einer guten Behandlung doch im Altbewährten – der Intuition? Daniel Kahneman, Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, beschreibt in seinem Buch „Thinking, Fast and Slow“, dass wir 95 Prozent unserer täglichen Entscheidungen in einem „emotionalen Autopiloten“ treffen [36]. Diese kognitive Entlastung macht uns als Menschen überhaupt erst entscheidungs- und handlungsfähig. Denn die unbewussten Prozesse sind äußerst effizient. Würden wir versuchen, alles rational zu entscheiden, ginge es uns am Ende vermutlich nicht besser als Elliot. Glücklicherweise übernimmt der langsame, rational die Dinge durchdenkende Teil unseres Gehirns daher nur in fünf Prozent der Fälle die Verantwortung. Anekdoten über Mediziner mit wunderbarer Intuition sind für Kahneman vor diesem Hintergrund keine große Überraschung: „Sie haben lange Zeit gehabt, um zu Experten zu werden“, erklärt er. „Interessant ist jedoch, dass sie oft Intuitionen haben, auf die sie sich fest verlassen, obwohl sie falsch sind“ [37].

Auf den Bauch allein scheint also kein Verlass zu sein. Zumindest dann nicht, wenn es um gute klinische Praxis geht. Die Eingriffsmöglichkeit unseres Bewusstseins in Entscheidungsprozesse in Abrede zu stellen wäre auch töricht. Dann gäbe es keinerlei überlegtes Handeln mehr [38]. Kahnemans Gedanken gehen allerdings weiter. Er ist überzeugt, dass Computer in Zukunft Behandlungsentscheidungen treffen sollten. Dass Menschen dem kalten Kalkül von Maschinen misstrauen und Patienten sich in Zeiten digitaler Transformation danach sehnen, ganzheitlich behandelt zu werden, sieht der Nobelpreisträger gelassen: „Das ist eine Frage der Gewöhnung. Nehmen Sie nur die evidenzbasierte Medizin, die sich zunehmend verbreitet. Da beruht die Wahl einer bestimmten Behandlung auf klaren, nachvollziehbaren Algorithmen.“ Es gibt strenge Prozeduren. „Da werden stets die gleichen Fragen abgehakt.“ Kein Platz, um sich bei so etwas auf Intuition zu verlassen [36], [38].

Gute Entscheidungen involvieren den Verstand in die Gefühle.


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Rationale Entscheidungen können fehlerhaft sein

Hätte Sullenberger bei seiner Notlandung konsequent die Prozeduren der Luftfahrtbehörden befolgt, dann hätten er und sein Co-Pilot ebenfalls nur eine Checkliste abgehakt. Eine Checkliste, die jedoch nie für genau diesen Notfall konzipiert wurde. Sie hätten versucht, zum Flughafen zurückzufliegen. Angesichts der fliegerischen Meisterleistung erscheint es paradox, dass die Flugbehörden unmittelbar nach der Notwasserung umfangreiche Ermittlungen gegen Sullenberger einleiteten. Computersimulationen hatten im Nachhinein gezeigt, dass eine Rückkehr zum Flughafen theoretisch möglich gewesen wäre. In einer Computersimulation an einem Bildschirm. Die US-Behörden brauchten sechs Monate, um doch zur selben Entscheidung wie Sullenberger zu kommen [33]. Er selbst kommt zu einer nüchternen Erkenntnis: „Not every situation can be foreseen or anticipated. There isn’t a checklist for everything.”


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Theorie-Praxis-Transfer kann gelingen

Liegt das Geheimnis guter Entscheidungen also darin, dass wir unseren Verstand in unsere Gefühle involvieren? Dann läge die Wahrheit in der Mitte zwischen den Polen einer rein wissenschaftlichen und rein empirischen Sichtweise. Der Sozialpsychologe Kurt Lewin erklärt, dass nichts praktischer sein kann als eine gute Theorie und nichts theoriegewinnender als eine gut funktionierende Praxis. Seine Erkenntnis beruht auf der Einsicht, dass erfolgreiches praktisches Handeln, das nicht nur zufällig erfolgreich ist, von der Annahme darüber geleitet sein muss, welcher Zusammenhang zwischen einer Handlung und ihrer Wirkung besteht [39], [40]. Etwas kompliziert beschreibt genau diese Denkhaltung einen funktionierenden Theorie-Praxis-Transfer, durch den Wissen systematisch gesammelt, erweitert, gelehrt und tradiert werden kann [41].

Es ist gut, dass die Physiotherapie gegenwärtig so bestrebt ist, das eigene Denken und Handeln nach den Regeln der Wissenschaft von althergebrachten, starren und überholten Vorstellungen, Vorurteilen und Ideologien zu befreien und Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu schaffen. Sie sollte ihren reichhaltigen Erfahrungsschatz und ihre Gefühle dabei nur nicht in Abrede stellen. Das Erkennen von kausalen Zusammenhängen und das Verstehen therapeutischer Wirkprinzipien allein schafft kein Vertrauen in die therapeutischen Fähigkeiten und führt offensichtlich nicht zu guten Entscheidungen. Im Gegenteil. Eine Erkenntnistheorie, die Emotionen und Vernunft zu trennen versucht, wird eher das Entscheidungsverhalten eines Hirngeschädigten als das eines Gesunden beschreiben [34].

Und so liegt auch in der EBP die Herausforderung im „Grenzgebiet zwischen bekanntem und unbekanntem Terrain, zwischen Empirie und Wissenschaft, zwischen ‚Wir sehen doch, dass es funktioniert‘ und wissenschaftlicher Evidenz“ [5]. Es wäre also nicht nur schade, sondern sogar schädlich, die therapeutische Entscheidungsfindung ausschließlich mit Ergebnissen klinischer Studien zu begründen. Die Individualität des Patienten bliebe unberücksichtigt, und die Entscheidungsfähigkeit des Therapeuten wäre infrage gestellt. Dann könnten tatsächlich Computer therapeutische Aufgaben übernehmen, was Anlass zu neuen Diskussionen gäbe [42].

EBP ist kein Behandeln nach Kochbuch, schreibt der Pionier der evidenzbasierten Medizin David Sackett [43]. Die externe Evidenz soll, kann und muss in seinen Augen die individuelle klinische Expertise unterstützen und erweitern, aber sie kann und darf diese nicht ersetzen [43]. Die EBP muss die Verbindung zwischen wissenschaftlichen Theorien und Realität herstellen. Aufbauend auf vorhandenem Erfahrungswissen und dazu dienend, es stetig weiterzuentwickeln.


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  • Literaturverzeichnis

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  • 41 Brockhaus Enzyklopädie. 19. Auflage, Mannheim
  • 42 Baumgart S. Wieviel Evidenz brauchen unsere Patienten oder das Dilemma in unserer leitliniengeprägten Gesundheitsversorgung EBM1 und EBP2 - das Nonplusultra unseres Handelns? VPT. Im Internet http://m.vpt.de/news/detail/wieviel-evidenz-brauchen-unsere-patienten-oder-das-dilemma-in-unserer-leitliniengepraegten-gesundheitsversorgung-ebm1-und-ebp2-das-nonplusultra-unseres-handelns/ Stand: 15.10.2019
  • 43 Sackett DL, Rosenberg W, Gray JAM. et al Evidence based medicine: what it is and what it isn't. British Medical Journal 1996; 312: 71

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ABB. 1 Kognitive Dissonanz – ein als unangenehm empfundener Gefühlszustand, den auch Therapeuten kennen. Der Zustand entsteht durch unvereinbare Kognitionen (Gefühle und Werte versus Information und Handlung), die Konflikte (Dissonanzen) produzieren können. Häufig bedienen wir uns hierbei Mechanismen der Abwehr und Vermeidung. Abb.: Thieme Gruppe
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ABB. 2 Zwingen neue Studienerkenntnisse Therapeuten dazu, mit ihren Gewohnheiten zu brechen, folgen häufig Abwehr und Vermeidung – selbst wenn der Kopf weiß, dass es sinnvoll wäre. Ausreden sind schnell gefunden. Abb.: Thieme Gruppe