ergopraxis 2020; 13(01): 14-19
DOI: 10.1055/a-0975-0678
Ergotherapie
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Lebensqualität in allen Stadien – Ergotherapie bei Mammakarzinom

Isabel Pech
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Publication Date:
03 January 2020 (online)

 

Brustkrebs stellt bei Frauen mit Abstand die häufigste Tumorerkrankung dar. Ihre Behandlung bringt unterschiedliche Nebenwirkungen mit sich. Dabei ist es Aufgabe der Ergotherapie, die Klientinnen mit individuellen Hilfsmitteln und Interventionen in jedem Krankheitsstadium zu unterstützen.


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Isabel Pech

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Isabel Pech ist seit 2010 Ergotherapeutin und schloss 2013 ihren Bachelor of Health in den Niederlanden ab. Zudem hat sie eine Ausbildung zur kreativen Tanz- und Ausdruckstherapeutin absolviert und arbeitet seit 2011 in einer onkologischen Reha-Klinik in Scheidegg. Sie hat die Leitung der AG Onkologie des DVE inne und ist Mandatsträgerin für den DVE bei der Zertifizierungskommission für Brustkrebszentren der Deutschen Krebsgesellschaft.

Lernziele

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Abb.: HomeFotoStudio Rita Rohde Fotografie | www.homefotostudio.de [rerif]

Tipps

No-Gos

  • oberflächliches Trösten und Beschwichtigen

  • unzulängliche Vergleiche

  • verfrühte und falsche Prognosen

  • falsche und unkonkrete Erwartungen an die Klientinnen stellen

  • bevormunden, Vorschriften erteilen

  • bagatellisieren oder dramatisieren

To-Dos

  • den Klientinnen deutlich machen, dass sie alle Emotionen, zum Beispiel Schwäche, zeigen dürfen

  • zum Authentisch-Sein ermutigen und es auch selbst sein

  • als Therapeut über die Nebenwirkungen und Folgestörungen der Krebstherapie Bescheid wissen

  • empathisch sein, aber auch auf die eigene Psychohygiene achten

  • Klientinnen informieren, aufklären; Kommunikation auf Augenhöhe

  • erweiterten Klienten einbeziehen

  • Sie wissen um die häufigsten Nebenwirkungen einer Brustkrebstherapie und kennen Interventionsangebote, mit denen Sie Ihre Klientinnen unterstützen können.

  • Ihnen ist klar, wie Sie Klientinnen mit Mammakarzinom und entsprechenden Begleiterscheinungen hinsichtlich Adaptionen und Hilfsmitteln beraten können.

Für viele ist das unvorstellbar: Eben noch kerngesund und mit voller Kraft im Leben. Dann sagt der Arzt, dass man Brustkrebs hat und todkrank ist. Für Betroffene und ihr Umfeld bricht in diesem Moment die Welt zusammen. Das noch so weit entfernt gedachte Lebensende scheint zum Greifen nah.

Nicht selten geben Personen mit Beginn der Krebstherapie ihre Autonomie auf und begeben sich in die Hände von medizinischem Fachpersonal. Es folgt ein Ärzte-, Klinik-, Behandlungs- und Therapiemarathon. Die Angst vor dem Tod oder einer erneuten Erkrankung sitzt tief. Damit geht jede Person anders um.


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Gestiegene Heilungsrate

Brustkrebs ist bei Frauen mit Abstand die häufigste Krebserkrankung. Jährlich gibt es laut Zentrum für Krebsregisterdaten in Deutschland ca. 69.000 Neuerkrankungen. Fast 30 Prozent sind bei der Diagnosestellung jünger als 55 Jahre. Derzeit bekommt eine von 8 Frauen im Laufe ihres Lebens Brustkrebs. Dennoch kann die Erkrankung auch Männer betreffen – hierzulande jährlich etwa 650 [1]–[4]. Einmal daran erkrankt, ist die Angst vor der Wiedererkrankung, dem Rezidiv, oftmals ein ständiger Begleiter. Denn bei 25 Prozent aller Betroffenen stellt man nach einer Ersterkrankung Metastasen fest [5].

Das Mammakarzinom ist heutzutage rechtzeitig diagnostiziert erfolgreicher behandelbar, als es früher der Fall war. Dank verbesserter Früherkennung, neuer medikamentöser, operativer und strahlentherapeutischer Therapiekonzepte und der interdisziplinären Betreuung in zertifizierten Zentren, ist die Heilungsrate während der letzten 10 Jahre gestiegen. So sind 81,6 Prozent auch noch 5 Jahre nach der Diagnose am Leben [4].


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Jede Tumortherapie ist anders

Der genaue Behandlungsplan für Klientinnen mit Krebs entsteht heutzutage meist im Rahmen von interdisziplinären Tumorkonferenzen, an denen unter anderem Onkologen, Gynäkologen und Radiologen teilnehmen. Je nach Klassifikation des Tumors können neben brusterhaltender OP oder Brustentfernung (Ablatio mammae) auch Lymphknotenentfernungen, Chemo-, Strahlen-, Hormon- und Antikörpertherapien zum Einsatz kommen [6], [7]. Diese Verfahren bringen wiederum Nebenwirkungen und Folgestörungen mit sich. Sie sind nicht immer von außen sichtbar, spielen aber für die Behandlung und den Alltag der Person eine wichtige Rolle. Zu ihnen zählen zum Beispiel Fatigue, kognitive Dysfunktion oder psychische Beeinträchtigungen [8].

Nach Abschluss der ambulanten oder stationären Erstbehandlung können die Klientinnen eine Anschlussheilbehandlung oder eine onkologische Rehabilitationsleistung in Anspruch nehmen. Dazu müssen sie Voraussetzungen wie eine abgeschlossene Erstbehandlung (OP, Chemo- oder Strahlentherapie) und eine ausreichende Reha-Fähigkeit erfüllen [9].


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Infomaterial – Für Klientinnen und Therapeuten

  • Informationen zur Polyneuropathie durch Chemotherapie bietet die Bremer Krebsgesellschaft: www.bremerkrebsgesellschaft.de > „Mediathek“ > „Broschüren und Flyer“ > „Patientenratgeber Polyneuropathie“.

  • Zur Aufklärung von Kindern über Krebserkrankungen dient zum Beispiel das kostenlose Bilderbuch „Der Zauberkopf“ und die App „Zauberbaum“, herausgegeben von „Mamma Mia! Das Brustkrebsmagazin“ ( www.mammamia-online.de ). Außerdem gibt es eine Internetplattform speziell für Kinder und Jugendliche von an Brustkrebs erkrankten Müttern: www.pink-kids.de .

  • Der Verein Tanztherapie nach Krebs e. V. veranstaltet Seminare für Frauen und ihre Angehörige mit den Zielen, die Kommunikation zu fördern und neue Handlungsmöglichkeiten für ein stressfreies Familienleben zu finden: www.tanztherapie-nach-krebs.de .

  • Nadja Will, eine ehemalige Brustkrebsklientin der Autorin, betreibt den „Think Pink Club“ ( www.think-pink.club ), um Menschen, Institutionen, Organisationen und Unternehmen über Brustkrebs und den Umgang damit zu informieren.

  • Nach einer Brustkrebsoperation klagen viele Klientinnen über Druck- bzw. Wundschmerzen in den Achselhöhlen. Um diese zu lindern, gibt es das sogenannte Herzkissen. Inzwischen existiert in Dänemark und auch in einzelnen Städten in Deutschland ein großes Netzwerk von Näherinnen, die durch ehrenamtliches Engagement regelmäßig Kissen für die Betroffenen nähen: sites.google.com/site/herzkissenindeutschland.

  • Die Kampagne „Know your lemons“ verdeutlicht die Alarmzeichen einer Brustkrebserkrankung bildlich anhand von Zitronen: www.knowyourlemons.com .


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Die Rolle der Ergotherapie

Die Krebserkrankung und die Therapie können tägliche Routinen, Selbstversorgung, Beruf, Freizeit und soziale Aktivitäten beeinträchtigen [10]. Aufgrund der ansteigenden Lebenserwartung der Bevölkerung steigt auch die Inzidenz onkologischer Erkrankungen. Ergotherapeuten besitzen die Expertise, in allen Erkrankungsstadien zu intervenieren, auch unter Einbezug des erweiterten Klienten. Dazu gehören die Palliativ- und Hospizversorgung sowie die Sterbebegleitung [11].

Mehrere Quellen sprechen dafür, dass „für präventive Maßnahmen eine Zuweisung zur Ergotherapie möglichst früh erfolgen soll“ [12], [13]. Ergotherapie spielt somit nicht nur in der tertiären Prävention, sprich in der Rehabilitation, eine Rolle. Sie sollte schon in der primären Prävention Anwendung finden, etwa indem sie gesundheitsfördernde Lebensbedingungen berücksichtigt: Work-Life-Balance, Stressmanagement, Unterstützung und Begleitung von Frauen mit Hochrisikogenen für erblichen Brustkrebs usw. [14].


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Sensible Themen berücksichtigen

Im Umgang mit onkologisch erkrankten Personen ist Empathie sehr wichtig, da viele das Gefühl der Unbeschwertheit des Lebens nicht mehr verspüren (TIPPS, S. 15) [16], [17]. Sie müssen sich mit Veränderungen ihres Körpers auseinandersetzen, sind erschüttert, verängstigt und verunsichert.

Für eine ganzheitliche Behandlung ist ein umfangreiches Hintergrundwissen zu verschiedenen Folgeerscheinungen sowie Einflüssen wichtig. Dabei geht es auch um unausgesprochene und sensible Themen wie Weiblichkeitsverlust durch ein verändertes Körperbild. Dieses kann durch Brustentfernung, Haarausfall oder Gewichtsveränderungen entstehen. Außerdem zählen Themen wie eingeschränkte Sexualität, Partnerschaftsprobleme oder ein unerfüllter Kinderwunsch dazu.

Therapeuten arbeiten oft sehr körpernah. Da während und nach der Krebstherapie das Immunsystem geschwächt ist, ist es wichtig, auf eine gute Desinfektion zu achten. Vorsicht ist geboten, wenn Mitarbeiter, andere Klientinnen oder das soziale Umfeld der behandelten Person ansteckend krank sind.


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Eine irreale Situation

Auch der Alltag der 40-jährigen Bürokauffrau Frau Bauer stellte sich von jetzt auf gleich mit der Diagnose „Mammakarzinom rechts“ auf den Kopf. Sie ist verheiratet und hat zwei Töchter. Mit Beginn der Krebstherapie musste sie ihre bisherige Autonomie infolge der vielen aufwendigen Therapien aufgeben. In der neuen Rolle der erkrankten Frau und die der mündigen und selbstbewussten Klientin sucht sie tapfer und wissbegierig ihren Weg durch das Gesundheitssystem. Gefühlen wie Todesangst, Panik, Unsicherheit oder Scham gibt sie vorerst keinen Raum. Sie setzt eine Maske auf, um für sich und ihre Familie stark zu sein. Dabei fragt sie sich, wie Angehörige, Freunde, Kollegen, das Gesundheitssystem und sie selbst mit der Situation umgehen werden.

Frau Bauers ambulante Erstbehandlung umfasste nach der Ablatio mammae eine Bestrahlung sowie eine sechsmonatige ambulante Chemotherapie. Nun kommt sie für drei Wochen in eine Reha-Klinik. Unter Tränen berichtet sie ihrer Ergotherapeutin: „Ich habe das Vertrauen in meine eigene Gesundheit und in mich von jetzt auf gleich verloren.“ Auch die Frage nach dem „Warum“ kann ihr trotz ihres gesunden Lebensstils niemand beantworten. Sie wusste, wer sie war und wohin ihr Weg ging. Sie war sich sicher, dass ihr Leben gut läuft. Dann ertastete sie im letzten Urlaub einen kleinen Knoten in der rechten Brust. Frau Bauer begreift erst jetzt in der Reha, was mit ihr passiert ist. Für sie wirkt das alles noch sehr irreal.

Bei der Aufnahme formuliert das interprofessionelle Team zusammen mit den Klientinnen an der ICF orientierte Ziele. Frau Bauer ist es unter anderem wichtig, die Nebenwirkungen der Krebstherapie zu lindern und dass sie in ihren Beruf zurückkehren kann. Darauf aufbauend entsteht ihr individueller Therapieplan für die Reha.


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Das Onkobrain

Frau Bauer verpasste in der Reha-Klinik ihren ersten Ergotherapietermin, weil sie ihn schlicht vergessen hat. So etwas war ihr nach der Diagnosestellung schon öfter passiert. Ursachen für funktionelle Störungen der Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, des Kurzzeitgedächtnisses, der Fähigkeit, komplexe Aufgaben auszuführen, sowie Wortfindungsstörungen sind die psychische Belastung und das Schockerlebnis der Diagnose – das sogenannte „Onkobrain“ [8], [9]. Das Konzept des „Chemobrain“, bei dem die Chemotherapie lange als alleinige Ursache für kognitive Einbußen galt, ist widerlegt [18].

Diese und weitere Informationen erhält Frau Bauer zu Beginn der Gruppentherapie zum Hirnleistungstraining von ihrer Ergotherapeutin. Hier profitieren die Frauen voneinander, indem sie erfahren, dass es anderen ähnlich geht, und fühlen sich verstanden. Eine Person berichtet zum Beispiel, dass sie mit dem Auto zum Einkaufen und mit der U-Bahn nach Hause gefahren sei. Zu Hause angekommen, dachte sie, man habe ihr das Auto gestohlen.

Im Rahmen des Hirnleistungstrainings können alltagsorientierte Übungen, planerisches Denken, Konzentrationsübungen, Spiele oder Teile aus Life Kinetik zum Einsatz kommen [19], [20]. Bei Letzterem handelt es sich um ein Bewegungstraining mit kognitivem Anspruch, das vor allem Spaß machen soll. Ziel ist es, neue Vernetzungen im Gehirn zu schaffen, durch die der Alltag leichter fallen soll. Grundsätzlich trainiert man ausschließlich Dinge, die man noch nie zuvor gemacht hat, um neue Vernetzungen im Gehirn zu schaffen. Dazu zählt zum Beispiel, zwei Bälle parallel vor dem Körper hochzuwerfen und mit überkreuzten Händen wieder aufzufangen.

Besonders hilfreich sind für Frau Bauer die Methoden zum Namenmerken: Sie kann diese Mnemotechniken gleich in der Reha erproben und sich damit die Namen der Therapeuten und anderen Klientinnen leichter merken [21]. Die Ergotherapeutin vermittelt zudem Tipps für Übungsbücher, etwa von Dr. med. Franziska Stengel, Zeitschriften wie „Geistig Fit“ der Gesellschaft für Gehirntraining, Apps und PC-Programme (Cogpack, RehaCom, Fresh Minder usw.).


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Weit verbreitete Nebenwirkung: Fatigue

Während der Tumortherapie sind etwa 60 bis 90 Prozent, nach beendeter Therapie 20 bis 50 Prozent von Fatigue betroffen. Meist klingen diese Beschwerden nach sechs Monaten wieder ab, können aber auch Jahre andauern [22]. Auch Frau Bauer ist von diesem körperlichen, geistigen und seelischen Erschöpfungszustand betroffen. Häufig fehlt dem Umfeld dafür das Verständnis. Gut gemeinte Tipps wie „Leg dich doch kurz hin“ helfen ihr nicht.

In aktuellen Studien wurde insbesondere die Fatigue als signifikanter negativer Prognosefaktor für die Rückkehr in den Erwerbsprozess („Return to Work“) nachgewiesen [10]. Es hat sich gezeigt, dass Klientinnen mit Fatigue psychisch, physisch und kognitiv von regelmäßigen angeleiteten und überwachten Trainingsprogrammen profitieren [8]. Die Symptomauswirkungen auf den Alltag lassen sich dabei durch Energiemanagement-Strategien reduzieren. Dazu wendet die Ergotherapeutin der Reha-Klinik ein diagnoseunabhängiges, wissenschaftlich belegtes ergotherapeutisches Gruppentherapieprogramm für Menschen mit Fatigue an: die Energiemanagement-Schulung (EMS) [24].


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Polyneuropathie in Händen und Füßen

Neben Fatigue ist die klinisch relevanteste Nebenwirkung die chemotherapieinduzierte Polyneuropathie (CIPN). Dabei verursachen verschiedene Behandlungsarten wie Strahlentherapie oder der Einsatz von Zytostatika Störungen an den Nervenenden in Händen und Füßen, die zu sensorischen und motorischen Ausfällen führen [25], [26].

Durch die Krebstherapie verändert sich die Sicht der Klientinnen auf ihren Körper.

Frau Bauer hört zu Beginn ihres Reha-Aufenthaltes einen Vortrag zur Aufklärung über die Ursache der CIPN, den Verlauf sowie ihre Auswirkungen auf den Alltag und Therapiemöglichkeiten. Neben starkem Kribbeln, Brennen oder Stechen in den Fingerspitzen und Füßen sind die Reflexe der Klientin reduziert. Das äußert sich zum Beispiel darin, dass ihr immer wieder Geschirr aus der Hand fällt. Aufgrund des Kraftverlustes hat sie Schwierigkeiten, Flaschen zu öffnen. In den Füßen verspürt sie eine Art Anlaufschmerz, und sie fühlt sich, als wäre sie „100 Jahre alt“. Vor dem Reha-Aufenthalt benötigte die Klientin aufgrund von Gleichgewichtsproblemen, Trittunsicherheit, Muskelschwäche und -krämpfen einen Rollator, was der 40-Jährigen vor den Nachbarn sehr peinlich war. Geschlossene Schuhe empfindet sie als unangenehm: Es fühlt sich für sie so an, als wäre der Schuh zu eng. An manchen Tagen hat sie den Eindruck, als würde sie auf einer Falte in der Socke laufen. Eine andere Klientin beschreibt im Gegensatz dazu Taubheitsgefühle, wodurch die Verletzungsgefahr im Alltag erhöht ist. So hatte sie beispielsweise einen Reißnagel in ihrem Wanderschuh nicht bemerkt.


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Sensibilitätstraining wirkt

In den ergotherapeutischen Gruppentherapien „Sensibilitätstraining Hände und Füße“ lernt Frau Bauer verschiedene Behandlungsmöglichkeiten der CIPN kennen. Ihre Ergotherapeutin gibt ihr Tipps, in welcher Form, ergänzend zu den klassischen Raps- und Linsenbädern, sich Alltagsmaterialien wie eine elektrische Zahnbürste, Kugelschreiber oder Fußmatten für ein Sensibilitätstraining zweckentfremden lassen. Feinmotorik, Kraft und Koordination lassen sich mit Münzen, Wäscheklammern oder Flaschen trainieren. Auch die natürliche Umwelt lässt sich durch Outdoor-Barfußpfade, Wiesen, Waldboden mit Tannenzapfen oder Steinen in die Therapie einbeziehen.


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Emotionen ausdrücken

Der Einsatz von künstlerischen Therapien, Massagen, Entspannungs- und imaginativer Verfahren in der Ergotherapie ist unter anderem in der S3-Leitlinie „Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten“ beschrieben [31]. Bei der kreativen CIPN-Therapie beispielsweise kommt Frau Bauer zur Ruhe und findet einen Zugang zu sich und ihren Gefühlen. Dazu dienen Körperreisen, Achtsamkeitsübungen, Öl-Zucker-Handmassagen oder heilsames Händeberühren.

Im Anschluss kann sie mit Ton oder Fingerfarben das Erlebte kreativ ausdrücken und verarbeiten. Viele Frauen finden hierbei genauso wie bei der Tanztherapie einen Zugang zu ihren unterdrückten Gefühlen wie Angst und Scham und können ihre Maske ablegen. Studien zu Tanztherapie mit Krebsklienten zeigen signifikante Verbesserungen in den Bereichen Lebensqualität, Angst, Depression und Selbstwert [32], [33].


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Hilfsmittel und spezielle Kleidung

Die Klientin ließ sich bereits vor Beginn der Chemotherapie vom Arzt eine Perücke verordnen, die sie aber kaum trägt. Ihr sind Mützen und Tücher lieber. Im Rahmen der ausdruckszentrierten Therapie färbte sie einen Seidenschal, da sie aufgrund der fehlenden langen Haare am Hals schnell friert. Bei der Herstellung einer Filzkette mit passenden Ohrringen entdeckte sie ein neues Hobby und fand einen Weg, ihr Gedankenkarussell zu stoppen sowie Ruhe und Kraft zu tanken. Ihre Kunstwerke werden von anderen Klientinnen und ihrer Familie bewundert. Dadurch schöpft sie wieder Selbstbewusstsein.

Aufgrund der Ablatio mammae der rechten Brust hat Frau Bauer Narben, die ihre Schulter-Arm-Beweglichkeit einschränken. In der Ergotherapie berichtet sie, dass sie ihrem Hobby Schwimmen nicht nachgehen kann, weil sie sich schämt. Auch die Partnerschaft der 40-Jährigen litt aufgrund von Ängsten, Haarausfall, der Brustentfernung sowie der Gewichtszunahme durch die antihormonelle Therapie. Die Ergotherapeutin informiert sie in Zusammenarbeit mit der Breast Care Nurse und dem Sanitätshaus über spezielle Mode für brustoperierte Frauen. Dank BHs und Bademode mit Protheseneinlage fühlt sie sich wieder weiblicher und kann ihr Hobby ausüben. Außerdem gibt es Tätowierer, die brustoperierten Frauen 3-D-Brustwarzen bzw. Brusttattoos zaubern [34].


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Den Arbeitsplatz anpassen

Langzeiteffekte einer Krebserkrankung können zu Teilhabeproblemen im Arbeitsleben führen [35]. Die Rückkehr an den Arbeitsplatz kann die Krankheitsverarbeitung unterstützen und bringt für viele Klientinnen wieder Normalität und Lebensqualität [8], [36], [37]. In der Einzeltherapie erhält Frau Bauer im Rahmen der „medizinisch-beruflich orientierten Reha (MBOR)“ eine Arbeitsplatzberatung (ERGOPRAXIS 1/14, S. 10). Hier erprobt sie Hilfsmittel wie Stiftverdickungen gegen Schreibkrampf, eine Umblätterhilfe wegen der Parästhesien in den Händen oder eine Ergo-Rest-Schiene mit Mousepad, die den Arm mit postoperativem Lymphödem entlastet.


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So früh wie möglich mit Ergotherapie beginnen

Das Arbeitsfeld Ergotherapie in der Onkologie steckt noch in den Anfängen. Aktuell gibt es hierzulande so gut wie keine Studien. Der amerikanische Ergotherapieverband AOTA hat 2017 die Praxisleitlinie für Rehabilitation nach Krebserkrankung herausgegeben, 2019 erschien die deutschsprachige Ausgabe (GEWINNEN). Hierbei gilt es zu prüfen, was sich davon auf den deutschen Kontext übertragen lässt.

Nach dem Leitbild „Hilfe zur Selbsthilfe“ ist es wichtig, Klientinnen gut zu schulen, damit sie nach der Reha weiter trainieren können. Es wäre ideal, wenn sie schon chemotherapiebegleitend Ergotherapie erhalten würden, um mit Geh- und Gleichgewichtstraining, Vibrations- sowie Sensibilitätstraining zu beginnen.

Auch in der Ergotherapieausbildung sollte das Thema Krebs und seine Behandlung intensiver behandelt werden. Daher ist es bedeutsam, dass Therapeuten diesen Fachbereich stärken und sich berufspolitisch, bei der Durchführung von Studien oder in der Leitlinienarbeit einbringen. Nur dadurch können Ergotherapeuten in Deutschland ihre Arbeit wissenschaftlich belegen und ihr Handeln vor Kostenträgern rechtfertigen.


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Abb.: HomeFotoStudio Rita Rohde Fotografie | www.homefotostudio.de [rerif]