ergopraxis 2020; 13(01): 8-9
DOI: 10.1055/a-0975-0560
Gesprächsstoff
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Eine runde Sache! – Lernrad

Martin Huber
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Publication History

Publication Date:
03 January 2020 (online)

 

Motorisches Lernen ist ein zentraler Bestandteil der Neuroreha. Doch was bedeutet das konkret für die Therapie? Bislang fehlen kompakte Bezugsrahmenmodelle, die Praktikern eine Orientierung bieten. Aus diesem Grund entwickelten Martin Huber, Gail Cox Steck und Florian Erzer Lüscher das Lernrad. Es enthält alle relevanten Aspekte des Motorischen Lernens und dient als Farbpalette, mit der Therapeuten Motorisches Lernen individuell gestalten können.


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Auf einen Blick: die verschiedenen Aspekte des motorischen Lernens
Abb.: M. Huber

Herr R. erlitt vor drei Monaten einen Schlaganfall mit einer Hemiparese auf der linken Körperseite. Eins seiner Ziele ist es, zu Hause wieder seinen gewohnten Mittagsschlaf halten zu können. Dabei möchte er selbstständig und sicher die nötigen Positionsveränderungen durchführen. Vor allem der Transfer vom Rollstuhl ins Bett ist momentan nicht ohne Unterstützung für ihn machbar. Dabei ist es sein großes Anliegen, seine Frau zu entlasten.

Modell
Das Lernrad ist ein Modell zum Motorischen Lernen.

Motorisches Lernen gestalten

Nach der stationären Reha befindet sich Herr R. wieder zu Hause und in ambulanter Therapie. Im Zuge des Clinical Reasoning wird für die Partizipations- und Aktivitätsebene deutlich, dass er als Fußgänger unsicher und auf einen Gehstock sowie auf die taktile Unterstützung einer Hilfsperson angewiesen ist. Er benötigt noch einen Rollstuhl. Beim Übergang vom Sitzen zum Stehen bzw. beim Transferieren vom Rollstuhl auf das Bett ist er unsicher. Das Hauptproblem besteht darin, dass er den Oberkörper nicht ausreichend nach vorne über die Unterstützungsfläche (Füße) bewegt. Das hat zur Folge, dass er sich nach hinten in den Rollstuhl schiebt, anstatt das Gesäß abzuheben. So kann er nicht aufstehen. Auf der Körperfunktions- und -strukturebene zeigt sich eine moderate Schwäche der Knie- und Hüftgelenksstrecker auf der mehr betroffenen Seite. Die Konzentrationsfähigkeit ist leicht reduziert.

Die Frage ist: Wie kann das motorische Lernen zur Erreichung des Zieles am besten gestaltet werden? Der Therapeut entscheidet sich für das implizite (unbewusste) Lernen (ABB.). Warum? Aufgrund der eingeschränkten Konzentrationsfähigkeit des Patienten gilt es die kognitiven Anforderungen zu minimieren.


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Transfer

Um eine möglichst hohe Aufgaben- und Umweltspezifität (Transfertendenz) zu erreichen, übt Herr R. die Aktivität im Rollstuhl und an seinem Bett. Zusätzlich stellt der Therapeut einen Stuhl mit dem Stuhlrücken vor ihn. Der Abstand des Stuhls ist so gewählt, dass Herr R. durch die Berührung des Stuhlrückens sein Gewicht nach ventral Richtung Füße verlagert. Zieht er am Stuhlrücken, wird der Stuhl kippelig – das soll er vermeiden.


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Lernformen, Lernstrategien und Instruktion

Das implizite Lernen fördert der Therapeut, indem er die Aufmerksamkeit des Patienten auf den Effekt seiner Bewegung (externaler Fokus) lenkt und nur wenig erklärt. Er instruiert: „Berühren Sie den Stuhl mit Ihrer Hand. Der Stuhl soll ruhig und fest stehen bleiben. Ihre Hand bleibt am Stuhl. Stehen Sie dann auf.“ Für den Anfang teilt der Therapeut die Gesamtbewegung auf und übt nur einen Teil davon mit Herrn R., das Aufstehen (Part Practice). Das macht er, weil dieser Teil der Gesamtbewegung am schwierigsten für den Patienten ist. Über Trial-and-Error-Lernen (Ausprobieren) ermuntert er ihn, erfolgreiche Strategien zu finden.

Praxis
Das Lernrad hilft, das motorische Lernen praktisch umzusetzen.


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Feedback

Nach jeder Bewegungsdurchführung gibt der Therapeut dem Patienten die Möglichkeit zum Selbstfeedback, indem er fragt: „Wie finden Sie die Bewegung? Hat das Aufstehen geklappt?“ Erst im Anschluss daran gibt er ihm sein Fremdfeedback. Dabei bezieht er sich auf den Effekt der Bewegung und sagt: „Der Stuhl ist beinahe gekippt. Beim nächsten Mal soll der Stuhl stabil stehen bleiben.“


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Motivation

Die Erfolgserlebnisse fördern die Selbstwirksamkeit von Herrn R. Darüber hinaus erwähnt der Therapeut, dass er momentan eine Patientin betreut, die anfangs ebenfalls Schwierigkeiten mit dieser Aufgabe hatte und durch das Üben mittlerweile den Transfer selbst schafft. Er betont, dass Herr R. seiner Ansicht nach die gleichen Voraussetzungen hat und er optimistisch ist, dass dieser es auch bald kann. Dadurch beeinflusst er die Erwartungshaltung von Herrn R. an sich selbst und sein Vertrauen in die Therapie.


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Dosierung

Herr R. wiederholt die Bewegung so lange, bis er müde wird und ihm die Bewegungen deutlich schwerer fallen bzw. unkoordinierter werden (Challenge Point). Das ist nach ca. 15 Repetitionen der Fall. Der Therapeut empfiehlt ihm, nach der Behandlung mindestens 30 Minuten Pause zu machen.

Zusätzlich vereinbaren sie ein Eigentraining, das Herr R. ohne „große Umstände“ sicher durchführen kann. Dazu wählen sie einen Teil der Bewegung vom Sitz in den Stand. Der Patient soll im Stuhl nach vorne und nach hinten rutschen, indem er die Bewegung so durchführt, wie er es zuvor beim Aufstehen geübt hat. Das heißt, auch dazu verwendet er einen Stuhl, der vor ihm steht, nur steht er beim Eigentraining nicht ganz auf. Herr R. stimmt zu, dass er dieses Training täglich zweimal mit je 15 Wiederholungen durchführt und seine Fortschritte in der nächsten Therapie in zwei Tagen präsentiert.

Martin Huber, Gail Cox Steck, Florian Erzer Lüscher


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Auf einen Blick: die verschiedenen Aspekte des motorischen Lernens
Abb.: M. Huber