Fortschr Neurol Psychiatr 2019; 87(09): 474-475
DOI: 10.1055/a-0969-3833
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wir sind Neurologie!

We are Neurology!
Claus W. Wallesch Prof. Dr. med.
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Publication Date:
13 September 2019 (online)

„Wir sind Neurologie!“ Wen umfasst das „Wir“ eigentlich – Neurologinnen und Neurologen, sicher auch solche in der Ausbildung, vielleicht auch schon Studierende? Letzteren ermöglicht die Deutsche Gesellschaft für Neurologie die kostenlose Mitgliedschaft.

Formal ist die DGN eine wissenschaftliche medizinische Fachgesellschaft. Aber sind die medizinischen Wissenschaften auf Ärztinnen und Ärzte beschränkt? Gibt es auch andere Berufsgruppen, die sich auf Neurologie spezialisieren?

Die DGN hat seit Jahrzehnten engen Kontakt mit der Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP), die die DGN in einer gemeinsamen Kommission unterstützt hat, die Zertifizierung Klinischer Neuropsychologen aufzubauen, und deren von der GNP federführend erarbeiteten Leitlinien die DGN bei der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF) einreicht.

Die DGN hat über viele Jahre Gemeinsame Kommissionen mit den Verbänden der LogpädInnen und PhysiotherapeutInnen unterhalten, die in diesem Jahr von einer DGN-Kommission für interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Neurologie abgelöst wurden. „Interdisziplinäre Zusammenarbeit“ signalisiert Augenhöhe. In der Kommission kooperieren wir mit der Pflegewissenschaft, für die gerade die Pflege in der Neurologie ein wichtiger Forschungsgegenstand ist, und den Therapiewissenschaften, die ebenfalls von neurologischen Fragestellungen dominiert werden. Sowohl Pflege- als auch Therapiewissenschaften haben in den letzten beiden Jahrzehnten einen erheblichen Aufschwung erlebt.

„Wir sind Neurologie!“ bezieht bei näherer Betrachtung die in der Neurologie tätigen Pflegenden und Therapeuten mit ein. Die Deutsche Gesellschaft für Neurotraumatologie und Klinische Neurorehabilitation (DGNKN) steht schon seit vielen Jahren Nichtärzten als ordentlichen Mitgliedern offen. Die ANIM, jetzt Deutsche Gesellschaft für Neurointensivmedizin, legt seit ebenfalls vielen Jahren einen Schwerpunkt auf die Neurointensivpflege und bietet Nichtärzten die außerordentliche Mitgliedschaft an. Auf den Arbeitstagen Neurointensivmedizin werden regelmäßig Themen aus Pflege und Therapie diskutiert. Zumindest in der Neurointensivmedizin und der Neurorehabilitation bezieht das „Wir“ Pflegende und TherapeutInnen ein.

Diesen Weg beschreitet jetzt auch die Dachgesellschaft der Deutschen Neurologie. Seit der Neurowoche 2018 umfassen die DGN-Kongresse Symposien für Pflegekräfte. Auf der Mitgliederversammlung des DGN-Kongresses in Stuttgart soll ein Mitgliedsbeitrag für außerordentliche Mitglieder aus Pflege und Therapie festgelegt werden. Es ist in Diskussion, ob die Mitgliederzeitschrift der DGN auch Foren für Pflege und Therapie in der Neurologie etablieren soll.

Viele Spezialisierungen in der Pflege (MS Nurse, Parkinson Nurse, Stroke Nurse, Curriculum aktivierend-therapeutische Pflege in der Frührehabilitation) beziehen sich auf neurologische Krankheitsbilder, in Mecklenburg-Vorpommern hat die „Fachpflegerin oder Fachpfleger für Schlaganfallpatienten“ sogar Eingang in die Weiterbildungs- und Prüfungsverordnung für Pflegefachkräfte gefunden. In den Therapieberufen gibt es eine Vielzahl von Studiengängen mit Neurobezug. Pflege- und Therapiewissenschaften haben in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich an Qualität und Quantität gewonnen, gerade auch mit Fragestellungen aus dem Gebiet der Neurologie.

Der Wissenschaftsrat [1] sieht einen Bedarf von 10–20 % akademisch qualifizierten Pflegenden und Therapeuten. Die Verbände der Medizinalfachberufe fordern eine vollständige Akademisierung der Therapieberufe, wie sie die Schweiz eingeführt hat, mit einer Übergangsfrist von 10-15 Jahren und der Möglichkeit der Nachqualifizierung für Fachschulabsolventen. Die Vollakademisierung wird kritisch diskutiert [2]. Akademisch ausgebildete Pflegende und Therapeuten, vor allem solche mit Masterabschluss, werden in Zukunft wichtige Partner für Ärzte, insbesondere in der Neurologie, sein. Ihre berufliche Kompetenz prädestiniert sie für Leitungsfunktionen und ermöglicht so einen Qualifikationsmix in Pflege [3] und Therapieabteilungen. Es ist absehbar, dass sich in neurologischen Kliniken und Versorgungszentren interdisziplinäre Führungs- und Versorgungsstrukturen aus Medizin, Pflege und Therapie entwickeln.

Für Neurologinnen und Neurologen liegt es auf der Hand, dass Neurologie etwas Besonderes ist. Ich glaube, dass viele Pflegende und Therapeuten im stationären, rehabilitativen und ambulanten Sektor sich in ähnlicher Weise mit der Neurologie identifizieren. Wir werden daher „unsere“ Neurologie mit den anderen am Patienten tätigen Berufsgruppen teilen müssen. „Wir sind Neurologie“ gilt für alle in unserem Fach Tätigen.

 
  • Literatur

  • 1 Wissenschaftsrat. Empfehlungen zur hochschulischen Qualifikation im Gesundheitswesen. Drs. 2411-12. Berlin: Wissenschaftsrat; 2012
  • 2 Schämann A. Die akademische Entwicklung der Physiotherapie in der Schweiz – aktuelle Situation und zukünftiger Handlungsbedarf. Neurol Rehabil 2019; 25: 101-112
  • 3 Robert-Bosch-Stiftung. 360° – Qualifikationsmix in der Pflege. Stuttgart: Robert-Bosch-Stiftung; 2018