Nervenheilkunde 2019; 38(09): 618-624
DOI: 10.1055/a-0962-1001
Schwerpunkt
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Genetische Grundlagen der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

Genetic basis of attention deficit/hyperactivity disorder
Oliver Grimm
1   Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum, Goethe-Universität Frankfurt
,
Thorsten M. Kranz
1   Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum, Goethe-Universität Frankfurt
,
Andreas Reif
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. September 2019 (online)

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ZUSAMMENFASSUNG

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zeigt eine hohe Erblichkeit in formalgenetischen Studien. Auch im Vergleich zu anderen psychiatrischen Erkrankungen ist die Heritabilität mit fast 80 % sehr hoch. Die Symptomatik der ADHS scheint jedoch graduell in der Normalbevölkerung vorzukommen. Neuere Arbeiten schätzen den Anteil der auf Einzelnukleotidvarianten beruhenden Heritabilität auf 22 %. Welcher Bereich der molekularen Genetik diese Differenz erklärt, ist unklar. In dem vorgelegten Übersichtsartikel geben wir einen Überblick über die Analyse häufiger und seltener Varianten. Während häufige Varianten in ersten Megaanalysen mit vielen tausend Patienten erste genomweite Ergebnisse bringen, die jedoch nur wenig Varianz erklären, zeigen sich die methodisch immer noch schwierigeren Analysen von seltenen Varianten erst in ihren Anfängen. Sie erklären in einigen wenigen individuellen Fällen jedoch eine beträchtliche Varianz. Hierzu werden Beispiele gegeben und diskutiert. Für die Praxis ist die kritische Kenntnis der Genetik der ADHS weder für Therapie noch Diagnostik zwingend. Möglicherweise werden in Zukunft auch seltene Varianten häufiger diagnostiziert werden. Um eine kompetente Beratung zu gewährleisten, ist die Kenntnis des aktuellen Forschungsstandes jedoch auch für den Praktiker von Belang.

ABSTRACT

Attention Deficit/Hyperactivity Disorder (ADHD) shows high heritability in formal genetic studies. Heritability is also very high compared to other psychiatric diseases, with almost 80 %. The symptoms of ADHD, however, seem to occur gradually in the normal population. Recent studies estimate the proportion of heritability based on single nucleotide variants at about 22 %. It is still unclear how this discrepancy can be explained. In this review, we give an overview of recent studies of frequent as well as rare DNA variants. While frequent variants provided first genome-wide results in recent mega-analyses with many thousands patients only little variance is explained so far. The analysis of rare variants is methodically still difficult. However, in a few individual cases they can explain considerable variance. Some recent studies as case examples are discussed. In clinical practice, a critical knowledge of ADHD genetics is not yet mandatory for therapy or diagnosis. However, it is possible that rare variants will also be diagnosed more frequently in the future. In order to ensure competent advice, knowledge of the current state of research is also important for practitioners.